aussteigen

berns schülerInnen, die gestern lautstark durch die stadt zogen, nahmen die historische entscheidung des tages vorweg. denn heute hat der bundesrat beschlossen, dass sie schweiz aus der kernenergie auszusteigen soll.

HBWh4WVs_Pxgen_r_900x592drei szenarien hatte die bundesregierung heute vor augen: weiterfahren wie bisher, moratorium für den bau neuer kernkraftwerke und ausstieg aus der kernenergie. sie entschied sich nach einer vierstündigen diskussion für letzteres. aussteigen heisst für den bundesrat aber nicht abschalten. das wurde in den letzten wochen klar. keine ernsthafte partei forderte das auch heute. es heisst aber, dass in der schweiz kein neues kernkraftwerk mehr gebaut wird. die bestehenden bleiben am netz solange ihr betrieb sicher ist, dann werden beznau, mühleberg, gösgen und leibstadt schrittweise abegschaltet und die stromversorgung aus der kernenergie läuft aus.

nach fukushima fühlten sich die umweltorganisationen, unterstützt von den rotgrünen parteien mit ihrer akw-kritik bestätigt. sie mobilisierten die anti-akw-bewegung neu und drängten auf den ausstieg, je schneller, desto besser. massgeblich war aber der schwenker der bdp, denn erst das hatte die bürgerliche mitte unter druck gesetzt und die mehrheitsverhältnisse aufgeweicht. bei der cvp scheint das eine wirkung im gewünschten sinne gezeigt haben, bei der fdp nicht.

die wirtschaft, vertreten durch economiesuisse, wollte sich die zukunft nicht verbauen, wie sie es sagte und optierte für eine fortsetzung der kernenergie, wohlwissend dass auch zentrale akteure in der energiebranche der meinung sind, ein neues kernkraftwerk könne nach dem unfall in japan nicht mehr gebaut werden. denn dafür wird ein volksabstimmung nötig sein, bei der man ohne klar veränderte rahmenbedingungen kein ja zur kernkraft erwarten könne.

wer heute wie gestimmt hat, weiss man nicht wirklich. am wochenende noch wurde in der presse heftig darüber spekuliert. calmy-rey, sommaruga und widmer-schlumpf galten als befürworterInnen des ausstiegs, maurer, burkhalter und schneider-ammann als gegner. unbekannt war die position der volkswirtschaftsministerin leuthard. ihr wechsel ins uvek im letzten herbst wurde immer wieder damit begründet, sie müsse der schweiz die atomzukunft sichern. umgekehrt war nach fukushima klar geworden, dass sie es war, welche das laufende verfahren für die neuen rahmenbewilligungen sistierte. so wie die cvp den entscheid kommentiert, hat die energieministerin heute für die energiewende votiert, was heissen würde, die vier frauen im bundesrat war fürs aussteigen, die drei männer dagegen.

so wie ich die schweizerInnen einschätze, wird die versorgungssicherheit ein wichtiges thema bleiben: stromausfällen und und energierationierung steht sie negativ gegenüber. doch heute ist die sicherheitsfrage nicht mehr alleine eine der kraftwerksbetreiber. denn ihre vision der technologie ist mit jedem unfall verblasst. die bevölkerung selber blieb stets zurückhaltend.für das nachdenken über alternativen fanden sich mehrheiten, für den ausstieg nie. ungelöst blieb (und bleibt) die endlagerfrage. vor die wahl gestellt, freiwillig auf ein akw in mühlberg verzichten, sagte vor wenigen wochen noch eine knappe mehrheit der bernerInnen nein. nach fukushima lehnte aber kantone wie die waadt ein tiefenlager für radioaktive abfälle deutlicher noch ab. andere, wie der kanton jura, sistierten entsprechende abstimmungen, wissend, was dabei herausgekommen wäre.

den trend in der ausstiegsdebatte setzten die grossen städte. eine um die andere beschloss in regierung, parlament und mit volksmehr den ausstieg aus der kernenergie auf zeit, ähnlich wie es der bundesrat jetzt tut. der ist klarer in der frage der investitionen. die energieeffizienz muss gesteigert werden, und das geld für neubauten soll in erneuerbare energieträger geleitet werden.

die schülerInnen, die gestern mit ihrem streik und mit ihrem protest die stadt aufrüttelten, wussten das. ob sie auch wussten, dass die schweiz, vertreten durch ihre regierung, heute einen ausstiegsentscheid fällen würde, kann bezweifelt werden. wohl hofften sie es, und wohl dachten sie auch, dass es wieder nicht reichen würde.

nun soll alles anders kommen. der bundesrat wird gefordert sein, seinen entscheid sauber zu begründen und ihm taten folgen zu lassen. das parlament wird noch in seiner alten zusammensetzung im juni 2011 darüber beraten, und da wird sich zeigen, wie stabil die politischen verhältnisse in dieser frage sind. nicht zuletzt ist jetzt damit zu rechnen, dass auch die wahlen vom herbst zum gradmesser werden, wie sich die schweiz ihre zukunft vorstellt – jetzt ohne atomenergie.

stadtwanderer

der härteste wahlkampf

grossbritannien will nichts von einer wahlreform wissen. die konservativen haben dem majorz die stange gehalten. in der schweiz ist alles anders, seit der kanton tessin zum 1890/1 zum proporz gewechselt hat, um den politischen konflikt zu entschärfen. ein rückblick aus aktuellem anlass.

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arnold künzli, aargauer unternehmer, politiker, oberstkorpskommandant, und “vater” des proporzwahlrechts im kanton tessin

der tessiner putsch von 1890

bei den tessiner wahlen von 1890 krachte es gewaltig. die konservativen machten 51 prozent der stimmen, bekamen aber zwei drittel der sitze. unüblich war das damals nicht, denn man bestellte die parlamente, ganz gemäss angelsächsischem vorbild, nach dem majorzverfahren. doch die wahlen von 1890 befriedeten den konflikt zwischen konservativen und liberalen nicht. sie beförderten ihn förmlich.

angefangen hatte alles mit der klosteraufhebung durch den freisinn in den 1850er jahren. 1875 schlug das pendel zurück. die siegreichen konservativen bevölkerten die klöster wieder, räumten dafür bei der freisinnigen lehrer- und beamtenschaft auf. die angespannte lage eskalierte nach den grossratswahlen 1889. die konservativen siegten hauchdünn, mit 51,5 prozent, stellten aber mehr als zwei drittel der grossräte. als sich die konservative regierung weigerte, eine wahlrechtsreform durchzuführen, kam es zum eklat. der 11. september 1890 gilt das stichtag des tessiner putsches. die freisinnigen scharfmacher erschossen einen konservativen regierungsrat.

die eidgenossenschaft intervenierte im arg zerstrittenen kanton. 1400 mann eidgenössischen truppen wurden entsandt. an ihrer spitze stand oberst arnold künzli. der unternehmer und politiker aus dem aargauischen riken bei murgenthal konnte auf eine bemerkenswerte karriere zurückblicken: gemeindeammann war er gewesen, er hatte im aargauischen gross- und regierungsrat gewirkt, bevor er nationalrat wurde. 1879 präsidierte er diesen, um danach in verschiedenen mission im namen der eidgenossenschaft zu wirken.

künzlis engagement im tessin war zwischen autoritativer macht, politischem gespür und knallharten verhandlungen angesiedelt. als erstes musste er die revolution stoppen und die gewählten, aber gestürzten behörden wieder einsetzen. dafür galt es, eine zustimmung zur wahlrechtsreform durchzusetzen.

mit dem damals neuen proporzwahlrecht für behörden sollte die verfeindeten lager gezwungen werden, aus der position der minderheit miteinander zusammen zuarbeiten. machtteilung war das rezept der inneren befriedung. 1919 wurde es erstmals auch landesweit eingesetzt, um die sozialen spannungen zu mindern. das war das ende der bipolarität zwischen freisinn und katholisch-konservativen, denn es entstanden mit der sp und der bgb zwei neue flügelparteien, welche in die regierungen auf bundes- und kantonsebene drängten.

die oberst künzli gesellschaft
1994 gründeten einige murgenthaler unternehmer die oberst-künzli-gesellschaft. in der stattlichen villa des politikers aus dem 19. jahrhundert versammelt man sich regelmässig, um kulturelle, wirtschaftliche und politische anlässe zu feiern. referenten der letzten jahre waren franz blankart, benedikt weibel und peter spuhler. gestern war der stadtwanderer an der reihe!

zufall oder absicht? man hatte mich gebeten, über das wahljahr 2011 zu sprechen. ein bisschen aus dem nähkästchen des wahlforschers habe ich gesprochen. zuerst anhand des aktuellen wahlbarometers. dann als politikwissenschafter, der trends in gesellschaft, medien und politik analysiert. zum schluss wagte ich auch eine kleine einordnung der anstehenden wahl in den zeitgenössischen kontext.

die politische polarisierung der gegenwart

natürlich ging es um die aktuelle polarisierung. wird 2011 ein neuer rekord in der parteipolitischen polarisierung bringen, der der traditionellen mitte das genick bricht? oder kommt es zu einer mässigung durch neuen brückenbauer wie die glp oder bdp? genau weiss man das heute noch nicht, man kann aber das plus und minus der polarisierung bilanzieren. zu ersterem zähle ich die enttabuisierung verdrängter themen in der konkordanz, die klarere frontstellungen zwischen nationalkonservativer und linksliberalen grundhaltung, und die wieder anziehenden beteiligung der bürgerInnen an der nationalen politik. doch mag ich nicht verschweigen, dass das ganze auch nachteile hat. zum beispiel die ungleich stark gewordenen politischen kräfte, welche die zusammenarbeit erschweren. oder der hang zum fundamentalismus, der den pragmatismus untergräbt. und die focussierung auf personen, entweder hübsch aussehen und medial vergöttert werden, oder zielscheibe übler attacken durch politische gegner werden.

damit waren wir bei einem anliegen der oberst künzli gesellschaft. auf den ersten blick hätte man meinen können, das sei eine der typischen vereine von eidgenossen mit schnauz. daran sind auch zwei sachen richtig. die 40 mitglieder sind alles männer. und einige haben auch bemerkenswerte barthaare. doch dann entpuppte sich die gesellschaft als versammlung interessierter und aktiver staatsbürger, die viele fragen jenseits der parteipolitik stellten.

wie die kleine kontroverse beim anschliessenden nachtessen zwischen kernenergiebefürwortern und photovolatik-distributeuren zeigte, muss man überhaupt nicht immer ein meinung sein. auf tote im eigentlichen und übertragenen sinne sollte man aber generell verzeichten – ganz nach dem vorbild der starken persönlichkeit aus riken bei murgental, wie man wieder aufleben lässt.

ein erfreulicher abend. ganz im sinne des stadtwanderers, den es auf das land verschlagen hatte. und besten dank für die biografie von klaus plaar zu arnold künzli, die ich auf dem heimweg gleich ganz verschlang.

stadtwanderer

lachen, selbst lächeln tut der schweizer politik gut.

das lachen ist uns in der schweizer politik der gegenwart abhanden gekommen, sodass infotainment nachgefragt wird. das ist nicht der fall, wenn christoph blocher und peter bodenmann miteinander debattieren, wie heute im berner kursaal. selbst wenn es dabei um das verhältnis der schweiz zur europäischen union geht, denn es paart sich substanz – mit lachen und lächeln.

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quelle: bernerzeitung

den grössten lacher aus dem publikum hatte christoph blocher für sich, als er die vorabend-veranstaltung der berner e.forums so zusammenfasste: er selber und sein kontrahent hätten in der eu-beitrittsfrage immer die gleichen positionen vertreten – er immer die richtige, bodenmann immer die falsche. das wiederum kostete peter bodenmann nur ein kühles lächeln. seine analyse ist, dass die schweizer politik in der regel strukturkonservativ agiere und dann die rechte gewinne, während unser land in entscheidenden phasen ausgesprochen schnell und zeitgemäss reagiere, meist so, wie es die linke es wolle. stichworte dazu fallen einem sofort ein: die zum bankgeheimnis fallen einem spontan ein.

christoph blocher sprach heute abend von der souveränen schweiz – bodenmann von der vernünftigen. die thesen, die beide hierzu vertraten, wurden klar herausgearbeitet. das freute die zuschauer, die mit applausstärken schiedsrichter spielten. der herrliberger chemieindustrielle stellte die unabhängigkeit des landes in den vordergrund, das hauptthema der 700jährigen schweizer geschichte. die werde heute aber von professoren und politikern aus eigeninteresse verraten. aus dem ewr-nein habe man die bilateralen abkommen formuliert, die er akzeptiert habe. doch anders als die eu-beitrittsbefürworter habe er aus den bilateralen 1 keine bilateralen 2 und schon gar nicht bilaterale 3 machen wollen wie der bundesrat. bei gemeinsamen interessen sektoriell verhandeln, sei in ordnung. kolonialverträge mit institutionelle einbindungen, wie sie die eu aktuell verlange, seien eines souveränen staates jedoch unwürdig.

das mochte peter bodenmann in seinem exposé so nicht stehen lassen. seit dem nein zum ewr überhole die eu die schweiz sogar dort, wo sie stärken gehabt habe – zum beispiel beim ökologischen umbau der wirtschaft, wo selbst ein land wie italien bei der förderung erneuerbarer energien weiter sei. profitiert habe die schweiz dafür, wo sie kooperiert habe, wie der personenfreizügigkeit, die zu guten wachstumsraten der wirtschaft, nicht aber zu hohen arbeitslosenzahlen geführt habe. schliesslich sei die zulassung der 40-tonnen-lastwagen für die schweiz ein gewinn gewesen, weil man durch mehrwertabschöpfung gegenüber 28-tönnern die neat finanzieren konnte. weitere fortschritte verspricht sich der briger hotelier von der energiemitgliedschaft in der eu, der öffnung der landwirtschaft und dem integration des bildungswesens ins europäische system.

radio-moderatorin geraldine eicher, die durch den vorabend führte, versuchte die debatte auf die aktualität zu lenken. zu gerne hätte sie über die hintergründe der meinungsdifferenz zwischen der schweiz und der eu bei den anstehenden verhandlungen gesprochen. doch die beiden alphatiere liessen sich nicht so einfach bändigen, selbst wenn sie in weichen sesseln platziert waren. blocher polterte kräftig, vor allem gegen das dubliner-abkommen, das nicht funktioniere, wie die flüchtlingsbewegungen aus nordafrika zeigten. die staaten an der eu-aussengrenze hätten gar kein interesse, ankommende zu identifizieren, profitierten jedoch, wenn sie sie so schnell wie möglich in andere länder abschieben würden. das stimmte sogar bodenmann zu. sein thema war jedoch der plan b. er forderte zwei arbeitsgruppen des bundesrates mit den fähigsten leuten aus dem land. die eine solle die vor- und nachteile des abseitsstehen in europa analysieren, die andere des eu beitritts. so würde man erfahren, was der beitritt koste, aber auch, was der preis für den nicht-beitritt sei. das würde die diskussion versachlichen, statt emotionalisieren.

die paarung des abends war nicht nur der traum der tv-arena-redaktion in den 90er jahren, weil sie ihr rekordwerte bei der zuschauerquote verschaffte. sie überwältigte auch die organisatoren des business-anlasses, der diesmal gegen 1500 gäste mobilisierte und damit die vielleicht bestbesuchteste veranstaltung des wahljahres 2011 auf berner boden bleiben wird. mehr noch, das duo bodenmann/blocher symbolisiert auch ein stück zeitgeschichte: das aufbrechen der europa-frage nach dem kalten krieg, der so ausgelöste umbruch in der parteienlandschaft mit der polarisierung zwischen rechts und links und die veränderung der politischen kultur von der konsenssuche zur sichtbarmachung des dissens’. wenn dabei der chef der politischen rheotorik auf das vorbild an intellektueller analyse trifft, wird das zum besten, was dialektik in der schweizer politik zu bieten hat – selbst wenn alles durch einen kräftigen schuss nostalgie überlagert wird.

es bleibt die frage, wer recht hat? blocher gab die diskussionsthemen vor, bodenmann parierte sie. der züricher hatte auch an diesem abend den nationalkonservativen protest hinter sich, der vor 20 jahren durch die ewr-abstimmung entfacht wurde und seither viele anhänger in gesellschaft und wirtschaft gefunden hat. der walliser konnte auf seine fahne schreiben, in der sache die relevanten weichenstellungen für mehrheiten bei den bilaterale, auf dem arbeitsmarkt und in der verkehrsfrage mitgestellt zu haben. blocher zeigte sich sicher, dass die wende zu seinen gunsten mit der ausschaffungsinitiative gekommen sei, denn jetzt habe man begriffen, dass die kriminalität die folge der eu-annäherung sei – und lachte in bekannter manier breit und laut. bodenmann wähnt sich in sicherheit, dass die schweiz ihre interessen kenne und klug verhandele, sodass das volk auch inskünftig vernünftigen lösungen hierfür zustimmen werde – und lächelte etwas verschmitzt, aber gut sichtbar.

das puiblikum applaudierte am schluss kräftig und lang, mit der rechten wie der linken hand. die apérogesichter wirkten erstaunlich freundlich.

stadtwanderer

schweizerIn des jahres wird …

morgen kürt die srg einmal mehr den oder die schweizerIn des jahres. insgesamt und in den sparten: politik, wirtschaft, gesellschaft, kultur und show. beim sport stehen die ausgezeichneten schon fest. hier meine diesjährigen favoriten.

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viel wurde jüngst diskutiert, wie das auswahlverfahren beim siwss award zustande kommt. auch mir als beteiligter war es nicht immer klar.

jetzt lässt man grosse transparenz walten. eine nominationsjury, welche die trägerinnen der veranstaltung repräsentiert, schlägt im herbst des jahres rund 30 personen vor, die sich in ihrem bereich besonders hervor getan haben. eine davon unabhängige academy bewertet die vorschläge und verteilt so die awards in den kategorien. bekannt gemacht werden die plätze 1-3 je kategorie. sie, und die drei besten beim sport, nehmen an der wahl des oder der schweizerin des jahres teil. doch entscheidet hier kein fachgremium, sondern das tv-publikum.

selber bin ich teil der academy, also jenes gremiums, dass die spezialpreise verteilt. rund 100 weitere personen aus der ganzen schweiz zählen hierzu. erstmals weiss ich, wer sie sind.

um die transparenz zu erhöhen, lege ich hier meine favoriten unter den nominierten offen; es sind dies:

kategorie “politik”: pascale bruderer, nationalratspräsidentin
kategorie “wirtschaft”: hans-ueli müller, investor (namentlich im kanton bern!)
kategorie “gesellschaft: fabiola gianotti, teilchenphysikerin am cern
kategorie “kultur”: melinda nadj abonji, schriftstellerin
kategorie “show”: bligg, musiker

beim sport konnte ich nicht mitentscheiden – und habe ich auch keine favoriten. denn davon verstehe ich definitiv zu wenig. was nicht heisst, dass die von mir bevorzugten echten chancen haben, zu obsiegen …

stadtwanderer

silvester in st. silvester

kirchen, die auf den namen des heiligen silvester lauten, gibt es viele. politische gemeinden, die auf diese weise dem papst aus dem 4. jahrhundert gedenken, sind dagegen eine grosse ausnahme. einzigartig sind auf alle fälle die feierlichkeiten am letzten tag des jahres im freiburgischen st. silvester.

Tagesschau vom 31.12.2010
geschichte und gegenwart vereint: silvester wegen dem heiligen silvester in st. silvester feiern.

der wecker ging um viertel vor vier. ein freundlicher chauffeur holte kurz darauf bärbi und mich ab und brachte uns nach st. silvester im freiburgischen sensebezirk. im hell erleuchteten gotteshaus auf dem kirchberg spielte die musikgesellschaft schon vor 5 uhr zum frühkonzert auf. dann feierte ein gut gelaunter pfarrer das hochamt zum jahresausklang vor vollem haus.

so richtig los ging es aber erst danach. alt und jung versammeln sich traditionellerweise im nahe gelegenen restaurant försterhaus. rösti, bratwurst und spiegeleier werden in rauhen mengen gereicht, für feine gemüter gbit’s dazu wasser, für harte rotwein. eine handörgeligruppe spielt auf, und im nu kommt das volksfest zu ehren des patrons der kirche und der gemeinde mit volk und honoratioren auf.

die zusammenhänge zu silvester werden einem dabei so klar wie sonst nirgends. der letzte tag im christlichen kalender hat seinen namen vom römischen papst silvester, der am 31. dezember 335 verstarb. heilig gesprochen wurde er, weil er, nach dem wegzug des kaisers aus rom nach konstantinopel, auf listige art und weise den kirchenstaat in italien gründet hatte.

gestorben sind vielerorts und an vielen tagen auch tiere, zu dessen schutzheiliger silvester bald wurde. als im 17. jahrhundert die maul- und klauenseuche auch unter den tieren wütete, die bei der kapelle von st. silvester im sensegebiet weideten, versprach das burgerspital im entfernten freiburg den hirten köstliche gaben, sollte die krankheit überwunden werden.

in st. silvester ist man überzeugt: dank silvester gelang die rettung der tiere vor ort. und deshalb feiert man den heiligen silvester nirgends so innig wie im hinteren sensebezirk. auch heute brachte der präsident des burgrspitals 30 kilo käse und einen riesigen schinken nach santifaschtus, wie st. silvester im idiom heisst. geweiht wurden sie während der morgenmesse. das ist der sakrale part des festes, der populäre findet beim essen und trinken danach statt.

nicolas bürgisser, der oberamtmann des sensebezirks, mag nicht mehr wie viele seiner vorfahren-untertanen arbeiten und schweigen. seine gabe ist es, zu arbeiten und darüber zu reden. so vermarktet er quasi im nebenamt seine gegend. nur zugerne hätte er gehabt, der grosse weihnachtsbaum vor dem bundeshaus, wäre aus st. silverster (eigentlich: heiliger waldmann) gekommen. der geht die grenze anders als gedacht, und so stammt er aus plasselb.

erfolgreicher war der geschickte bürgisser bei mir. vor zwei jahren lud er mich nach einer “arena”-sendung zur örtlichen silvester-feier ein. diesmal sollte es klappen. und so mailte er vorgestern frohlockend: ausser der papst heirate heute, sei man ganz “in”, denn über das fest in st. silverster werde auch im radio und fernsehen berichtet werden.

doch das war nicht der grund meines besuches bei den einheimischen hart an der diesseitigen sprachgrenze. denn ebenso hart an der jenseitigen lebten einst meine grosseltern, auch meine eltern in der nachbargemeinde von st. silvester. und auch ich verbrachte in der gegend schon mal kinderferien. so kam ich auch ein wenig in eine welt, aus der ich eigentlich stamme. ein tolles erlebnis!

stadtwanderer

die schweizer medien – les médias suisses

ein thema – zwei bücher, eine recherche – zwei perspektive, eine buchvernissage – zwei preise!

0-3413478richard aschinger spricht leise. die worte kleben ein wenig an seinen lippen. seine augen sind fest auf das manuskript gerichtet, das er in seiner recht hand hält. mit der linken gibt er, wenn es ihm wichtig wird, den takt vor. verhaltener protest eben. dann erhebt sich sein blick ein wenig über den brillenrand hinaus, sucht das publikum, um es etwas verdeutlicht anzusprechen. wenn er dabei seinen kopf leicht bewegt, fallen die ungekämten haare etwas weniger auf.
viele jahre hat der gestandene und gealterte journalist über und für die schweiz berichtet. aus new york, aus zürich und aus bern. internationales, nationales und lokales hat ihn stets interessiert. für letzteres ist der redaktor des “tagi” und des “bund” sogar mit einem preis ausgezeichnet worden. seither wirkt er als freier autor – vor allem über die entwicklungen der medienlandschaft schweiz. das ist nicht nur selbstbeschäftigung, das ist auch eine grundfrage zur zeit.
das buch, das aschinger verfasst hat, heisst “Die News-Fabrikanten. Schweizer Medien zwischen Tamedia und Tettamanti”. vielleicht ist das dem verlag schon etwas peinlich, weil diese news nur wenige tage nach dem druck schon etwas antiquiert wirkt. deshalb listet der europa-verlag das buch unter “Schweizer Medienmachen. Schleckzeug statt Information”. so wird wohl die zweite auflage heissen, um etwas zeitloser gültig zu sein.

eclectica_infopop_couv250dieser titel ist auch deutlich näher an der französischen version. geschrieben hat sie christian campiche. benannt wird sie “Info-Popcorn. Enquêtes au coeur des médias suisse”. das trifft das projekt genauer, denn entstanden ist, nach vielen jahren der absenz, wieder einmal eine kritische gesamtschau zum stand der schweizer medien.
campiches auftritt bei der vernissage ist eleganter als der von aschinger. das beginnt schon beim grau melierten haar, das der riese fast zwei meter über dem boden trägt. seine worte ans berner publikum sind auch gewählter, aber nicht minder deutlich. dafür hat auch welsche journalist ein manuskript mitgebracht, und er hält es fest in beiden händen, genauso wie er seinen gegenstand zupackend vor augen hatte.

recherchiert haben die beiden medienkollegen gemeinsam. ihr thema: der zerfall der medien angesichts der konkurrenz auf dem werbe- und medienmarkt, die neuorganisation der presse in form von konzernen und die fragile rolle der öffentlichen meinung in der mehrsprachigen demokratie der schweiz. wahrlich, zwei bücher zur zeit, und vorteilhaft, dass wieder einmal ein thema nicht nur aus zürcher oder genfer optik behandelt wird und das verfasste das als schweizerisch gilt, sondern ein bilingues projekt realisiert wurde.

getextet haben die beiden aber unabhängig von einander, nur gegengelesen haben sie die manuskripte, die es seit dieser woche zu kaufen gibt. ich bitte nach der buchpremiere beide um ein autogramm. je eines, dass die medien auf der anderen seite des röschtigrabens beschreibt. richard aschinger ist ganz verlegen, braucht ein weile, bis er die situation rafft, um dann in berndeutschem französisch sich über die liebe zwischen den landesteilen auszulassen, die blüht, weil man sich nicht immer mit der nötigen deutlichkeit verstehe. christian campiche kommt ohne verzug zur sache. deutsch meidet er aber, dafür schreibt er in sauberem französisch, tamedia (und tettamanti) seien alleweil besser als hersant aus frankreich.

was in ihren büchern steht, weiss ich noch nicht. die buchankündigungen und die ersten buchbesprechungen versprechen viel. zum beispiel eine analyse zur lage der nation. denn ohne medien gäbe es keine gesellschaft mehr. und genau diese medien unterlägen einem rassanten wandel. das alles nehme ich mal zur kenntnis, mit vorsicht jedoch, denn schon im klappentext lese ich, wie die pr in den journalismus vordringt, wie die der markt alles verändert, was um wichtig ist. das ist wohl auch im buchmarkt so.

a propos buchmarkt: 38 francs bezahlt man für die version von campiche, 26 franken für die von aschinger. nur während der buchvernissage in der münstergasse-buchhandlung waren beide noch gratis …

stadtwanderer

die stadt neu denken

es war eine gediegene atmosphäre. im hotel bellevue tafelten, wie jeden dienstag, die berner rotarier. dazu erhalten sie einen vortrag. gestern nun war ich an der reihe. um über die stadt in geschichte, gegenwart und zukunft nachzudenken.

tschaeppaet_berngelingt bern der sprung aus der tiefe nach ganz oben, wie es die hauptstadtregion beabsichtigt?

peter ziegler, präsident der vereinigung, selber politikwissenschafter und ex-chefredaktor des “bund”, hatte mich als stadtwanderer eingeladen, beflügelt von den sensibilitäten für das urbane, etwas über die lage in bern zu berichten. die jüngste entscheidung, die haupstadtregion schweiz zu gründen, bildete einen unerhofft eindrücklichen rahmen.

meine these zum gestrigen vortrag lautete: in der schweiz dominiert das selbstverständnis als ländliche kultur. die gemeinde ist die kleinste zelle der politischen gemeinschaft. letztlich würde sie sich gerne autonom verwalten. doch sie hört zum ämtern, kantonen, zum bund, und sie teilt sich ihre aufgaben mit den verschiedenen staatlichen ebenen. ihre überragende bedeutung erhielt die gemeinde in den 1830er jahren. die herrschaftlichen verhältnisse des ancien régimes wurden durch das aufbegehrende volk gründlich zerschlagen. das zentralistische modell, das die franzosen während der helvetischen republik einführen wollten, wurde abgelehnt, denn das dezentrale galt sichere bremse gegen die ansprüche der partrizier, zünfte und städtbürger, die sich immer als etwas besseres sahen.

damit geriet auch die schweizer stadt, politik-, verwaltungs- und wirtschaftszentrum in einem gewesen war, in die krise. ihre zukunft lag nicht mehr in der politisch abgesicherten sozialen herrschaft, denn mit der trennung von stadt und kanton und der gleichsetzung von stadt und gemeinde verlor sie ihre herausragende stellung. für die wirtschaftliche entwicklung in die breite, auch für die demokratisierung der politik war das unerlässlich – und anfänglich auch verkraftbar, lebten doch in der agrargesellschaft nur 10 prozent der menschen in der schweiz in einer stadt.

doch heute ist das alles ganz anders. mehr als vier fünftel der ökonomischen wertschöpfung werden in den urbanen gebieten erbracht. mehr als zwei drittel der einwohnerInnen leben in einer stadt oder in einer agglomerationsgemeinde rund herum. die industrialisierung hat die städte vergrössert, verstärkt, aber auch verändert. um den mittelalterlichen kern vieler städte sind neue quartiere entstanden, bisweilen sozial gehoben, bisweilen sozial bescheiden. die verlagerung der ökonomischen aktivitäten vom zweiten in den dritten sektor hat die gerade in den städte die neuen dienstleistungen im gesundheitswesen, in bildungsstätten, im handel, in banken, in versicherungen rasch anschwellen lassen. das leben auf dem grünen wurde lebensinhalt der städterInnen und hat das urbane von den zentren hinaus in die peripherien getragen. aktuelle schlägt das pendel wiederum. nicht zuletzt mit der neuen migration ist die kernstadt wieder attraktiver, wirtschaftlich, sozial und kulturell, und sie boomt, mit allen vor- und nachteilen.

mit dieser rasanten entwicklung von der stadt des 18. zu jener des 21. jahrhunderts hat die politische entwicklung nicht mitgehalten. sie ist im wesentlichen im volksdenken des 19. jahrhunderts stehen geblieben, verbunden mit einigen, eher technokratisch ausgerichteten neuerungen, die in der nachkriegszeit schrittweise eingeführt worden sind. die probleme hat das nicht wirklich behoben: so fallen die steuern dort an, wo man wohnt, nicht aber wo man arbeitet oder die freizeit verbringt. mit querfinanzierungen versucht man das gröbste zu vermeinden. doch kann das nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in vielem über quartierfragen entscheiden, nicht über kernfragen.

den versuch, das alles wieder ins lot zu bringen, erleben wir gegenwärtig, insbesondere in bern. der kanton hat sich dezentralisiert, aber auf mittlerer stufe, denn er will mit regionalkonferenzen übergeordente fragen wie verkehr, soziales und kultur besser koordinieren. idealistInnen halten das für ein viel zu schwerfällige staatsreform, fordern, bern neu zu gründen, das heisst durch fusionen starke kernstädte in den wichtigen agglomerationen entstehen zu lassen. noch findigere zeitgenossen haben ermittelt, dass es dem kanton bern besser gehen würde, wenn er sich nach basler vorbild in bernstadt und bernland teilen um noch mehr subventionen zu erhalten. das alles zeugt davon, dass man nach neuen politischen strukturen sucht, die der gewandelten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen realitäten rechnung tragen. weil die jetzigen nicht mehr greifen.

eines wurde mir bei den vorbereitungen zum gestrigen vortrag klar: die urbanität der schweiz hat sich in den letzten 15 jahren stark entwickelt. die ruralität ist in die defensive geraten. gerade deshalb erhebt sie sich in den hergebrachten strukturen so kraftvoll – vor allem aber als abwehr alle dessen, was man mit stadt und abstieg auf dem land in verbindung bringt, dem der abstieg effektiv droht. das blockiert uns gegenwärtig, was der bewältigung von stadt/land-konflikten wenig dienlich ist. es blockiert aber auch die perspektivische betrachtungsweise. man denkt nicht mehr an das, wass die städte in zukunft für den staat bedeuten werden, was sie brauchen, um international zu bestehen, und innerhalb der schweiz ihrer effektiven rolle gerecht zu werden.

man denke, hörte ich nach meinem vortrag einen kommentar, stadtführungen seien fürs gemüt, dabei seien sie eine herausforderung für den intellekt.

stadtwanderer

übrigens: die informativsten politische städteporträts der schweiz findet man auf dem web unter badac.

über immer mehr immer weniger entscheiden zu können.

im kurs der gemeindepolitikerInnen zur politischen theorie blieben wir eigentlich bei der ersten frage stehen: was ist eine demokratie? dabein entwickelten wir einen gedanken, der aus der eigenen erfahrung stammt, und sehr wohl mit den vorstellungen führender politikforscher der welt standhalten konnten.

Global Networkdie erste antwort an diesem abend war noch etwas verhalten, aber typisch: wenn das volk entscheiden kann, und die politiker doch machen können, was sie wollen! danach sprudelte es antworten: wenn man wählen, ja wenn man auswählen kann. wenn man abstimmt, in der sache entscheidet. wenn alle gleichberechtigt sind. wenn ethik und moral gewährleistet sind.

ich habe versucht, die antworten auf eine grosse schiefertafel zu schreiben – vorsortiert, ohne das unterschiedungskriterium direkt zu nennen. doch waren rechts alles verfahren, die auf institutionen basieren, und links waren alle werte und soziale grundlagen, welche diese institutionen gewährleisten.

in der diskussion dieser beiden richtungen der demokratietheorie merkten wir bald. die schweiz hat ausgebautete institutionen der demokratie, ja der direkten demokratie. wenn die so festgelegten verfahren der entscheidung funktionieren, halten wir die ergebnisse für demokratisch hergestellt und damit korrekt, egal, was dabei herauskommt. das entspricht letztlich dem denken des österreichisch-amerikanischen ökonomen joseph schumpeter, der die demokratie in radikalster art und weise als rine methode definiert hat.

das gegenstück dazu ist die materielle demokratietheorie. sie ist bei uns unterentwickelt. beispielsweise wurden die grundrechte in unseren verfassungen des 19. jahrhunderts nur beschränkt aufgenommen, und sie galten anfänglich beispielsweise für die juden nicht. vor einem jahr, bei der abstimmung über die minarett-initiative, kümmerte sich die mehrheit nicht um so solche grenzziehungen demokratischer entscheidungen. auch das ist typisch schweizerisch.

die entwickler des grundrechtskataloges in der schweiz waren die gerichte, es war nicht das volk. unter ihrem einfluss sind sie in die geltenden verfassung vom 1. januar 2000 aufgenommen wurden. und exponenten unter unseren (ehemaligen) richtern gehören heute zu den wichtigsten verteidigern der grundrechte, im namen des universalismus und der demokratie.

john keane, ein australischer politikwissenschafter, äussert sich – zufällig oder nicht – zu unserer thematik vom donnerstag abend im heutigen “magazin“. auch er unterscheidet zwischen demokratie als institution, und demokratie als geist. ersteres hätten die griechen erfunden, wie ich es auch gesagt habe. letzteres, nimmt keane an, sei mit der ausbreitung des denkenden menschen entstanden.

demokratie, so ist keanes definition, ist nicht, wenn man wählen oder (wie in der schweiz) abstimmen kann, sondern wenn die macht möglichst aufgeteilt in einer gesellschaft vorkommt. die krise der repräsentativen demokratie, die er diagnostiziert, sei eine krise gegen die konzentration der macht im parlament der nationen, weil diese angesichts der rasanten entwicklungen der globalisierten wirtschaft über immer weniger immer mehr zu entscheiden versuchten, während die bürgerInnen spürten, dass die politik zu immer mehr immer weniger zu sagen hätten.

keane glaubt, dass eine neue form der demokratie aufkommt, die monitory democracy, wie er es nennt, die beobachtete und kontrollierte demokratie, in der nicht neue institutionen des staates entstehen, aber neue formen der zivilgesellschaft. deren träger sind akteure, die parlamente und die regierung kontrollieren und kritisieren, grenzüberschreitend vernetzt sind, global kommunizieren, und lokal agieren.

soweit kamen wir in unserer theoriediskussion nicht ganz. die symptome waren aber aufgezeichnet. die bürgerInnen bringen sich ein, wenn die behörden machen was ihnen passt. aber sie wollen nicht mehr in die institutionen. sie wollen, dass ihre interessen einfliessen, wo und wie auch immer.

beachtlich, würde ich sagen, für einen kurs unter bernischen gemeindepolitikerInnen, die bereit sind, sich nach einem arbeitstag politisch weiter zu bilden, und durchaus ebenso spüren, wie die essenz der politik, ja der demokratie, die an den nationalstaat geknüpft ist, ins wanken geraten ist, ohne dass sich eine eindeutige alternative hierzu abzeichnet.

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bieler bilinguisme auf dem prüfstand

es war eine tolle tagung. 180 vertreterInnen aus biel/biennes wirtschaft, gesellschaft und politik kamen zusammen, um sich über die zweisprachigkeit der stadt zu diskutieren. ich habe das einleitungsreferat gehalten. auch weil ich bilingue vortrage. vor allem aber, weil ich seit 12 jahren der zweisprachigkeit in der stadt biel/bienne beobachte.

biel

vor meinem referat nahm mich werner hadorn, bieler lokalpolitiker, zur seite. er hatte seinerzeit angeregt, man möge die probleme im zusammenleben einer mehrsprachigen stadt regelmässig diskutieren und beobachten und zu lernen. dafür unternahm er auch studienreisen entlang der deutsch-französischen sprachgrenze. in strassburg / strasbourg besuchte er das zentrum des bilinguisme und erörterte er mit dem direktor die möglichkeiten von beobachtungsinstrumente. der habe ihn in die bibliothek geführt, und ihm das baromètre du bilinguisme aus strassbourg gezeigt. und genau das wollte er in der folge für seine heimatstadt auch haben.

die arbeiten hierzu, die ich seit 1998 leiste, zeigen im wesentlichen drei sachen: die zweisprachigkeit ist in biel/bienne zu einem teil der stadtidentität geworden. alle indikatoren verweisen im zeitvergleich auf eine bewusstere und positiver eingestelltere bevölkerung. sie legen aber auch offen, dass die minderheit, die französischsprachigen, eine weniger vorteilhafte sichtweise auf das ganz haben als die mehrheit, die deutschsprachigen.

ich habe daraus drei these abgeleitet: erstens, ist die zweisprachigkeit der stadt für die politik und die öffentlichkeit von vorteil. zweitens, bin ich sicher, dass es ohne ohre die pflege der mehrsprachigkeit in wirtschaft und alltag viele nachteil gäbe. und drittens habe ich die bielerInnen aufgefordert, gleichzeitig stolz zu sein, dass sie ein vorzeigebeispiel sind, sich deshalb aber nicht auszuruhen und daran zu arbeiten, dass die ausstrahlung als vorbild zunimmt.

der kritische punkt ist, wie fast überall, die wirtschaft. wenn sprachliche minderheitsposition mit ökonomischer ungleichheit, sprich schlechterstellung übereinstimmt, gibt es schnell explosive problemlagen. in biel/bienne arbeitet man daran, muss man auch. die meisten firmen haben eine leitsprache, in der die dokumente verfasst werden. teilweise werde sie übersetzt, im mündlichen umgang hat sich die mehrsprachigkeit (nicht zweisprachigkeit) schon länger durchgesetzt. vorbildliche firmen bieten sprachkurse an, achten bei der postenbesetzung auch, keine diskriminerungen entlang der hauptsprache zuzunehmen.

das ist umso wichtiger, als der trend fast überall in die umgekehrte richtung geht: die segregation zwischen den sprachgruppen nimmt zu. man lebt vor allem nebeneinander, im schlechteren fall gegeneinander. das ziel müsste anders sein:. so stark wie nur möglich miteinander zu leben.

die zentrale motivation dafür ist, die horizonte zu erweitern, sprachen zu lernen, kulturen besser zu verstehen, und damit einen beitrag zur gesellschaftlichen entwicklung zu leisten. in biel/bienne ist man, habe ich an der tagung gelernt, überzeugt, nicht zuletzt deshalb nicht nur vor ort erfolge zu erzielen, sondern auch ausserhalb der stadt, auf den weltmärkten dank diesem bewusstsein wettbewerbsfähiger zu sein.

que les indicateurs montent avec le prochain sondages du baromètre du bilinguisme.

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schneckenmigration im zeitalter der globalisierung

christoph oberer ist aus dem baselbiet. das hört man, wenn er referiert. eigentlich ist er studierter historiker. doch die leidenschaft des laboranten am naturhistorischen museum basel gilt den schnecken. wenn er darüber referiert, gibt es fast so viele geschichten zuhören wie schnecken hat.

schneckenschnecken wandern nicht, war einer der hauptsätze am heutigen vortragsabend des bernischen vogelschutzes. doch mit der globalisierung werden sie in alle weltgegenden verschleppt. eisenbahnen und autostrassen transportieren nicht nur menschen und güter, auch schnecken. beispielsweise die spanische wegschnecke, die 1960 mit salaten aus dem süden in die schweiz kam und innert weniger als einem halben jahrhundert zur verbreitetsten schneckenart aufstieg.

die neueste folge der globalisierung an der schneckenfront betrifft die kantige laubschnecke, weiss oberer zu erzählen. eigentlich stamme sie aus süditalien, verstehe ich. über den export von wc-schüsseln verbreite sie sich aber in die halbe welt. am liebsten hätte sie betonwände, wo feines moos wächst, das sie liebend gern frisst. in basel würde es schon millionen davon geben. in bern werde sie bald auch in massen auftreten. eine eigentliche plage sei sie schon in den amerikanischen städten. die lonza forsche bereits nach einem effizienten gift gegen den urbanen eindringlich.

oberer schildert das und vieles anderes in eindrücklichen geschichten, die man so nicht jeden tag zu hören bekommt. das ist zu allererst lehrreich. so weiss ich etwa, dass schnecken zu besten nahrungsverwerten gehören. ihr kot interessiert einfach niemanden mehr. es ist aber auch unterhaltsam, der mann mit dem hund, wie er sich vorstellt, weiss auf jede frage aus dem publikum eine eigängige antwort. vielleicht hätte man sich am ende eines langenvortrages eine einordnung aller überraschungen in eine gesamtschau gewünscht, damit auch einem laien wir mir nicht nur die perlen des vortrages, auch sein roter faden bleibt. doch der referent ist sichtbar kein theoretiker, vielmehr ein lebender praktiker.

vor den schneckenplagen können man entweder kapitulieren. oder man können sie bekämpfen, mit heissem wasser oder gefrieren in der kühltruhe, höre ich an diesem abend. neu im kommen sei, mit schnecken zu flüstern. “das ist dein salat, den kannst du haben, doch die anderen sind mir”, sei das motto der gespräche, mit denen sich sogar die schneckenforschung neuerdings beschäftige. das alles sei viel besser, als schnecken zu zerschneiden, was man das lange gemacht habe. denn das bringe gar nichts, ausser neuen schnecken, weil zerschnittene schnecken proteinbomben seien, was andere schnecken begehrten und zu ihrer vermehrung führe.

ein kurios-tolle sache, so ein abend bei den schneckenspezialistInnen, die einen grossen bogen schlagen von traditionellen schneckenkulturen über globalisierungsmigrationen bis hin zu selbstschutzmassnahmen gegen invasive arten. nur politisch darf man das nicht nehmen, sonst würden aus langsam kriechenden schnecken schnell sich bekämpfende hunde!

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die macht der langen formeln

um es gleich zu sagen, den begriff der “nacht der langen messer” mag ich nicht. vielleicht ist das der grund, warum ich nach einem neuen terminus für den letzten moment vor bundesratswahlen suche.

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einsteins formel für energie – die berühmteste aller formeln der welt. mark balsiger macht sich auf den weg, eine solche für schweizer bundesratswahlen zu entwickeln – auch wenn es etwas länger dauert und sie etwas länger ausfällt.

die wortbedeutung der “nächtlich langen messer” ist in deutschland tod-ernst: denn 1934 liess hitler die sa-spitze ausschalten. anlass war die unterstellung, ernst röhm plane einen putsch gegen ihn. 200 menschen starben, als hitler seine vermeintlichen feinde des nachts kaltschneuzig ermorden liess.

was in der schweizer ausgabe der “nacht der langen messer” geschieht, nimmt sich demgegenüber gerade zu harmlos aus. denn es geht darum, ob die offiziellen bundesratskandidatInnen im letzten moment noch gestürzt werden, durch wilde bewerberInnen, durch herausforderer oder durch konkurrentinnen, die schliesslich obsiegen.

legendär ist vorwahlnacht des jahres 1983. damals lancierte der baselbieter freisinnige felix auer die wahl des solothurner sp-vertreters otto stich in den bundesrat. auf der strecke blieb lilian uchtenhagen, die favoritin der partei. die düpierte führungsriege der sp erwog, in die opposition zu gehen. helmut hubacher versprach, schampar unbequem zu werden. die parteibasis folgt ihm nicht, denn für sie war der direkte zugang zu entscheidungen wichtiger als der kampf um grosse worte.

unbestrittenes epizentrum ist seither die bellevue-bar. das fernsehen ist da, das radio auch. spekuliert wird in allen landessprachen. wer den tarif durchgeben oder ihn mit gerüchten einnebeln will, trifft gegen halb zehn ein. denn in der sendung 10vor10 ist man life mit der fernsehnation verbunden, und was dann nicht gesagt ist, dreht in der nacht nicht weiter. wer das richtig zu interpretieren weiss, kommt der sache schon nahe.

doch bei weitem nicht jedes mal kommt es zum sichtbaren coup: insbesondere in der nacht vor der abwahl von christoph blocher blieb fast alles ruhig in der bundesstadt. in keine bar tat sich was. bis es am anderen morgen in windeseile aus dem welschen radio drang, es gäbe einen plan gegen christoph blocher.

hochspannend war die nacht vor der bundesratswahl 2008. damals ging es um die frage, wer nach der selbstgewählte opposition neuer vertreter der svp werden würde. die spekulationen schossen mächtig ins kraut, bis sich hansjörg walther als möglicher wilder kandidat gegen die parteikandidaten maurer und blocher outete. natürlich wusste er, dass er die stimmen weitgehend aus den anderen reihen bekommen würde, sodass er sich am ende nicht getraute, für sich selber zu wählen. schliesslich fehlte ihm genaus (s)eine stimme. bundesrat wurde ueli maurer.

wer morgen schon wissen will, ob rime chancen hat, zweiter svp-bundesrat zu werden, oder wen es wunder nimmt, ob sich sp und grüne wirklich in den haaren liegen, beginnt die nachtwanderung in den hochburgen der parteien. die svp ist traditionellerweise im hotel kreuz oder im hotel bären. die fdp zieht das café fédéral vor, während die cvp gleich nebenan bei chez edy gastiert, allenfalls auch einen flügel in der casa di’italia hat. rotgrün wiederum tummelt sich am liebsten im café diagonal. erst dann geht zur schönen aussicht ins bellevue.

einen wird man dort kaum sehen. wahlkampfforscher und pr-berater mark balsiger verzichtet ganz auf das stimmungsbild vor ort. dafür lässt er seinen computer rechnen. den füttert er zu 17 faktoren, die den wahlausgang bestimmen sollen, mit daten zu allen kandidatInnen. die macht seiner langen formel übertrifft alles, was man in der nacht der langen messer erfahren kann: denn gewählt sind gemäss wahlkampfblog jacqueline fehr und johannes schneider-ammann …

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krise der demokratie – kraft der demokratie

martin schaffner, emeritierter professor für geschichte an der universität basel, stellte seine eröffnungsrede zur heutigen tagung “wege zur direkten demokratie in den schweizerischen kantonen” unter das generalthema der “krise der demokratie” – und verkürzte damit die sache gerade als historiker.

843c13b33bangeregt wurde schaffner durch den europarat, der unter der leitung des schweizer politikers andreas gross jüngst ausgiebig über das gleiche thema debattiert hat. drei anlässe hätten den rat der euorpäischer völker alarmiert: die entpolitisierung der bürgerInnen, die sich nicht mehr beteiligen wollten, die demokratiepolitisch ambivalente rolle der medien und die institutionellen defizite der demokratie im zeitalter der globalisierung.

auch in der schweiz gibt es zwischenzeitlich eine kritische demokratiediskussion, konstatierte schaffner. so werde die intransparenz der parteienfinanzierung beklagt. partizipationsrechte blieben weitgehend an das bürgerrecht gebunden, und die relativierung des nationalstaates höhle die souveränität auch einer direkten demokratie aus.

das war eine harte einleitung – nicht zuletzt für einen historiker! denn die globale demokratiegeschichte verweist zurecht auf die spektakuläre ausdehnung der demokratie als regierungsform seit 1848. in mehreren schüben entwickelte sie sich zum weltweit verbreitetstes politischen system. sicher, zwischen den schüben gab es immer wieder krisen in der quantiativen ausbreitung, genauso wie in der qualitativen vertiefung der demokratie. und höchstwahrscheinlich befinden wir uns historisch gesehen in einer solche phase.

doch ist dies kein grund, sich auf den aufstieg und niedergang der demokratie einzustellen. eher zutreffend ist es, sich eine treppe vorzustellen, auf der phasen des aufstiegs solchen der stagnation folgen. damit wären wir heute auf einem solche plateau.

mir jedenfalls gefällt diese rhetorik besser als die des niedergangs. zwar sagt der plitikwissenschafter in mir, dass fast alle genannten symptome nicht falsch sind, doch treffen sie von mir aus den kern nicht. typisch dafür war heute, dass keiner der referentInnen in den panels auf die diagnose von schaffner wirklich einsteigen mochte. historikerInnen, die sich mit der demokratie beschäftigen, gehen generell davon aus, dass sich diese staatsform in der moderne, welche die amerikanische und französischen revolutionen begründete, ausbreitete und ausbreiten wird. vielleicht hat sie sogar vormoderne ursprünge, und ist sie unzerstörbar, denn sie bewältigt krisen durch selbstbeobachtung, und echte fehlentwicklungen korrigiert sie mit ihrer eigenen kraft letztlich seber. das ist ihre stärke.

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nom de dieu!

“adolf muschg. sax. buchvernissage. leben. politik. tod. gott. nom de dieu!”, steht auf meinem spickzettel zum bericht des heutigen besuchs in zürich.

9783406605178_coveran diesem abend im kaufleuten werden erinnerungen wach. am 6. dezember 1992 scheiterte der ewr-beitritt der schweiz in der volksabstimmung. erst 1995 nahmen die schweiz und die eu wieder verhandlungen auf, um mit den bilateralen einen ausweg zu suchen. im jahr 2000 wurde das erste paket dieses vertragswerkes in einer volksabstimmung gutgeheissen.

während den 90er jahren diskutierten im schweizer ableger des ceps, des centers for european policy studies, einer denkfabrik in brüssel, ausgewählte bankiers, unternehmer, politiker, intellektuelle und medienschaffende unter ausschluss der öffentlichkeit über mögliche strategien der schweiz in europa. dabei waren so unterschiedliche grössen der zeitgeschichte wie hans-rudolf dörig, mario corti, christoph blocher und adolf muschg, alle moderiert von roger de weck, denen ich als junger politologe jeweils mit einigem staunen zuhörte. wortgewaltig waren sie alle, mächtig auf ihre art auch und gescheit ebenso. doch zogen sie an den verschiedensten stricken: direkt in die eu wollten die einen, eine neuauflage der ewr-entscheidung die anderen. schliesslich gab es die überzeugten des helvetsichen alleingangs – bis sich schrittweise der weg der bilateralen herausbildete, auf dem immer mehr wanderten, während wenige auf distanz dazu blieben.

sax, das ist ein adelsgeschlecht aus dem rheintal, das im 12. jahrhundert im gefolge der passpolitik, welche die stauffer als kaiser des heiligen römischen reiches betrieben, mitmachten und dabei gross wurden, sodass sie kaiserliche güter und ämter im st. gallischen und im bündnerland anhäufen konnten. “sax” heisst auch der neue roman von muschg, durch den die mumie eines der freiherren von hohensax, an der die tödliche schädelwunde bis heute sichtbar ist, ebenso geistert wie seine mitgift, die berühmteste minnehandschrift des mittelalters. und das, obwohl alles in der gegenwart spielt! denn das erzählte leben wird hier vom tod her gedacht, und so endet der roman im jahre 2013, und beginnt er 1970, – just der zeit, in der der autor professor für deutsche literatur an der eth zürich, präsident der akademie der künste in berlin und darum herum erfolgreicher schriftsteller war und es wohl auch noch eine weile bleiben wird.

adolf muschg las an der buchvernissage nur gerade die erste halbe seite seines jüngsten werkes vor, um sein thema spielerisch zu lancieren: den spuk. eingeführt wurden dabei der nebel an der nordsee, die nächtlichen friedhofbesuche, die seancen in gespensterhäusern mit tischen an der decke. all das waren grenzerfahrungen, die einen schon früh auf den tod vorbereiten, meinte muschg. was für ein leben auch immer man geführt habe, dem tod entrinne man nicht, und deshalb sei er, der tod – ganz wie philosoph ernst bloch es gesagt habe – das letzte der erlebnis, das ultimative abenteuer, das jede und jeder noch vor sich habe.

der 76jährige schriftsteller erzählte an diesem abend offensichtlich aus seinem leben, zitierte auffällig häufig literaturgott goethe. er berichtete auch aus seinen roman, um sich über einige der figuren wie thomas schinz, dem privatbankier, dr. fanny moser, der geisterforscherin, dem anwaltskollektiv mit büro in einer dachwohnung und herrn schiess, dem bundesrat, auszulassen. den künftigen leserInnen von “sax” versprach er, in diesem roman von karriereplanungen bis liebesgeschichten vieles mitzuerleben und dabei die dünne wand zwischen leben und tod zu durchbrechen, was der klappentext zum buch aus dem c.h.beck verlag ein einladung nennt, mehr über ungelebtes leben und den gelebten tod zu erfahren.

roger de weck, der auch heute die veranstaltung moderierte, in der ich, etwas gealtert zwar, wiederum staunender gast war, versuchte hartneckig, das politische in muschgs leben und romanen zu umreissen. so sprach man von blocher (alias bundesrat schiess), den muschg ein wenig auf die schippe nahm, weil jeder mensch einen anker brauche, aber nicht jeder davon überzeugt sein, notfalls sälber id hose steigen zu müssen. sein urteil über den kontrahenten von damals fiel aber einiges milder aus, als man es erwartet hatte. letztlich war auch das ein lob auf die zweideutigkeit oder ambivalenz, die alle stoffe des lebens, so auch blocher, interessanter mache, als die einsilbigkeit oder reduktion der medialen berichte darüber. dabei frotzelte muschg, sei in seiner jugend – ganz anders als heute – ein medium ein frau mit verbindungen ins jenseits gewesen. das wiederum sei nicht sein ziel in seinem nächsten medium, konterte der designierte srg-generaldirektor auf der bühne.

animator roger de weck reizte an diesem abend nebst der politik auch das thema gott. denn adolf muschg war in den 70er jahren mitglied der furgler-kommission gewesen, dem 40köpfigen gremium, das vorschläge für eine neue bundesverfassung macht und auch eine neue präambel dazu diskutierte. man weiss es, die schweiz gehört mit irland und spanien bis heute zu den einzigen, die sich im vorwort zum grundgesetz auf gott berufen, was muschg, der damals für verschlankung dieser ganzen symbolik aus dem 19. jahrhundert plädierte, heute weniger stört als auch schon. immerhin, sein “sax” endet mit dem wortspiel “In Gottes Namen, fügte Hubert bei. Nom de dieu, vollendete Jacques.”

vielleicht weiss ich nach der lektüre, ob das das politische vermächtnis des schriftstellers ist!

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entstand die schweiz 1291? – ein provokativer vortrag

das thema ist ernst: ist die schweiz 1291 gegründet worden? darüber werde ich ende september in thun sprechen. denn das glaubte man 1891 ganz fest und feierte den geburtstag der schweiz ausgiebig. 100 jahre später liess sich das festen nicht einfach wiederholen. nicht zu unrecht, sage ich. denn 1791 gab es gar kein gedenken an einen solche gründungstag, genauso wenig wie 1691, 1591, 1491 und 1391. was also ist sache?

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geschichte hat einen doppelten wortsinn, wie golo mann immer wieder betont hatte: es ist das geschehene in früheren zeiten und die erzählung darüber in der jetzt-zeit. geschichte ist, woran man sich später erinnert, könnte man das auch nennen. darin spiegelt sich eben nicht nur die vergangenheit, sondern auch die gegenwart.

unsere erinnerung an “1291” entstand 1891 aufgrund des wunsches der nationalen einheit. bern feierte die legendäre stadtgründung von 1191; erstmals fanden sich die alten patriziergeschlechter und die neuen bürgerfamilien zu einem festakt zusammen. die angst vor der aufkommenden arbeiterschaft liess die alten gegensätze in den hintergrund treten.

der bund nahm das zum willkommenen anlass, ebenfalls ein versöhnungsfest zu veranstalten. freisinnige und konservative, die sich im sonderbundskrieg von 1847 noch mit waffen gegenüber standen, beendeten ihren politischen dauerzwist: der erste kk-vertreter wurde in den bundesrat aufgenommen, und die volksinitiative zur partialrevision der bundesverfassung wurde auf druck der konservativen zugelassen.

zudem wurden die unterschiedlichen gedächtniskulturen wurden zusammengelegt: der fortschrittgedanke der freisinnigen mit ihrem nationalen raumdenken verband sich mit der mythologe der innerschweiz, welche die unabhängigkeit der kleinen räume von allen herrschaften seit den habsburger vögten in der tell-figur bewahrt hatte. ferdinand holder hat dieser these mit seinem tellbild den treffenden ausdruck gegeben.

allerdings wurde der geburtstag der schweiz dazu von 1307 auf 1291 verlegt. historiker wilhelm öchsli begründete die verschiebung in einem eigens für den bundesrat geschriebenen geschichtswerk, indem er der älter auffassung des humanisten ägidius tschudi widersprach, der die gründung der schweiz auf 1307 durch den bund von brunnen datiert hatte. 1891 führte das zu einem tollen fest, 1907 indessen zu einem beschämenden besuch einer kleinen bundesratsdelegation an der kleinstfeier zum 600. geburtstag der schweiz.

der (de)konstruktivismus, der im gefolge von michel foucault seinen platz in der geschichtswissenschaft erobert hat, fragt golo mann radikalisierend nicht mehr, was war, sondern warum man sich wann an was erinnert. das ist eine ideologiekritische position, welche die produktionsbedingungen von geschichte in der jeweiligen gegenwart reflektiert. ich mag das, denn es hindert einen daran, geschichte für absolut zu setzen. allerdings bin ich kein ganz grosser anhänger der daraus auch abgeleiteten beliebigkeit von geschichten, wie das die postmoderne immer wieder auch propagiert.

mein vortrag in thun, soll zeigen, wie schweizer geschichte im bewusstsein darüber, dass sie immer auch schweizer gegenwart ist, aussehen könnte. hier nur die wichtigsten stichworte dazu: die politische gleichheit von mann und frau ist in der schweizer demokratie 1971 eingeführt worden. die direkte demorkatie ist von 1874, der föderalistische bundesstaat mit bund und kantonen datiert von 1848. moderne ideen begründeten 1798 die helvetische republik, die sich von vormaligen ancien regime so klar unterschied. 1648 wurde die eidgenossenschaft reichsunabhängig, und 1499 erkämpften sich die schlachtenbummler der verschiedenen orte ihren autonomen status im kaiserreich. davor war man rund 100 jahre kräftig (zusammen) gewachsen, denn war im mittelalter war, kann kaum als schweiz bezeichnet werden.

wer gar nicht an eine gründung der schweiz glaubt, der sieht sie entstehen und an ihren konflikten wachsen, wie dem waldsterben 1984, dem generalstreik 1918, der liberal-radikalen bewegungen nach 1830, der reformation von 1528 und dem investiturstreit 1076. denn die schweiz ist eine produktive verarbeitung von regionalismen, von religionsspaltungen, von ideologien, von sozialen auseinandersetzungen und von ökologiedebatten.

ich mache es klar: mit meinem vortrag zum fulehung will ich vor dem mittelalterverein thun die these begründen, dass die schweiz nie wirklich gegründet worden ist, sondern aus den gegengebenheiten heraus entstand. sie ist keine digitalfoto, die sekundengenau datiert werden kann, sondern ein farbbild, wie man es früher im wasserbad entwickelt hat. und: immer mehr fällt das licht der gegenwart in die dunkelkammer der vergangenheit, ohne dass es immer gleich scheinen würde. deshalb ändert sich auch die geschichte der schweiz von zeit zu zeit.

wohlan!

stadtwanderer

ps:
eine übersicht über all meinen vorträge bis ende jahr gibt es hier!

kultur i tiomilaskogen (kultur im 100-meilen-wald)

„kultur i tiomilaskogen“ ist der höhepunkt des festjahres, der die menschen im grenzgebiet von värmland und dalarna verbindet. ein stimmungsbericht von der 10. auflage aus dem 100-meilen-wald zwischen hagfors, vansbro und malung.

P7300161meist wirkt die kirche von tyngsjö etwas verlassen. selbst an sonntagen ist die gemeinde im christlichen langhaus am see bisweilen klein geworden. jedenfalls kann man sich dieses eindrucks nicht erwehren, wenn man den grossen friedhof rundherum sieht, der von den zeiten berichtet, als hier die nilssons, olssons, perssons und larssons am alten platz der traditionellen bauernversammlungen noch zahlreich waren.

doch wenn „kultur i tiomilaskogen“ angesagt ist, stehen so viele autos auf dem parkplatz vor der kirche wie sonst nie während des jahres. der frisch renovierte prästgard, das pfarrhaus aus dem jahren 1858, ist unser beliebtester beliebter treffpunkt. waffeln werden draussen gebacken, kaffee und bröd drinnen gereicht. da trifft man schon mal auf einheimische, die, sonst meist verschlossen, an diesem langen wochenende viel zu erzählen haben. Oder man begegnet zugewanderten, die hier in der wildnis ihr glück versuchen, wie meine holländischen nachbarn am tisch in der pfarrstube, die, als sie meine herkunft erfahren, umgehend von der euro ‚08 und der belagerung berns durch die niederländischen fans zu schwärmen beginnen.

im geräteschuppen vis-à-vis ist einer der zahlreichen trödlermärkte, hier loppis genannt. davon gibt es in värmland fast so viele wie seen. doch der in tyngsjö am festival ist einer der erlesensten. die alte kakaobüchse kostet 20, die elegante cola-flasche dreissig und das wiskey-glas glatte 50 kronen. wer es kauft, macht es jedoch kaum des preises wegen, mehr, weil es ihn oder sie an das warme getränk der mutter am morgen, den ersten konsumtripp in die nahe gelegene stadt oder den schlimmen vollrausch mit 18 erinnert.

das kleine haus daneben gehört voll und ganzden künstlerinnen. die jüngere generation, meistens auswandererinnen aus deutschland, präsentieren hier ihre töpferwaren, die sie wärhend der auszeit aus der alltag prdouzieren, um sich selber zu verwirklichen. die preise sind entsprechend urban. Im raum nebenan spricht man indes nur schwedisch, denn da ist die alte generation, die noch mitten im leben steht. nützlich-schön ist ihr handwerk aus wollwaren. hoch im kurs der kinder sind ihre sachen aus schaffällen, in die man sich kuschlig einschmiegen kann.

für uns ist es zeit, sich zu stärken. der zentrale hamburgerstand ist ein eigentlicher familienbetrieb. erhältlich sind skogstofflan och het sulan, heisse teigtaschen mit fleisch oder käsefüllungen, die der junge in seinem schulenglisch anpreist, die mutter liebevoll zu bereitet, nachdem der vater beim schwatz mit besucherInnen alles vorgewärmt hat.

einige strassenzüge weiter ist ein altes, ehrwürdiges ökonomiegebäude um vorübergehenden kulturpalais umgebaut worden. die vielen besucherInnen finden hier kaum platz zum parkieren, denn die wiese ist vom regen der woche immer noch aufgeweicht. der schober selber ist dreigeteilt: in der mitte befindet sich eine fotoausstellung mit schwarz-weiss-bildern aus schweden und der ganzen welt von einer einheimischen fotografin; links davon, im alten geräteteile, gastieren fünf frauen mit ihrem haushaltskram, und am rechten ende ist eine ausstellung mit frischem garn, farbigen seifen und und duftenden ölen. davor trauert ein alter mann ein wenig dem leben nach. er verkauft wassermelonen und summt zu eigenen guitarreklängen ein paar nordische lieder. im wind hängt ein mobile mit trollen, seinen einzigen zuhörern.

am schluss des ausflugs ist der hintersitz unseres autos randvoll. keine gedanken haben wir uns gemacht, wo wir das alles verstauen werden. doch das ist so, wenn man ans kulturfestival geht, denn es ist die seele, die das handeln treibt.

und so freuen wir uns zuhause über unsere grosseinkauf im tjomilaskogen: er bereichert uns um eine schale aus norwegischem zinn zum schenken, vier kaffeetassen mit blumenverziertem untersatz, elf löffeln, einer sauciere, zwei töpfen honig aus värmland, einem frischen quarkkuchen, einem pack tunbröd, einem alten kochbuch mit ebenso alten rezepten, einer kartoffelstampfe, einer schafschere, einem hammer für die sense, vier klungen wolle, einem paar fingerlangen pulswärmerm, einem bund tom & jerry-hefte für die toillete, einem krimi von einem mir nicht weiter bekannten einheimischen autor, 2 t-shirts mit aufgedruckten winterbildern und 5 nistkästen für die vögel, die sich hoffentlich nächsten frühling hier paaren. wenn wir von allem dem etwas nicht gebrauchen können, bringen wir es einfach auf einen loppis und tauschen es an neue liebhabern weiter.

der lutheranische pastor in tyngsjö hätte seine helle freude, würden seine schafe so einfach glücklich!

stadtwanderer

in die fremde gegangen – und fremd geblieben

im kommenden jahr feiert new bern in north carolina das 300jährige bestehen – und anderem mit einer ausstellung und einem video im berner historischen museum. wirklich näher bringt mir das die amerikanische stadt jedoch nicht.

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logo zu den feierlichkeiten in new bern

die karriere von christoph von graffenried verlief zur wende vom 17. zum 18. jahrhundert genau so, wie man es von einem patriziersohn erwartete: heirat im angesehenen kreis der stadtadeligen, studium im ausland, eintritt in die politik, landvogt in yverdon. der nächste schritt wäre die aufnahme in den kleinrat, der berner stadtregierung, gewesen. hätte es nicht einen familienzwist gegeben, der vater und sohn trennte.

christoph beschloss auszuwandern. im frühling 1710 reiste über basel, rotterdam und london in die neue welt, nahm im namen des englischen königs land, um eine hafenstadt an den gestaden des atlantiks zu bauen. new bern nannte er sie – in erinnerung an die alte heimat.

auf der suche nach rohstoffen ausserhalb des stadtbodens geriet von graffenried mit den indianischen ureinwohnern in konflikt, wurde er gefangen genommen, und als er wieder frei war, konnte er nur konstatieren, dass new bern weitgehend zerstört worden war und sich die meisten neusiedler davon gemacht hatten.

auch der stadtgründer blieb nicht mehr lange im wilden amerika. 1713 kehrte er ohne jegliches geld nach bern zurück. die neue welt sah er nie mehr. vielmehr verfolgte er den weg der alten welt weiter, wurde schlossherr in worb, und verstarb er daselbst weitgehend vereinsamt.

viele der bernerInnen, die mit von graffenried emigriert waren, kehrten nicht zurück. vielmehr wanderten sie in der neuen welt weiter und liessen sich beispielsweise in new york nieder, um ein teil des american dreams zu werden.

das alles hat die beziehungen zwischen old and new bern nicht befördert. zwar erinnert das stadtwappen von new bern an den berner bär im berner wappen, und man findet auch einige strassenschilder in new bern, welche an die stadtgründernamen erinnern. doch sonst sind die beiden städte ihre eigenen wege gegangen.

darüber kann auch die jubiläums-ausstellung im berner historischen museum nicht hinweg täuschen. zu klassisch ist der aufbau, zu sparsam wird mit dem material umgegangen, um interessierte zu überraschen. die internet-seite dazu ist “nett”, aber nicht packend, sodass von einem neuanfang nicht die rede sein kann. kein einziges projekt wird vorgestellt, dass die menschlichen verbindungen zwischen den namensvetterstädten über die gründungsfamilie hinaus befördern würde.

so bleibt ein fazit nach dem ausstellungsbesuch: vor dreihundert jahren gingen einige berner in die fremde, wurden von den fremden nicht eben freundlich empfangen. die beiden bern verhalten sich seither wie fremde – und dürften es auch über die anstehenden feierlichkeiten hinaus so bleiben. schade!

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frauen ohne masken

der vortragssaal im berner kornhaus war gestern bis auf dem letzten stuhl besetzt. die meisten teilnehmenden waren frauen. denn um sie und ihre berufe ging es an der buchvernissage, der nun eine ausstellung folgt.

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“frauen ohne maske” heisst das buch, das gestern vorgestellt wurde. joseph riegger, fotograf aus basel, ging viele jahre mit dem projekt schwanger, bevor er sich 2008 entschloss, es zu realisieren. mit porträts sollten frauen im beruf vorgestellt werden. 201 bildnisse von arbeitenden frauen sind so entstanden und bilden das rückgrat des neuen bildbandes.

die bilder sind alle gleich aufgebaut: es gibt einen einheitlichen hintergrund, in der linken bildecke steht ein korpus mit berufsgegenständen, und die porträtierten zeigen sich so, wie sie in ihrem alltag arbeiten. er sei nach einem strengen raster vorgegangen, um die verschiedenheit der heutigen frauenberufe zu zeigen, sagte riegger gestern abend. in der tat: die präsentierte palette ist breit. natürlich gibt es da die hebamme, die sozialarbeiterin und die sekretärin. doch mischte er auch uruloginnen, informatikerinnen, landmaschinenmechanikerinnen und selbst kaminfegerinnen darunter. und: die liste liesse sich fast beliebig verlängern. einige der so porträtiert sind uns bekannt: ruth dreifuss beispielsweise, die ökonomin, die entwicklungshelferin und gewerkschafterin war, bevor sie bundesrätin wurde. doch die meisten der vorgestellten kenne ich jedenfalls nicht, und doch vermitteln sie ein bild von ihrem berufsalltag. “Miir war wichtig, dass alle ausser der Yoga-Lehrerin, wo das nicht geht, in die Kamera schauen”, sagt riegger. denn nur so entsteht eine selbstbewusste botschaft, wo man sie nicht erwartet.

“Ein solches Buch macht Mut, sagte marieanne dürst, ehemalige präsidentin der fdp frauen und frau landammann im kanton glarus auf dem podium. sie ist die erste frau, die das schwert als symbol der macht im kanton trägt, – und sie macht das mit stolz. das heisst nicht, dass sie die männerpolitik einfach fortsetzen will; vielmehr sprach sie sich für gemischte teams in allen lebensbereichen aus. den frauen und männer haben stärken, ist ihre überzeugung, und sollten sie überall gemeinsam einbringen. zu ihren stärken zählte sie, sich als projektleiterin vorbehaltslos hinter die neuorganisation der glarner gemeinden zu stellen, um im traditionsreichen tal etwas zukünftiges zu schaffen. anita fetz, die basler sp-politikerin, ging da noch etwas weiter. wenn es nach ginge, würde sie viel mehr ins öffentliche bildungswesen investieren, die kinder früher einschulen und die berufliche qualifizierung gerade auch von frauen für berufe intensivieren. denn als ständerätin oder bankrätin weiss sie, wie oft sie gerade in spitzenpositionen und traditionellen männerdomänen wie den finanzkommissionen oder verwaltungsräten immer noch alleine ist. den wandel, den ihre generation gerade in den wahlmöglichkeiten erlebt habe, möchte sie gerne fortsetzen, auch wenn sie weiss, dass es das recht jeder nachfolgenden generation ist, aus den vorgefundenen voraussetzungen das zu machen, was einem entspricht.

für die analyse solcher sozialer trends in der gesellschaft ist im buch “frauen ohne maske” regula stämpfli, die berner politologin in brüssel, zuständig. und sie tut es so, wie man es von ihr kennt: gradlinig, provokativ und mit rhetorischem geschick. “Berufe haben kein Geschlecht”, eröffnet die autorin den porträtband, “aber ein Image. Und dieses Image verändert sich, je nachdem wie hoch der Anteil Frauen und Männer in einem Beruf ist. Und mit dem Image verändert sich auch die Bezahlung. Steigt der Frauenanteil, sinken Ansehen und Lohn. Steigt der Männeranteil in einem Frauenberuf, steigen Ansehen und Lohn nur zaghaft, aber immerhin.” der taffen ankündigung folgen im bildband keine statistiken, wie man es sich gewünscht hätte. doch erhöht das den lesespass. denn in diesem buch geht es tatsächlich zu erfahren, wie frauen im berufsalltag sind, wenn sie gerade nicht über Lohn und image nachdenken, eben: ganhz ohne masken!

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11.11., 11 11

die fasnacht 2010 ist lanciert. heute morgen sperrte der stadtpräsident symbolisch den berner bären in den käfigturm, und die narrenrevanchierten sich mit gepfefferten tiraden gegen die vermeintlichen helden des jahres vor dem erlacherhof.

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die drei musketiere erklären dem publikum im erlacherhof was alles schief läuft in der republik bernensis (foto: stadtwanderer)

der platz vor dem sitz der berner stadtregierung füllte sich gegen mittag zusehends. schnitzbänklerInnen, gaukler, maskierte und gwundrige leute füllten ihn, um zuzuhören, wie die obrigkeiten für die tripolis-connection gegeisselt wurde, wie man über singende cervelat-prominenz aus der region lustig machte, und wie man keine gelegenheit ausliess, schlüpferige anspielungen zu minaretten und bären zum besten zu geben.

die ursprünge der berner fasnacht sind nicht bekannt. das älteste bildliche zeugnis stammt aus dem 15. jahrhundert. doch wird das närrische treiben in unseren gegenden in der regel im 13. jahrhundert in den neugegründeten kleinstädten erwähnt. namentlich die zeit nach der grossen pest scheint eine art dauerfasnacht gewesen zu sein. die kontrolle der kirche war weg, und der schultheiss war zu schwach, um ordnung zu gebieten. denn das volk hatte die gassen erobert. die zahlreichen sittenmandate seit dem ende des 14. jahrhunderts belegen, dass das treiben gerade in bern bunt gewesen sein muss, dass der wein floss, dass glückspiele blühten und die männer liebend gerne die frauen in den stadtbrunnen tünkelten.

damit räumte die reformation gründlich auf. “fertig lustig” war das motto der gestrengen pfarrherren des neuen glaubesn, die ordnung in berns politik und gassen brachten. musizieren, tanzen und singen war eine generation lang verboten, schnitt beträchtlich ins gefühlsleben der stadt ein und veränderte kultur und menschen. die fasnachtstradition war gebrochen, und der rationalismus des 18. und 19. jahrhunderts liess, was davon überlebt hatte, ganz versiegen.

so gelten die 80er jahre des 20. jahrhunderts als wiedergeburt der berner fasnacht. 1982 war es ganz zaghaft soweit. ein paar sponti wollen den ideenreichtum unter den pflastersteinen einmal jährlich von neuem sprudeln lassen. seit 10 jahren stehen drei tage ende februar ganz im zeichen des bären, der zur fasnacht von seiner gefangenschaft befreit wird und während drei tagen sein unwesen in der stadt treibt. der grosse kinderumzug lässt sich zwischenzeitlich sehen; gegen 100’000 zuschauerInnen lockt er jeweils in die stadt und ist damit im nu nach basel und luzern zur drittgrösste fasnachtsveranstaltung in der schweiz geworden.

2007 ehrte sogar die burgergemeinde der trägerverein der berner fasnach mit dem kulturpreis der stadt: eine art versöhnung der gegenwart mit der geschichte könnte man sagen!

heute wurde für die nächste fasnacht der stadtschuss gegeben, – und alle warten schon, bis die schnappszahl um 11 uhr 11, am 11.11.11 ganz perfekt sein wird!

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das geöffnete fenster der möglichkeiten

ich war heute in brünnen an einer tagung der berner agglomerationskonferenz. versammelt waren rund 50 interessierte aus der region bern, die sich aus erster hand über das projekt “hauptstadtregion schweiz” informieren liessen. mich haben die diskussionen inspiriert, eine neuartige wanderung für 2010 zu lancieren.

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die urbanen kräfte rund um bern herum bündeln und zum politikzentrum für die schweiz zu werden, empfahl geograf paul messerli der agglomerationskonferenz (Bildquelle)

im mai stimmten die rund 100 gemeinden der region bern der agglomerationskonferenz zu. gestern nahm sie ihre aufgabe auf.
im juli gaben stadt und kanton bern bekannt, gemeinsam aktiv zu werden, um die hauptstadtregion schweiz zu fördern, die auf die ebene der metropolregionen zürich, arc lémanique und basel gehoben werden solle.
und ende august wurde der verein “bern neu gründen” aus der taufe gehoben, der zusammenschlüsse in kern der agglo bern fördern will.

genau das nannte paul messerli, pensionierter professor für wirtschaftsgeografie, eines der seltenen festern der möglichkeiten. gemeint ist damit, dass sich miteinander verschiedene entwicklungen ergeben, die sich gegenseitig befruchten könnten. nach ansicht des geografen gibt es nämlich mindestens drei herausforderungen im raum bern:

erstens, der agglomerationskern bern muss mehr gewicht bekommen. er wächst zwar wieder, aber es muss sich auch durch organisatorischen neugestaltungen klarer in die erster liga der kernstädte in den schweizer agglomerationen spielen.
zweitens, in der agglomeration bern muss das bewusstsein der behörden gestärkt werden, eine gemeinsame region zu bilden. eine basis für vermehrte kooperation hat sarz, die reorganisation des kantons, eine voraussetzung geschaffen.
und drittens, stadt und kanton müssen kooperativer werden, einen überkantonale städtekranz bilden zu können, der die grossen agglomarationen bern, thun, solothurn, biel/bienne, neuenburg und fribourg umfassen soll.

unbestreitbar war für paul messerli heute, dass sich die hauptstadtregion als politikzentrum profilieren sollte. regierung, parlament, verwaltung auf drei ebenen, universitäten, forschung&beratung, medien und kommunikation müssten darauf ausgerichtet und speziell gefördert werden, um zu einen neuartigen cluster heranzuwachsen, das die aufgaben für sich besser und dienstleistungen für andere vermehrt anbieten könnte.

in der diskussion stiessen die die ausführungen zur koordination der möglichkeiten im fester, das sich mitte 2009 plötzlich aufgetan hat, auf grosses interesse. zwar gibt es da und dort skeptiker, doch standen ihnen auch absichten gegenüber, in den zentralen herausforderungen wie dem bahnhof bern, den zubringerstrassen in die agglomeration, der förderungen von höheren schulen resp. der spitallandschaft in der hauptstadtregion gegenüber.

mich hat das zur spontanen idee verleitet, in diesem fester der neuen möglichkeiten auch eine neuartige stadtwanderungen anzubieten. für alle, die an der neuen identität der hauptstadtregion mitarbeiten wollen, , will ich 2010 einen neuartigen rundgang anbieten, ganz nach dem motto: wer wandert, begibt sich unterwegs, ohne schon genau zu wissen, wo er enden wird!

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die marke bin ich

ich war gestern erstmals am berner marketingtag. das thema lautete: “die marke bin ich!” das war nicht nur ein anleitung für verkäuferinnen von rezepten, es war auch ein lehrgang für kommunikatoren, wie blogschreiberInnen!

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adolf ogi, der stadtwanderer mit felix spahr, und hanspeter danuser an der tagung “die marke bin ich”.

welche grippe auch immer es gewesen sein mag, am morgen des grossen tages des berner marketings fielen gleich zwei referentInnen aus. beim gegebenen tagungsthema war das doppelt problematisch, denn man verhandelte über “die marke bin ich”. und genau dieses “ich” kann man kaum ersetzen, wenn authentisch über diese form des marketings geredet werden solll.

am interessantesten tat das gestern der frühere kurdirektor von san moritz, hanspeter danuser. er hat den skiort im engadin zu dem gemacht, was es in unseren köpfen ist. ein ort mit sonne, wo man immer braun wird. ein ort der high society, wo man englisch spricht. und ein ort, der selbstbewusst seinen namen als marke erkannt und ihn vor allen anderen auf der schützen liess.

menschen, die so etwas leisten wollen, müssen integer sein. ohne kompetenz geht nichts. und ohne einfühlungsvermögen für andere auch nicht mehr. wichtiger noch ist ihre energie, mit der sie andere anstecken wollen. und der mut, etwas zu tun, was noch niemand gemacht hat! charisma nannte danuser das – und fügte, vielleicht ehrlich, aber ungeschickt – killerinstinkt bei. er habe im richtigen moment am richtigen ort das richtige gemacht, während die hoteliers pathologische demokraten sein, die es nie zu dem gebracht hätte, was sie heute seien. solch überhebliche selbstdarstellungen sind wohl der grund, warum wir ich-verkäufern gegenüber ambivalent reagieren. denn ihr ego fasziniert und kann den auftrag überschatten.

an diesem tag war viel von selbstdarstellern für eine sache die rede: von barack obama natürlich, von madonna auch, und von selbst von roger federer. nicht gefehlt haben auch mohammed, jesus und buddha, die stifter von gemeinschaften, für die sie über jahrtausende unverwechselbare markenzeichen geblieben sind.

das beste lebende beispiel hierfür auf der bühne des kursaals war adolf ogi, der nur wenige worte brauchte, um sich in erinnerung zu rufen. in unserem geistige auge sahen wir den meiringer verkäufer nochmals erfolgreichster skidirektor werden, für die svp in den bundesrat einziehen, und als schweizer zum geachtete uno-botschafter für sport aufzusteigen. seine art, etwas zu sagen, war so prägnant und inszeniert zu gleich, dass wir heute noch wissen, zu viel strom zu verbrauchen, wenn wir eier kochen. unvergessen ist auch der tannenbaum während der neujahransprache von ogi, der sie speziell machte, obwohl immer das gleiche gesagt wird. und eingraviert in unser kollektivgedächtnis hat sich die begegnung des bundesrates mit raumfahrer nicollier, als der oberländer druckreif aus dem globi-buch zitierte: “freude herrscht!”. das alles gehört zur eigeninszenierung, die aber nicht nur für sich selber erfolgt, sondern für eine sache. bei ogi unzweifelhaft für die neat, die er gegen alle widerstände durchgebracht hat.

genau das ist es, was den botschafter als marke ausmacht, habe ich gestern gelernt: die gemeinschaftsbildung durch selbstdarstellung, die sich kräftiger symbole bedient, um die aufmerksamkeit des publikums zu gewinnen, um etwas zu verkaufen. sei es eine religion, ein produkt, eine dienstleistung – oder einen blogbeitrag.

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