historische fakten der gegenwart

timothy garton ash ist der historiker der gegenwart. alle 10 jahre bringt er ein neues buch heraus, indem er auf die jeweils jüngste dekade der weltpolitik zurückblickt. eben erst sind seine weltpolitischen betrachtungen 2000 bis 2010 unter dem titel “jahrhundertwende” bei hanser erschienen.

jahrhundertwende“Hätten wir die Fakten über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen gekannt oder auch nur gewusst, wie unzuverlässig die diesbezüglichen Geheimdienstinformationen waren, hätte das britische Parlament wohl kaum für einen Krieg im Irak gestimmt. Vermutlich hätten selbst die Vereinigten Staaten gezögert. Damit wär die Geschichte des Jahrzehnts anders verlaufen.”

der schriftsteller timothy garton ash, professor für zeitgeschichte in oxford (gb) und stanford (usa), journalist für den englischen guardian, leitet so seinen virtuosen überblick über die ersten 10 jahre des 21. jahrhunderts ein. geprägt sind sie durch die lüge, die nicht nur lebensgeschichten schönt, nein, vielmehr zum obersten mittel der weltpolitik avancierte. umso eindringlicher fordert der historiker seine kollegInnen an den universitäten, in den fachmagazinen und im journalismus auf, zuerst nach den tatsachen zu suchen. denn die “Fakten sind die Pflastersteine mit denen wir die Strassen unserer Analysen bauen.” wohin die strassen führen, weiss man nicht mit bestimmtheit, schreibt er im vorwort, ihre wegmarken in vergangenheit und gegenwart jedoch müssen unerbitterlich geprüft sein.

das jüngste jahrzehnt nennt der beobachter seiner zeit auch das des faktenarrangements. genauso wie polittechnologen in moskau würden meinungsmacher in washington daran arbeiten, die grenzen zwischen realität und virtualität zu vernebeln, um, unterstützt durch möglichst viele, möglichst lang an der macht zu bleiben. seine geschichte der gegenwart entstehen als reportagen oder essays im dreiklang von recherche, lokaltermin und reflexion. an seiner universität in oxford gibt es riesige bibliotheken, fachkollegInnen für alles und studierende aus der ganzen welt. das ist seine primäre basis. die sekundäre entsteht am ort des geschehens, dem grössten privileg der zeithisgtoriker. schliesslich zieht er sich in sein arbeitszimmer zurück, um in ruhe schreiben und die tertiäre grundlage seiner bücher zu legen.

was dabei herauskommt, ist ein kaleidoskop der gegenwart, besser noch der verschiedenen gegenwarten. mit “Ein Jahrhundert wird abgewählt” resümierte er schon die 80er jahre des 20. jahrhunderts; es folgte die “Zeit der Freiheit” über das nachfolgende jahrzehnt. seiner neuesten dekade mag der gelehrte noch keinen wirkliche namen geben, denn ihr charakter wie auch ihre dauer seien noch unbestimmt. vorläufige stichworte sind der aufstieg nichtwestlicher mächte, insbesondere chinas, die herausforderung durch die erderwärmung und die krise des kapitalismus. die usa hält er trotz des neuen präsidenter barack obama für die wahrscheinlichste verliererin, gefolgt von europa, das zu wenig bereit sei, zu merken, was rund herum geschehe.

wer bis 2020 warten mag, liest dann vielleicht die erste würdigung des jahrzehnt der lügen, wie man es trotz allen bedenken einmal nennen könnte. die fakten hierzu kann man jetzt schon haben, ordentlich strukturiert in 50 essays zu “samtenen revolutionen”, “europa und andere kopfschmerzen”, “islam, terror und freiheit”, den “usa”, dem “jenseits des westens” und zu “schriftstellern und tatsachen”. beispielsweise wie orwells biografie gekämt wurde und günter grass seine ss-mitgliedschaft lange verschwieg, um nur zwei typischen fakten unserer gegenwart zu erwähnen, die lust auf mehr wecken könnten.

denn an einem so herrlichen herbsttag wie heute liest sich sich das buch, das timothy garton ash dem verstorbenen deutschen soziologen ralf dahrendorf zum 80. geburtstag widmete, ganz besonders lieblich …

stadtwanderer

von berta zu simonetta

feier für simonetta sommaruga in königlichen köniz – ein willkommener anlass, dem volk die freude über die kommende herausforderung zu erklären.

SCHWEIZ EMPFANG SOMMARUGA
bundesrätin sommaruga, einst gemeinderätin mit dem ressort feuerwehr bei der heutige feiern in köniz

einst war schloss köniz eine der legendären wirkungsstätten der burgundischen königin berta, die im 10. jahrhundert lebte. die prinzessin, die aus dem schwäbischen kam, wurde mit dem burgundischen könig rudolf ii. verheiratet, nachdem sich die stämme bekriegt hatten. die heirat sollte den frieden zwischen schwaben und burgund sichern. berta regierte lange recht allein im aaretal, denn ihr mann war während jahren in oberitalien als feldherr und herrscher engagiert. diese zeit hat den ausgezeichneten ruf der burgundischen königin begründet, die für katholiken, später auch für protestanten ein vorbild war, und es bis in die jüngste zeit im aare-, aber auch broyetal geblieben ist.

nun könnte berta eine nachfolgerin gefunden haben. denn mit simonetta sommaruga wurde vor einer woche eine könizerin zur neuen bundesrätin gewählt. die populäre konsumentInnenschützerin und berner ständerätin begann ihre politische karriere in der berner vorortsgemeinde, notabene der grössten schweizer stadt, die nicht im zentrum einer agglomeration liegt. zugezogen ist sommaruga mit ehemann lukas hartmann vor 14 jahren. bereits nach einem jahr wurde sie in die gemeindeexekutive gewählt. dann gelang ihr 1999 der sprung in den national- und 2003 schliesslich schaffte es die konkordanzpolitikerin auch, in den ständerat gewählt zu werden.

der auflauf im könizer schlosshof heute abend war riesig. es gab musik, ein paar ansprachen, dann wurde der apéro mit dem kalten buffet eröffnet. viel prominenz war da, aber auch viel volk. denn die könizerInnen mögen ihre neue bundesrätin, die zahlreiche gratulation von jung und alt, schweizerinnen und ausländern, taxichauffeuren und müttern mit kindern, parteigängerInnen und politischen gegnern entgegen nehmen durfte.

simonetta sommaruga machte heute einen glücklichen eindruck. sie strahlte ganz anders, als man das bundeshaus seit der departementsverteilung vom montag erlebt. alle, die gekommen waren, erwarten von ihr natürlich eine stellungnahme. doch ihre rede handelte von allem, nur nicht von dem. das dachte man wenigstens, bis sie zum schluss eine treffende anekdote erzählte. als sie vor 13 jahren in den gemeinderat, wie die stadtregierung von köniz genannt wird, gewählt wurde, übergab man ihr feuerwehr und zivilschutz. nicht wenige stimmen meinten, man habe sie dorthin abgeschoben. jetzt, wo alles vorbei sei, dürfe sie auch sagen, welche departement sie damals gerne gehabt hätte. “die polizei”, sagte sie voller stolz, um beizufügen: “jetzt habe ich sie, und freu mich darauf.” die erheiterung im publikum war gross.

eine pointe mit aussage und stil, dachte ich mir, kaum mehr wie die einer taffen feuerwehrpolitikerin, aber fast schon wie die einer sympathischen königin.

stadtwanderer

lüge, list und leidenschaft

eigentlich müsste christian levrat das buch “lüge, list und leidenschaft” kennen. den geschrieben wurde es von seinem noch-bundesrat moritz leuenberger. und er versteht genau diese drei sachen als basis für sein plädoyer für die politik.

index.htmlich will es gleich sagen: die rochade überraschte – auch mich. denn es kam anders. in der ersten verteilung wechselten die bisherigen aufgrund des gewohnheitsrechts dem amtsalter nach. von doris leuthard und von eveline widmer-schlumpf wusste man um ihre präferenzen. vielleicht dachte man, sie würden es nicht machen, den es war viel von stabilisierung die rede. doch dann machten sie es. aus eigeninteresse, wahrscheinlich. so blieben das evd und das ejpd. hätte man weiterhin nach anciennität entschieden, wäre sommaruga jetzt evd-chefin, und schneider-ammann bundesrat im ejpd. das hat man nicht, und das ist ohne zweifel ein regelverstoss. das unschönste am ganzen ist, dass man das per mehrheitsentscheid von 5 zu 2 oder von bürgerlich vs. sozialdemokratisch bewerkstelligte. das verärgert, verletzt, verhärtet. damit war der anfang der neuen regierung um keinen deut besser als das ende der alten.

nun gibt es sachfragen, die man in der politik allgemein verbindlich regeln muss. da sind die allianzen generell auf auf der links/rechts-achse, auch auch auf der zwischen moderne und tradition polarisiert: aussen- und europapolitisch geht es in der regeln nicht ohne mitte/links. da hat die sp unverzichtbar ihren platz. teilweise gilt das auch bei infrastruktur und bildungsfragen, die uns bestehen im vergleich zum ausland bestimmen. innenpolitisch, vor allem in wirtschafts-, finanz- und sozialfragen regiert dagegen mitte/rechts. und das nicht erst seit vorgestern.

es gibt aber auch machtfragen. denn politik ist das ringen um die macht. demokratische politik hat an den regeln der machteroberung zu halten. das heisst nicht, dass sie nicht leidenschaftlich sein soll. das heisst auch nicht, dass sie nicht mit list betrieben werden. es heisst jedoch, dass man nicht lügen soll! vor allem nicht unter partnern!

fulvio pelli ist vielleicht kein politiker der leidenschaft. ein taktierer ist er jedoch mit sicherheit, wohl auch ein listiger. christian levrat steht ihm da in nichts nach, und er kann leidenschaftlich sein, im guten und weniger guten, wie er am montag bewies. die frontalattake auf die person vom montag abend liess erahnen, dass sie nicht ohne folgen bleiben würde. doch das ist letztlich die sache der beiden, denn pelli hat die türe zugeschlagen, aber auch einen spalt offen gelassen. das kann man nutzen oder auch nicht. wenn man sie nutzt, muss man harte beweise haben, oder risikiert für sich und sein partei viel.

simonetta sommaruga im ejpd ist für die sp mit sicherheit eine herausforderung. das war auch bei otto stich im finanzdepartement so. denn das volk will sparen, die bürgerlichen schauen eine genau finger und trotz allem wurde aus stich ein anerkannt guter kassenwart. warum soll aus sommaruga keine gute justizministerin werden? weil sie keine juristin ist! das mag nach innen ein problem sein, doch dafür hat man beamte. frau widmer-schlumpf wurde mitunter gerügt, zuviel juristin zu sein, etwa bei der minarettsinitiative, die politische dimension der debatte zu verkennen, weil sie in der frage nur ein bauproblem für untergeordnete behörden sah. eine nichtjuristin im ejpd könnte auch mehr sinn entwickeln für asylfragen, wo es auch, aber nicht nur um verfahren geht. von links kritisierte man lange genug den mangel an integrationspolitik. diese zu realisieren gehört beispielhaft zur genannten herausforderung der sp im ejpd.

wenn man vexiert ist, nur “unwichtige” departement zugestanden zu bekommen, muss man aus ihnen mehr machen. das uvek galt lange als unbeliebtes einsteiger-departement. heute ist es eines zentralen. das gleiche gilt eingeschränkt für die aussenpolitik – lange die nebensache der schweiz. heute weiss jede und jeder, dass es das potenzial hat, eine zentrale schaltstelle zu werden. ich mag das geheul nicht, die sp habe nur das eda und ejpd, wann wolle keine nützlichen iditoten sein. denn man hat spielräume in jedem departement- und man hat die gleich stimme im bundesrat.

ich rate christian levrat, zu sachfragen zurück zu kehren: hart zu fordern, und etwas flexibler als bisher auf angebote einzusteigen. immer nur pokern wie bei staatsvertrag, kann auch verhärten und zum bumerang werden. ich rat dem sp-präsidenten auch, das programm zu verbessern, denn die sp zog keinen nutzen aus der krise, verliert aber wählerInnen in die mitte. ich rate ihm schliesslich auch, die machtfragen etwas sensibler zu analyiseren, dann die zeit der einfachen polarisierung von links oder rechts ist vorbei, seit es im bundesrat wie unter den parteien eine allianz der mitte unter ausschluss von sp und svp gibt. diese wurde lange genug belächelt, in sachfragen hat sie sich schon mal bewährt, und jetzt hat sie machtvoll zugeschlagen!

mit leidenschaft – ganz sicher!
mit list – ohne zweifel auch!
ob auch mit lüge, wird man sehen.

denn den vorwurf hätte man auch neutraler ausdrücken können. denn auch moritz leuenberger spricht in seinem buch nur in recht allgemeiner form über die lüge und lügner – um abrechnungen zu vermeiden und für politik plädieren zu können. zum beispiel für vor den nächsten wahlen, um dann zu entscheiden, wer drinnen sein darf und wer aussen vor.

stadtwanderer

piano – forte (musikalisch und politisch)

“piano, piano”, hiess es in den letzten wochen des öfteren, wenn man über die alpen hinweg vom bundesrat sprach. zu viel geschirr sei zerschlagen worden, bald gehe es ums familiensilber. wer davor zurückschrecke auch das zu verscherbeln, müsse sich ums kitten der kaputten teller und tassen bemühen – stück für stück. wohl auch deshalb wählte man vor einer woche eine pianistin in den bundesrat, eine, die weiss, dass der ton die musik macht.

18952f81-4a82-4bf9-b777-5c6667aeaf16begleitmusik spielen oder in die tasten hauen? bundesrätin sommarugas entscheidung für die zukunft.

und nun dies: der bundesrat entschied heute über die departementsverteilung mit einem aufwühlenden mehrheitsentscheid. doris leuthard geht ins uvek, eveline widmer-schlumpf ins efd. calmy-rey wiederum durfte, obwohl amtsälteste, nicht finanzministerin werden, genauso wie man nicht zuliess, dass maurer sich vorzeitig aus dem vbs abmelden konnte. burkhalter wiederum, gerade mal ein jahr im amt, muss sich zuerst einmal im edi bewähren, bevor er neues ins auge fassen darf.

dann holte man die beiden neuen hinzu, sommaruga und schneider-ammann. jene ist formell amtsälter, denn sie wurde zuerst gewählt, dieser amtsjünger, sodass er als letztes wählen konnte. zu haben waren das evd und das ejpd. da sagte die konsumentInnen-schützerInnen, die volkswirtschaft, das würde ihr liegen. und der unternehmer stand nicht zurück, auch ihm käme das gerade recht. so musste man abstimmen, womit statt an der berner harmonie gearbeitet wurde, unüberhörbare misstöne quer durchs bundeshaus ausgesendet wurden.

vergeigt ist es für maurer, sommaruga und calmy-rey. jener bleibt im vbs in gut bewachter isolationshaft, ohne dass er dort eine autochtone volksarmee aufbauen darf. sommaruga droht ähnliches im ejpd, sollte sie auf die idee kommen, linke integrationspolitik zu betreiben. calmy-rey wiederum durfte nicht, was widmer-schlumpf durfte, was nur eines heisst: eine der beiden darf noch länger im bundesrat bleiben.

gewonnen hat heute die allianz der mitte. in der sachpolitik gibt es dafür einige gründe, denn in der politik braucht man mehrheit, die am besten aus der mitte heraus entstehen. die verbindung des zentrums basiert indessen nicht auf einer parlamentarischen mehrheit. zwar haben fdp, cvp und bd im ständerat eine komfortable mehrheit, wenn sie sich arrangieren, im nationalrat können sie aber von svp, sp und grünen jederzeit blockiert werden. in der ubs-frage zeigte sich schon mal, was sich bei der 11. ahv-revision wiederholen und bald schon generell schule machen könnte.

anstatt an der konkordanz-strategie weiter zu arbeiten, lautet die devise der zentrumsverbindung: die svp wird ins probejahr geschickt und die sp auf strafbank gesetzt. mit piano-melodien hat das wenig zu tun. denn es kam kräftig, stark und laut zum ausdruck, was der neue tarif ist. in der musiksprache nennt man das klar und deutlich “forte”.

nun wird sich zeigen, wer am besten klavier spielen kann. denn das instrument heisst nicht piano, wie viel gerne meinen und dabei den wahren namen übersehen, der schon immer pianoforte lautete.

stadtwanderer

freude herrschte!

die macht des bildes wird durch das lächeln bestimmt. eine geschichtliche betrachtung zu drei phasen schweizer bundesratsbilder.

bundesraete_teaserFullPicture_1_7673878_1285331437quelle: nzz (alle fotos im original an- sehen)

vor genau fünfzig jahren duellierten mit richard nixon und john f. kennedy zwei amerikanische präsidentschaftskandidaten erstmals live im fernsehen. zahlreiche mythen ranken um diesen sendung, denn in der wahl obsiegt der demokrat kennedy vor dem republikaner nixon. zu diesen gehört, nixon habe die wahlen nur wegen des tv-auftritts verloren.

was auch immer: politik wurde damit zum ereignis – zur medial verdichteten handlungsabfolge, von der man erwartet, dass sie eine konsequenz haben würde. mit der handlungsabfolge verlagerte sich die beurteilung von der sache zum bild, vom verbalen zum non-verbalen und vom inhalt zur form. damit stieg die bedeutung der person als kommunikator, ihr visuelles profil begann das politische zu konkurrenzieren.

es waren schon damals die printmedien, die das ganz verstärkten, die im nachgang zu fernsehduelle von den usa bis zum leutschenbach beschäftigt sich der boulevard vor allem mit dem äusserlichen: dem fahlen nixon gegenüber den sunnyboy kennedy, dem gepudertem gegenüber dem geschminkten und dem unrasierten gegenüber dem rasierten. und immer gewann der demokrat über den den republikaner.

seither die macht des bildes selbst in der so textlastigen nzz gelegentlich ein thema. denn wir reagieren anders auf politische botschafter als auf politische botschaften. heute ist man sich einig, dass die personalisierung der politik bei wahlen entscheidend ist. die person steht aber nicht einfach für sich. deshalb wählen wir nicht nur politikerInnen, die dem gegenwärtigen schönheitsideal entsprechen. man schaue nur in die parlamente. vielmehr vermittelt die person die glaubwürdigkeit des inhalts. sie wird zur vermittlerin der werte hinter den inhalten, denn diese vergessen wir oft zu schnell, während uns das gesicht mit der lebenswelt des menschen, den images von kandidatInnen und den idealen oder ideologien ihrer parteien bleiben.

denn männer mit brille erinnern uns nicht an die gleichen hintergründe wie männer mit schnauz. ihr blick verrät etwas über ihren geisteszustand, ihre frisur aber etwas über ihre vorbilder. das alles wird verstärkt durch durch kleidungsstücke, weil uniformen, anzüge, halsbinden, krawatten und fliegen trägt man nicht ohne, dass man etwas stilisieren will. und sei es nur schon, dass man damit seine ländliche verbundenheit oder urbane kultur zur schau tragen will. das alles wird durch das geschlecht der politikerInnen verstärkt. nicht nur, weil männer anders auf frauen reagieren als frauen – und umgekehrt. nein, immer auch, weil ihr geschlecht eine botschaft über den sozialen wandel und dessen verarbeitung in einer partei ist.

mehr als 1000 worte sagt schliesslich das lachen auf bildern. die bundesräte in der gründungszeit des bundesstaates, die noch kaum abgebildet wurden, bemühten sich, mit einer strengen miene ernsthaftigkeit mitzuteilen. mit ihrer medialisierung vor 50 jahren entstand eine zweite generation von politikerInnen. denn nichtlachen wurde jetzt zur langeweile. die gesichter müssen seit mehr ausdrücken, aufmerksamkeit erheischen, gewinnend im wahrsten sinne des wortes werden. friedrich traugott wahlen, einer der sieben in der ersten zauberformel-regierung von ende 1959, wusste das am besten. der populäre agronom, der erfinder der anbauschlacht, war schon vor seiner zeit als politiker zur legende geworden, denn der professor stand wie kein anderer für durchhaltewillen im zweiten weltkrieg, der es uns erlaubte, mit vorteilen in die nachkriegszeit aufzubrechen. die so gewonnene zuversicht drückte sich in einem verheissungsvollen lächeln auf dem offizielle bundesratsfoto aus, das ihn als ersten so klar von der griesgrämigkeit seiner vorgänger abhob. ruedi gnägi, dem die soldaten das einzig positiv stimmende kleidungsstücke unter den armeeuniformbestandteilen, den olivfarbenen rollkragenpullover (“gnägi-liibl”) verdanken, war der erste, der fröhlichkeit zur hauptbotschaft seiner visuellen kommunikation machte, während die kunst des lachens als bestandteil der politischen kommunikation mit micheline calmy-rey ihren höhepunkt erreichte. einigen vor und nach ihr missriet der hochgezogene mundwinkel auf dem staatsmännerbild gründlich. zum beispiel georges-andré chevallaz, der bis heute leicht angeheitert wirkt, oder hans-rudolf merz, der schon damit zur kultfigur des comics avancierte.

doch könnte aus dem freude herrscht von adolf ogi, dem medienbundesrat à la kennedy par excellence, ein freude herrschte geworden sein. denn es scheint so, dass wir heute eine dritte generation von politikerInnen vor uns. das mindestens kann man vermuten, wenn man sich die drei jüngst gewählten bundesrätInnen per fotoo ansieht. nach der hypermedialisierung im bundesratswahlkampf scheint das lachen didier burkhalter, simonetta sommaruga und johann schneider-ammann abhanden gekommen zu sein. das ist schon bald unser halber jetziger bundesrat, sodass ich gespannt bin, was wir dereinst daraus über die genannten, ihre politik und unsere zeit lernen.

stadtwanderer

politzentrum bern gestärkt

es war mit sicherheit ein berner tag gestern. zuerst schaffte es simonetta sommaruga in den bundesrat, und dann zog johann schneider-ammann mit ihr gleich. sp und fdp sicherten sich damit ihre beiden sitze in der bundesregierung. die neuen kommen aus köniz und langenthal, beides mittelgrosse städte im kanton bern.

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die beiden neuen bundesrätInnen: aus köniz und langenthal, zwei berner städten

das ist ohne zweifel ein novum, dass zwei bernerInnen gleichzeitig im bundesrat sitzen. denn seit der einführung des proporzwahlrechtes und der umgestaltung der parteienlandschaft. war die bgb resp. svp darauf abonniert – und kurz profitierte auch die bdp davon. bis das alte machtzentrum des kantons zerfiel. nun hat die berner fdp ihren bundesrat aus dem 19. jahrhundert wieder zurück, und die sp des kantons erstmals eine direkte vertretung in der regierung. mit simonetta sommaruga stellt sie auch die erster berner bundesrätin. gestärkt wurden damit jedoch weder nationale noch kantonale siegerparteien, sondern persönlichkeiten mit übersicht, die über dem kleinklein der rechner und taktiker stehen.

auch wenn man die entwicklung der wahl und wahlgänge verfolgte, kam man nicht zum schluss, dass es strategie war, zwei bernerInnen durchzudrücken. beide gewählte setzten sich gegen starke parteiinterne konkurrenz durch, und ihre wahl galt bis kurz vor schluss als unsicher. erst gestern während der wahl zeichnete sich ab, dass die beiden die favoritInnen sein würden: wegen ihrem erfahrungsschatz, ihrer kompetenz, ihrem bisherigen auftritt und ihrer ausrichtung auf sozialpartnerschaft und konkordanz, würde ich mal sagen.

ich bin froh, dass das berner-argument gestern kein negatives mehr war. gewisse zürcher medien hätschelten den einwand mit vorliebe, und übersahen gefliessentlich, dass bei einer wahl von fehr zwei zürcherInnen im bundesrat gewesen wären. es überraschte, mit welcher hartnäckigkeit an der kantonsklausel festgehalten wird, obwohl sie mit der neuen bundesverfassung eliminiert worden ist, weil sie den entwicklung des 21. jahrhunderts nicht mehr angemessen ist. zwar gibt es unverändert eine aufgabenteilung zwischen bund und kantonen, doch wächst das politikgeflecht lokal, national und internationel zusehends zusammen. nicht einmal mehr bei den parteien wird die ausrichtung auf kantone privilegiert. die sp ist schon länger (intern)national, die grünen denken gar global, die fdp ist bundesstaatsgründerin, die cvp wäre es gerne, und die svp macht allen vor, wie man ein land aus einer hand steuern kann.

die geltende bundesverfassung hält nur noch die sprachregionen als kriterium für die repräsentation im bundesrat fest. das macht wohl unverändert sinn, denn von da geht die grösste kulturelle fragilität der willensnation schweiz aus. doch selbst da wurde in der formulierung eine weiche anforderung gewählt, müssen doch die vertretung angemessen sein. in der regel interpretiert man das als proportional über die zeit. damit ist auch gesagt, dass die regionen, die üblicherweise in bundesratswahlkämpfen kreiiert werden, keinen anspruch auf repräsentation haben. dass ist beim arc lémanique gegenüber der romandie so, wohl auch beim tessin gegenüber der italienischsprachigen schweiz, und die nordwestschweiz oder ostschweizer oder das bündnerland sind alles teile der deutschsprachigen schweiz.

wenn gestern zwei bernerInnen zum zug kamen, hat diese wohl eher mit ihrer biografie und ihrer entwicklung zu tun, die extremen polarisierung aller art mied. denn mit sommaruga wurde die konsumentenschützerin der schweiz gewählt, die es fertig gebracht hatte, als vertreterin dieses teils der wirtschaft populär zu werden, politisch links fuss zu fassen, und an die notwendigkeit des staates glaubt, ohne ihn zu vergöttern. und mit schneider-ammann setzte sich einer der vorzeigunternehmer des landes durch, der sich bewusst ist, dass man als das interessen hat und vertreten muss, der politik aber nicht darauf reduziert, und selbst als freisinniger punktuelle distanz zu den herrschenden ansichten seinen verbänden markierte.

bern soll sich, jenseits der kantönlidenkens, als politzentrum positionieren, fordere ich seit langem in der metropolitandebatte. diese geht ausdrücklich nicht mehr von kantonen aus, sondern funktionalen räumen, welche die wirtschaftliche basis des erfolgsmodell schweiz legen. sie weiss zwischenzeitlich aber auch, dass es eine politische einbindung der kraftfelder braucht, in der auch andere überlegungen als wirtschaftsinteressen ein rolle spielen. die geschichte des landes, ihre vielgestaltigkeit, ihre gewachsenheit mit strukturen, die dem föderalismus und der direkten demokratie rechnung tragen, gehören genauso zu schweizerischen eidgenossenschaft wie die zürcher banken, die basler pharma und die genfer uhren.

wenn gestern zwei aus bern gewählt wurden, dann deshalb, weil es zwei sind, die weder die wirtschaft noch die politik verabsolutieren, sondern, je aus ihrer sicht, den blick aufs ganze suchen. genau das ist es auch, was mich am politzentrum bern in der metropolitanen schweiz reizt. unverändert und wieder etwas optimistischer.

stadtwanderer

gewählt ist … simonetta-jacqueline schneider-sutter

der abend begann stimmungsvoll auf der terasse des alten tramdepots mit einem bier. die sonne verschwand hinter der stadt, zauberte noch ein wenig licht in den himmel, vor dem wenige wolkenschwaden gemächlich tanzten. nur das berner münster stand gerade in der landschaft, schon ganz dunkel, sodass keine details ersichtlich wurden.

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helles münster in dunkler stadt, die in allen farben den morgigen wahltag für den bundesrat erwartet

weniger schön war die aussicht im bellevue. zwar hatten sich viele leute zur vorwahlparty eingefunden. die parteipräsidenten waren da, das fernsehen, die radioreporter, die chefredaktoren der sonntagszeitungen, lobbyisten aus allen verbänden, soviele politologen wie noch nie, und unzählige politikerInnen aller couleur. doch auf die frage, was morgen geschieht, wusste niemand eine verbindliche antwort zu geben.

die cvp-frauen stritten darüber, welches die richtige strategie gewesen wäre. auf einen wahlsieg 2011 zu hoffen, erneut mit einem kandidaten anzutreten, oder der svp zu einem zweien bundesrat zu verhelfen? der konjunktiv verweis darauf, dass man sich nicht einig geworden war. nicht einmal urs altermatt, der grosse regierungsexperte der schweiz, der cvp nahe stehend, wusste diesmal rat. besser hatte es da hans grunder von der bdp. man sei für die beiden berner, sagte er wohlwissend, dass der rosstall, den er dafür in ordnung bringen musste, noch kein nationales gestüt ausmacht. “glauben sie wirklich”, dass das parlament zwei berner wählen wird, gab doris fiala von der zürcher fdp zu bedenken. mein einwurf, morgen hätten wir entweder 3 welsche, 2 berner, 2 züricher oder 5 frauen im bundesrat, erstaunte sie. so habe sie sich das noch nie überlegt, sagte sie und machte klar, dass sie für karin keller-sutter als wahllokomotive der fdp sei. die wiederum war ein der wenigen kandidatInnen im epizentrum der symbolischen politik des heutigen abends. elegant und eloquent wie immer stand sie radio und fernsehen in allen sprachen red und antwort. ganz anders als jean-françois rime, ihr möglicher herausforderer von morgen, der bekannte, ein echter welschfribourger zu sein. wenn er auf deutsch etwas nicht verstehe, habe das aber nichts mit der sprache zu tun, sondern mit der mentalität. von mentalität sprach man auf der linken seite nicht, eher vom wandel. denn bei den sozis war man sich sicher, eine der beiden kandidatinnen ins ziel zu bringen. selbst wenn man leise präferenzen für die eine oder andere hatte, fast alle beschworen die parteieintracht, wonach es wichtig sei, als gleichstellungspartei morgen für die erste frauenmehrheit im bundesrat besorgt zu sein. bei den grünen gab man sich etwas kleinlauter. man wähle wyss solange frau könne, bekundete jo lang, und wenn sie scheitere, sei vieles offen wie bei alec von graffenried. der sei einen tag für und eine gegen schneider-ammann, und dasselbe auch bei sommaruga. da war bastien girod ehrlicher, als er sagte, er könne sich auch rime als bundesrat mit grünen stimmen vorstellen.

ich war den ganzen abend mit blogger mark balsiger uf dr gass. es musste den coolen prognostiker der morgigen wahl permanent geschüttelt haben, soviel unanalytisches aufnehmen zu müssen. und so schwört er weiterhin auf seine 17 faktoren, die eine person zur bundesrätin oder zum bundesrat machen würde. konkret setzt er auf fehr und schneider-ammann. das ist, wie ich an diesem abend unschwer erkannte, die eine der häufigen prognosen für morgen. die andere lautet schön komplementär sommaruga und keller-sutter. selber wurde ich den eindruck nicht los, dass heute abend niemend wirklich den überblick hatte, weil die wichtigste partei die katze nicht aus dem sack liess: die svp will erst am mittwoch morgen um viertel nach sieben entscheiden, was sie macht, wenn ihr kandidat, der freiburger nationalrat rime ausscheiden sollte. gehen die 66 stimmen der grössten fraktion unter der bundeskuppel auf geschlossen eine der sp-frauen oder der fdp-kandidatInnen, dann ist diese person sicher gewählt. wenn nicht, gehen die wahlpräferenzen quer durch alle fraktionen hindurch, sodass der einzige sichere tipp für morgen ist: gewählt ist simonetta-jacqueline schneider-sutter.

wenigstens an der bellevue bar, fasse ich meine erkenntnisse zusammen, als ich heraustrete und die ganz eingedunkelte stadt sehe, die sich schlafen legt. nur der münsterturm ist erhellt, doch schweigt der, denn er hat morgen nichts zu sagen …

stadtwanderer

die macht der langen formeln

um es gleich zu sagen, den begriff der “nacht der langen messer” mag ich nicht. vielleicht ist das der grund, warum ich nach einem neuen terminus für den letzten moment vor bundesratswahlen suche.

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einsteins formel für energie – die berühmteste aller formeln der welt. mark balsiger macht sich auf den weg, eine solche für schweizer bundesratswahlen zu entwickeln – auch wenn es etwas länger dauert und sie etwas länger ausfällt.

die wortbedeutung der “nächtlich langen messer” ist in deutschland tod-ernst: denn 1934 liess hitler die sa-spitze ausschalten. anlass war die unterstellung, ernst röhm plane einen putsch gegen ihn. 200 menschen starben, als hitler seine vermeintlichen feinde des nachts kaltschneuzig ermorden liess.

was in der schweizer ausgabe der “nacht der langen messer” geschieht, nimmt sich demgegenüber gerade zu harmlos aus. denn es geht darum, ob die offiziellen bundesratskandidatInnen im letzten moment noch gestürzt werden, durch wilde bewerberInnen, durch herausforderer oder durch konkurrentinnen, die schliesslich obsiegen.

legendär ist vorwahlnacht des jahres 1983. damals lancierte der baselbieter freisinnige felix auer die wahl des solothurner sp-vertreters otto stich in den bundesrat. auf der strecke blieb lilian uchtenhagen, die favoritin der partei. die düpierte führungsriege der sp erwog, in die opposition zu gehen. helmut hubacher versprach, schampar unbequem zu werden. die parteibasis folgt ihm nicht, denn für sie war der direkte zugang zu entscheidungen wichtiger als der kampf um grosse worte.

unbestrittenes epizentrum ist seither die bellevue-bar. das fernsehen ist da, das radio auch. spekuliert wird in allen landessprachen. wer den tarif durchgeben oder ihn mit gerüchten einnebeln will, trifft gegen halb zehn ein. denn in der sendung 10vor10 ist man life mit der fernsehnation verbunden, und was dann nicht gesagt ist, dreht in der nacht nicht weiter. wer das richtig zu interpretieren weiss, kommt der sache schon nahe.

doch bei weitem nicht jedes mal kommt es zum sichtbaren coup: insbesondere in der nacht vor der abwahl von christoph blocher blieb fast alles ruhig in der bundesstadt. in keine bar tat sich was. bis es am anderen morgen in windeseile aus dem welschen radio drang, es gäbe einen plan gegen christoph blocher.

hochspannend war die nacht vor der bundesratswahl 2008. damals ging es um die frage, wer nach der selbstgewählte opposition neuer vertreter der svp werden würde. die spekulationen schossen mächtig ins kraut, bis sich hansjörg walther als möglicher wilder kandidat gegen die parteikandidaten maurer und blocher outete. natürlich wusste er, dass er die stimmen weitgehend aus den anderen reihen bekommen würde, sodass er sich am ende nicht getraute, für sich selber zu wählen. schliesslich fehlte ihm genaus (s)eine stimme. bundesrat wurde ueli maurer.

wer morgen schon wissen will, ob rime chancen hat, zweiter svp-bundesrat zu werden, oder wen es wunder nimmt, ob sich sp und grüne wirklich in den haaren liegen, beginnt die nachtwanderung in den hochburgen der parteien. die svp ist traditionellerweise im hotel kreuz oder im hotel bären. die fdp zieht das café fédéral vor, während die cvp gleich nebenan bei chez edy gastiert, allenfalls auch einen flügel in der casa di’italia hat. rotgrün wiederum tummelt sich am liebsten im café diagonal. erst dann geht zur schönen aussicht ins bellevue.

einen wird man dort kaum sehen. wahlkampfforscher und pr-berater mark balsiger verzichtet ganz auf das stimmungsbild vor ort. dafür lässt er seinen computer rechnen. den füttert er zu 17 faktoren, die den wahlausgang bestimmen sollen, mit daten zu allen kandidatInnen. die macht seiner langen formel übertrifft alles, was man in der nacht der langen messer erfahren kann: denn gewählt sind gemäss wahlkampfblog jacqueline fehr und johannes schneider-ammann …

stadtwanderer

“mehr war da nicht dran …”

morgen, samstag abend, erscheint die neueste gesamtdarstellung der schweizer geschichte. autor thomas maissen gibt in der “zeit” dieser woche eine übersicht. zentral ist seine (neu)interpretation der folgen des westfälischen friedens, mit dem der 30jährige krieg beendet wurde.

DIG_3524_babschluss des soldvertrages 1663 zwischen könig louix xiv. und den eidgenossen, angeführt vom zürcher bürgermeister waser (bild: schweizer landesmuseum).< man erinnert sich vielleicht noch an den geschichtsunterricht. da lernte man: im schwabenkrieg von 1499 sei die schweiz de facto unabhängig vom kaiserreich geworden, und 1648, nach dem 30jährigen krieg, auch de jure. an diesem "bis heute mächtigsten Mythos ist nichts dran", sagt thomas maissen, bündner, schweizer, europäer, der in heidelberg geschichte lehrt. jahrelang hat sich maissen mit dem werden der republic beschäftigt, wie sich die eidgenossenschaft seit dem 17. jahrhundert definierte. ein voluminöses buch ist daraus geworden, dank dem der historiker professor in luzern wurde, bevor er nach heidelberg wechselte. morgen abend soll eine handliche buchfassung erscheinen, welche den neuen blick auf die ganze schweizer geschichte ausbreiten soll.

tatsächlich gewährte der kaiser 1648 den 13 orten der eidgenossenschaft die exemption. damit trat die schweiz nicht aus dem kaiserreich aus, sagt maissen; sie bliebt bis zur auflösung 1806 ein bestandteil von ihr. doch sie wurde von der reichsgerichtsbarkeit ausgenommen – ein privileg, wie es zahlreiche im reich gab, und sie der eidgenossenschaft auch schon früher zu teil geworden waren.

druck machten damals vor allem frankreich und schweden. letzteres setzt sich für die volle gleichstellung der reformierten gegenüber den katholiken ein, eine der leistungen am ende des 30jährigen krieges, die in der schweiz jedoch erst 1712 voll eingeführt wurde. frankreich wiederum war an der schwächung des kaiserreiches interessiert, um selber profitieren zu können.

schrittweise setzte sich in der eidgenossenschaft des 17. jahrhunderts die französische souveränitätslehre als alternative zur reichsidee durch. 1674 erklärt sich die tagsatzung erstmals zum “neutralen standt” im reich. was früher als lauheit in gerechten kriegen zwischen gut und böse interpretiert worden war, wurde so zum völkerrechtlichen prinzip erhoben. souverän zu sein hiess, das recht zu haben, tradierte treuepflichten gegenüber dem kaiser nicht mehr beachten zu müssen.

das war durchaus im französischen interesse und geschah auf druck des hofes in versaille hin: denn damit verbunden war, dass die eidgenossenschaft ihre damals wichtigste exportware, die söldner, frei an den französisch könig und damit den feind des kaisers liefern durfte. viel geld gabs dafür, dass der könig nun 16000 mann ausheben durfte, seine truppe durch die eidgenossenschaft marschieren konnten, und er bei händeln war schiedsrichter. sein vertreter war der berühmte ambassadeur solothurn.

angefangen hatte alles mit der schlacht von st. jakob an der birs im jahre 1444, als im alten zürich krieg 1500 eidgenossen 40’000 französischen armagnaken unterlagen, die den kaiser im kampf gegen die eidgenossen unterstützten. der heerführer, dauphin louis, der spätere könig ludwig xi., leitete daraus erstmals das recht der französischen krone ab, in der eidgenossenschaft trotzreichszugehörigkeit söldner rekrutieren und sich in die inneren verhältnisse der eidgenossen zu dürfen. dieser anspruch erlebte im burgunderkrieg von 1475 bis 1477 seinen ersten höhepunkt, fand seine fortsetzung während der italienfeldzügen der franzosen, denen die eidgenossen von 1494 bis 1515 beistanden, und wurde mit dem soldvertrag 1663 zwischen dem sonnenkönig louix xiv. und den eidgenossen zum wesentlichen element der aussenbeziehungen.

zu thomas maissen neuinterpretation gehört, dass die neutralität der schweiz, nicht 1515 mit der niederlage in der schlacht von marignano begann. vielmehr wurde die neutralität 1691 vom schwyzer tagsatzungsschreiber im rahmen der soldpolitik der eidgenossen mit frankreich einprägsam besungen – wobei der liedanfang ins frühe 16. jahrhundert zurückverlegt wurde. mehr noch: mit dem neutralitätsverständnis, das sich im 20. jahrhundert angesichts der weltkriege so wichtig wurde, hatte das neutralitätsprinzip des 17. jahrhunderts kaum etwas gemein.

maissen beklagt das nicht lautstark, berichtigt es aber – verbunden mit dem hinweis, man sei damals nicht neutral, sondern handlungsunfähig geworden. denn das defensivbündins unter den eidgenossen, das sich zwischen 1353 und 1513 so spektakulär erweitert hatte, wäre angesichts der wachsenden spaltungen zwischen ost und west, stadt und land, alt-und neugläubigen schlicht auseinander gebrochen, hätte man sich am krieg zwischen kaiser des heiligen römischen reiches deutscher nation und französischem könig beteiligt. gleichzeitig bedeutet diese abstinenz aber auch, dass man an der idee, ein gemeinsamer, frühneuzeitlicher flächenstaat zu werden, nicht mehr weiter arbeitete, sondern die struktur der autonomen orte in einem militärbündnis belies.

wie gesagt: mehr war da nicht dran. weniger aber auch nicht.

stadtwanderer

hymne als geburtstagsgeschenk?

ist das nun das leicht verspätete geburtsgeschenk an die schweizerischen eidgenossenschaft: parlamentarier-singen zur schweizer hymne?


symbol- statt realpolitik: fussballer, mädels und kinder, die patriotisch mitsingen, sind die neuen vorbilder, statt gewählte, debatten und entscheidungen zum wohl aller, die in der schweiz leben?

für historiker ist klar: monarchien basieren auf der ehre, für die adelige ihr leben risikieren. republiken basieren auf der furcht der subjekte vor dem allgemeinen willen. und demokratie stützen sich auf den patriotismus der bürgerInnen.

doch ist all das heute ein wenig in verrruf geraten. fast wäre man gewillt zu sagen, der staat der gegenwart baut auf dem nutzen seiner mitglieder auf – und ist deshalb so schwach (geworden).

genau das will eine vorstoss, der heute nach dem ständerat auch den nationalrat passierte, wieder wettmachen. denn die parlamentarierInnen werden zur eröffnung von sessionen inskünftig wieder die schweizer hymne vorgespielt bekommen, wie das newsnetz vermeldet. ob sie mitsingen oder nicht, wird ihnen überlassen.

nachdem vor jahresfrist war ein solcher vorstoss aus den reihen der svp gescheitert, weil alle zum gesang verpflichtet wurden. nun hat man darauf verzichtet, und die sache von der waadtländer sozialdemokratin ada marra lancieren lassen. das sei unverdächtig, wurde heute im bundeshaus argumentiert. dafür freut man sich schon auf youtube zu sehen, wer nicht singen kann.

zum unverhofften geburtstagsgeschenk für die schweizerische eidgenossenschaft erlaube ich mir aber eine frage zu stellen: ist das nun die national-, bundes- oder landeshymne, zu der man da mitbrummen wird?

stadtwanderer

der heutige geburtstag der modernen schweizerischen eidgenossenschaft

abgestimmt hatte man eigentlich schon am 6. juni 1848. gemäss protokoll waren 15,5 kantone dafür, 6,5 dagegen. an stimmen zählte man 145’584 auf der ja- und 54’320 auf der nein-seite. doch erst am 12. september hielt die tagsatzung fest, die neuen bundesverfassung sei angenommen. seither gilt dieser tag als gründungstag der zeitgenössischen schweizerischen eidgenossenschaft.

P1010765dr. jonas furrer, der erste bundespräsident der schweizerischen eidgenossenschaft 1848, erinnerungsstatue in seiner geburtsstadt winterthur

das vergessen

von einer geburtstagsfeier ist heute allerdings nichts zu spüren. gut, die heutige “sternstunde geschichte” behandelte wenigstens das thema der nationalen souveränität und der internationalen einbindung der schweiz als staat und volkswirtschaft. kein wort verlor indessen bundespräsidentin doris leuthard heute zum thema, und auf der website des bundesrates findet man ebenso wenig dazu. funkstille, wie schon in den vorjahren!

vielleicht ist es die scham über die art, wie die erste volksabstimmung, mit der die schweizerische eidgenossenschaft zustande gekommen war. bis heute weiss man nicht, wie viele stimmberechtigte es damals gab. man kennt auch die beteiligung nicht. einzig, dass 199’904 gültige stimmen registriert wurden, ist belegt. doch zählte man nicht einmal in allen kantonen gleich. in luzern addierte man die abwesenden zu den befürwortern, ganz nach dem motto, wenn man schon nein sagen durfte und es nicht tat, kam das einem ja gleich. krasser noch war die entscheidung im kanton freiburg. der mehrheitlich liberale grosse rat fürchtete das konservative nein des volkes, sodass er entscheid, die neue verfassung auch ohne volksabstimmung gutzuheissen.

das erinnern
hintergrund dafür war der sonderbundeskrieg von 1847 gewesen. zur verteidigung der föderalistischen eigenheiten souveräner kantone gegen die zentralistische vereinheitlichung zur nation schweiz hatten sich die mehrheitlich katholischen kantone zur wehr gesetzt. nach zwei schlachten der liberalen freischärler gab man den plan auf, in luzern mittels putsch ein liberales regime zu installieren. dafür schlossen sich die kantone luzern, schwyz, uri, nid- und obwalden, fribourg und valais zu einem geheim gehaltenen schützbündnis, dem sonderbund, zusammen. als dies 1846 bekannt wurde, kam es zu proteststürmen in den liberalen kantonen. die stimmung radikalisierte sich. kantone wie st. gallen kippten auf ihre seite, sodass man die nötige mehrheit hatte, den sonderbund per tagsatzungsentscheid aufzulösen.

der luzerner konstantin siegwart-müller appelierte nun ans ausland, insbesondere an die adresse österreichs. im innern machte er vorschläge, die kantonsgrenzen neu zu ordnen: so sollten das berner oberland und das simmental obwalden und resp. dem wallis, die katholischen bezirke des aargaus luzern angegliedert und glarus zwischen schwyz und uri aufgeteilt werden. zudem war ein eigener kanton pruntrut vorgesehen. damit war die konfessionalisierung des konfliktes komplett.

die tagsatzung ordnete darauf die kanton luzern, schwyz, fribourg und valais an, ihre jesuiten, sichtbare aushängeschilder der katholischen, auszuweisen. nach erfolglosen verhandlungen intervenierte sie unter dem genfer general henri dufour in luzern und fribourg militärisch. nach gut 3 wochen bürgerkrieg hatten sie noch vor weihnachten 1947 gesiegt.

im revolutionsjahr 1848 machte sich ein ausschuss der tagsatzung daran, auf den liberalen und radikalen kantonsverfassungen der regenerierten kantone eine bundesverfassung auszuarbeiten. das reformwerk wurde in kürzester zeit fertiggestellt und zur entscheidung vorgelegt, um eine grundlage für einen bundesstaat auf parlamentarischer ebene gründen zu können. anders 1798 war es diesmal keine ausländische macht, die eingegriffen und eine verfassung diktiert hatte. doch handelte man auch diesmal revolutionär: genauso wie der bundesvertrag von 1815 den aufgelösten sondernbund nicht zugelassen hätte, weil er sich gegen andere kantone wendete, hätte der bundesvertrag nur einstimmig aufgelöst werden dürfen.

der krieg und der sieg der liberalen und radikalen hatte dies alles obsolet gemacht. mit der volksabstimmung aber sicherte mobilisierte man die kraft der bürgerschaft und sicherter sich mit ihr auch die legitimation, den bund auf einer neue verfassung aufbauen zu können. der bundesvertrag von 1815, den der wiener kongress verordnet, aber auch garantiert und den die tagsatzung unter einem wechselnden vorsitz zu vollziehen hatte, endet mit der feststellung des abstimmungsergebnisses über die bundesverfassung am 12. september 1848. die unregelmässigkeiten der abstimmung in luzern und fribourg übersah man genauso grosszügig wie die opposition der sonderbundskantone, verstärkt durch ablehnungen der verfassung in appenzell ausserrhoden, zug und tessin. es waren eben revolutionäre zeiten.

aus dieser schweizerischen revolution gingen fünf zentrale institutionen des neuen bundesstaates hervor: die stände, das volk, die bundesversammlung, der bundesrat und das bundesgericht. der nationalrat repräsentierte das volk, und der ständerat machte das für die kantone. und: der austritt aus der schweizerischen eidgenossenschaft war nicht mehr möglich!

die historische würdigung
die historikerInnen würdigen den schritt von 1848 als mutigen fortschritt, der sich neu an der amerikanischen bundesverfassung mit den zwei parlamentskammern ausrichtete. einen eigentlichen präsidenten wählte man indessen nicht. abgestimmt wurde in der bundesversammlung einzeln über sieben mitglieder des bundesrates, die dann, für ein jahr, einen präsidenten aus ihrer mitte bestellten. zum sitz der bundesbehörden wurde bern erklärt. politisch wurde man keine nation wie frankreich, verabschiedete man sich aber auch von den souveränen kantonen nach österreichischem geheiss. über krieg und frieden entschied nun der bund, ebenso über staatsverträge und streitigkeiten im innern. wirtschaftlich orientierte man sich am gemeinsamen raum, und mit dem bundesgericht sollten die rechtshändel letztinstanzlich einheitlich beurteilten werden.

geboren war die schweizerische eidgenossenschaft als bundesrepublik, ohne dass sie diese bezeichnung je angenommen hätte. denn die orientierung an staatsrechtlichen begriffen war nicht das wichtigste, was es jetzt brauchte. vielmehr stand die konsolidierung des bundesstaates nach aussen und innen im vordergrund, denn der revolutionäre funke, der 1848 in halb europa ausgebrochen war, erschloss angesichts der konservativen reaktion der monarchen rasch, sodass die schweiz der einzige staat ist, der von dauer aus ihr hervor gegangen ist.

stadtwanderer

von urbanen halb- und hauptkantonen

die städte sollen via ständerat nicht besser in den willensbildungsprozess des bundes einbezogen werden, sagt die staatspolitische kommission des nationalrats. sie will keine städtischen halbkantone schaffen, schreibt im medienkommunique aber, sie wolle nicht, dass urbane “hauptkantone” entstünden …

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schweizer städte – ohne direkte vertretung in eidgenössischen parlament

die geschiche der städte in der (schweizerischen) eidgenossenschaft ist bewegt. im bündnissystem der alten eidgenossen spielten sie keine besondere rolle, konnten doch landgebiete, flecken und städte orte sein. mit der reformation änderte sich das schrittweise, denn diese reform hatte vor allem im urbanen gebiet von zürich, bern, basel, lausanne und genf erfolge, isolierte die städte aber von den katholischen umländern, später auch von den eigenen landgebieten. erst im 18. jahrhundert wurden bei konfessionen gleichgestellt, was den höhepunkt der städte im gefüge der alten eidgenossenschaft einleitete.

hätte sich die französisch inspirierte helvetische republik durchgesetzt, wäre die schweiz ein zentralistisch geführtes land mit städten als basis geworden. man weiss es: es kam anders, die liberalen bewegungen des 19. jahrhunderts waren von den kleinen städten und den landschaften getragen, vereint durch den willen, die vorrechte der städte zu brechen. sie prägten unsere gemeindevorstellung: egal ob es sich um einen weiler oder um eine stadt handle, alle seien sich gemeinden, die gleich behandelt werden sollten. der staatsaufbau seither ist föderalistisch: von der gemeinde, zum kanton, und vom gliedstaat zum bundesstaat, bestehend auf volk und kantonen, die gleichberechtigte sind, wobei das nicht nur auf die beiden institutionen angewendet wird, sondern auch auf alle 23 kantone, egal wie gross sie sind, und wann sie entstanden sind.

mit diesem system möchte der historiker hansjürg fehr, schaffhauser sozialdemokraten und seit vielen jahren im nationalrat erneut brechen. mit einer parlamentarischen einzelinititive verlangt er, dass die städte mit mehr als 100’000 einwohnerInnen neu den status von halbkantonen bekommen, und bei den volksabstimmungen als halb standesstimmen gezählt werden. zürich würde so zu 2 neuen ständerätinnen gelangn, nämlich zwei wie bisher für den kanton, und je einen für zürich und winterthur. der kanton würde gleichfalls zwei standesstimmen erhalten. eine für den kanton wie gehabt, und je eine halbe, welche die beiden genannten grossstädte determinieren würden. in bern, baselstadt, der waadt und genf gäbe es eine analoge veränderung, wenn auch moderater.

nun hat die staatspolitische kommission des nationalrats, die gestern tagte, diesem vorschlag eine absage erteilt. mit 17 zu 9 stimmen beantragt sie, der initiative keine folge zu leisten. anders als es die vertreter der metropolitanregionen sehen, die vor allem auf die demographische wie auch wirtschaftliche bedeutung der urbanen räume insistieren, welche politisch nicht repräsentiert seien, hält die vorbereitenden gruppe der volksvertretung fest, “dass dadurch das Gleichgewicht des schweizerischen Föderalismus gestört würde. Dieser beruht auf einem dreistufigen Aufbau von den Gemeinden über die Kantone zum Bund. Der direkte Einbezug der Städte in den bundespolitischen Entscheidungsprozess würde neue Ungleichheiten schaffen.”

das sind die offiziellen begründungen. staatspolitisch streng durchdacht, um vom bewahrenden geist geprägt. in der medienmitteilung schimmert an einer stelle aber die als angst durch, welche die diskussion wohl hintergründig blockiert – und zwar in einem hübschen tippfehler. denn, so steht geschrieben, würden die grossen städte neu nicht als “halbkantone” gezählt, sondern als “hauptkantone”.

stadtwanderer

krise der demokratie – kraft der demokratie

martin schaffner, emeritierter professor für geschichte an der universität basel, stellte seine eröffnungsrede zur heutigen tagung “wege zur direkten demokratie in den schweizerischen kantonen” unter das generalthema der “krise der demokratie” – und verkürzte damit die sache gerade als historiker.

843c13b33bangeregt wurde schaffner durch den europarat, der unter der leitung des schweizer politikers andreas gross jüngst ausgiebig über das gleiche thema debattiert hat. drei anlässe hätten den rat der euorpäischer völker alarmiert: die entpolitisierung der bürgerInnen, die sich nicht mehr beteiligen wollten, die demokratiepolitisch ambivalente rolle der medien und die institutionellen defizite der demokratie im zeitalter der globalisierung.

auch in der schweiz gibt es zwischenzeitlich eine kritische demokratiediskussion, konstatierte schaffner. so werde die intransparenz der parteienfinanzierung beklagt. partizipationsrechte blieben weitgehend an das bürgerrecht gebunden, und die relativierung des nationalstaates höhle die souveränität auch einer direkten demokratie aus.

das war eine harte einleitung – nicht zuletzt für einen historiker! denn die globale demokratiegeschichte verweist zurecht auf die spektakuläre ausdehnung der demokratie als regierungsform seit 1848. in mehreren schüben entwickelte sie sich zum weltweit verbreitetstes politischen system. sicher, zwischen den schüben gab es immer wieder krisen in der quantiativen ausbreitung, genauso wie in der qualitativen vertiefung der demokratie. und höchstwahrscheinlich befinden wir uns historisch gesehen in einer solche phase.

doch ist dies kein grund, sich auf den aufstieg und niedergang der demokratie einzustellen. eher zutreffend ist es, sich eine treppe vorzustellen, auf der phasen des aufstiegs solchen der stagnation folgen. damit wären wir heute auf einem solche plateau.

mir jedenfalls gefällt diese rhetorik besser als die des niedergangs. zwar sagt der plitikwissenschafter in mir, dass fast alle genannten symptome nicht falsch sind, doch treffen sie von mir aus den kern nicht. typisch dafür war heute, dass keiner der referentInnen in den panels auf die diagnose von schaffner wirklich einsteigen mochte. historikerInnen, die sich mit der demokratie beschäftigen, gehen generell davon aus, dass sich diese staatsform in der moderne, welche die amerikanische und französischen revolutionen begründete, ausbreitete und ausbreiten wird. vielleicht hat sie sogar vormoderne ursprünge, und ist sie unzerstörbar, denn sie bewältigt krisen durch selbstbeobachtung, und echte fehlentwicklungen korrigiert sie mit ihrer eigenen kraft letztlich seber. das ist ihre stärke.

stadtwanderer

einander auf augenhöhe begegnen

der kanton bern entscheidet am 26. september 2010 über das ausländerstimmrecht in seinen gemeinden. klaus armingeon, mitglied des initiativkomitees “zäme läbe – zäme schtimme” erklärte der bz von heute, warum er sich dafür einsetzt.

82021835-28289590neuenburg ging 1848 voraus, es folgte der jura bei der kantonsgründung. seither haben fribourg, genf und waadt das ausländerstimmrecht auf kommunaler ebene in ihre verfassung eingeführt. jetzt entscheiden bern und basel darüber.

heute gabs einen grossen bahnhof in bern. der neue deutsche bundespräsident christian wulff war im bundeshaus staatsgast. für den kleinen bahnhof verantwortlich war klaus armingeon, gebürtiger stuttgarter, der in thun lebt, seit 1994 an der berner universität professor für politikwissenschaft ist, und sich nach 12 jahren in der schweiz einbürgern liess.

die ausländerdebatte sei bisher entweder rechtspopulistisch oder sozialpädagogisch geführt worden. beides sei falsch, sagt armingeon und plädiert für eine emotionslose bestandesaufnahme: ein fünftel der bewohnerInnen in der schweiz sind ausländer. unter den erwerbstätigen ist es gar ein viertel. oder etwas vereinfacht ausgedrückt: jeder vierte franken in der schweiz werde von einem ausländer erwirtschaftet. doch damit nicht genug: die schweiz beschäftigt im europäischen vergleich überdurchschnittlich viele hoch qualifizierte ausländer, deren ausbildung im ausland erfolgte. die wirtschaft, das gesundheitswesen und die bildungsanstalten des landes würden ohne diese nicht mehr funktionieren, und die finanzierung der sozialwerke wäre gefährdet. so seine analyse.

die einbürgerung in der schweiz sei anspruchsvoll, meint der eingebürgerte. man müsse lange hier gelebt haben, hat viel aufwand und zahle dafür kräftig. das sei so und es werde wohl auch so bleiben. gerade deshalb ist er für eine beschleunigung der politischen teilnahme. die initiative schlage das mit dem stimmrecht auf gemeindeebene vor.

ihre annahme im kanton wäre ein positives signal, hofft der initiant. die gemeinden könnten dann selber entscheiden, was sie machen wollten. wer das stimmrecht ausdehne, könnte die ausländer mit der einbindung in die lokalen entscheidungsprozesse besser integrieren. damit könnte auch eine sachliche diskussion über ausländer in der schweiz angestossen werden. dies sein höchste zeit!

politischen zuspruch bekommt das komitee mit solchen argumenten von links, aus deren kreisen das volksbegehren stammt. widerspruch findet es auf der rechten seite. der grosse rat war mit 80 zu 71 recht knapp dagegen. zur meiner grossen überraschung, sprach sich auch die berner zeitung, die das interview führte, für die vorlage aus. sollte es am 26. september ein ja geben, ist damit zu rechnen, dass die grösseren städte des kantons das ausländerstimmrecht einführen, während dies auf dem land wohl nur zögerlich der fall sein dürfte.

doris leuthard, die bundespräsidentin der schweiz, meinte heute mit einem augenzwinkern zu ihrem kollegen wulff: die schweiz sei nicht nur die kleine schwester deutschland. die gute positionierung in zahlreichen rankings belege, man begegne deutschland auf augenhöhe. gerade das möchten zahlreiche ausländerInnen, die hier gut integriert sind, mit den schweizerInnen bald auch tun können, wenn es um fragen der schulen, des verkehrs, der fürsorge und der umwelt geht. denn steuern zahlen sie jetzt schon.

stadtwanderer

entstand die schweiz 1291? – ein provokativer vortrag

das thema ist ernst: ist die schweiz 1291 gegründet worden? darüber werde ich ende september in thun sprechen. denn das glaubte man 1891 ganz fest und feierte den geburtstag der schweiz ausgiebig. 100 jahre später liess sich das festen nicht einfach wiederholen. nicht zu unrecht, sage ich. denn 1791 gab es gar kein gedenken an einen solche gründungstag, genauso wenig wie 1691, 1591, 1491 und 1391. was also ist sache?

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geschichte hat einen doppelten wortsinn, wie golo mann immer wieder betont hatte: es ist das geschehene in früheren zeiten und die erzählung darüber in der jetzt-zeit. geschichte ist, woran man sich später erinnert, könnte man das auch nennen. darin spiegelt sich eben nicht nur die vergangenheit, sondern auch die gegenwart.

unsere erinnerung an “1291” entstand 1891 aufgrund des wunsches der nationalen einheit. bern feierte die legendäre stadtgründung von 1191; erstmals fanden sich die alten patriziergeschlechter und die neuen bürgerfamilien zu einem festakt zusammen. die angst vor der aufkommenden arbeiterschaft liess die alten gegensätze in den hintergrund treten.

der bund nahm das zum willkommenen anlass, ebenfalls ein versöhnungsfest zu veranstalten. freisinnige und konservative, die sich im sonderbundskrieg von 1847 noch mit waffen gegenüber standen, beendeten ihren politischen dauerzwist: der erste kk-vertreter wurde in den bundesrat aufgenommen, und die volksinitiative zur partialrevision der bundesverfassung wurde auf druck der konservativen zugelassen.

zudem wurden die unterschiedlichen gedächtniskulturen wurden zusammengelegt: der fortschrittgedanke der freisinnigen mit ihrem nationalen raumdenken verband sich mit der mythologe der innerschweiz, welche die unabhängigkeit der kleinen räume von allen herrschaften seit den habsburger vögten in der tell-figur bewahrt hatte. ferdinand holder hat dieser these mit seinem tellbild den treffenden ausdruck gegeben.

allerdings wurde der geburtstag der schweiz dazu von 1307 auf 1291 verlegt. historiker wilhelm öchsli begründete die verschiebung in einem eigens für den bundesrat geschriebenen geschichtswerk, indem er der älter auffassung des humanisten ägidius tschudi widersprach, der die gründung der schweiz auf 1307 durch den bund von brunnen datiert hatte. 1891 führte das zu einem tollen fest, 1907 indessen zu einem beschämenden besuch einer kleinen bundesratsdelegation an der kleinstfeier zum 600. geburtstag der schweiz.

der (de)konstruktivismus, der im gefolge von michel foucault seinen platz in der geschichtswissenschaft erobert hat, fragt golo mann radikalisierend nicht mehr, was war, sondern warum man sich wann an was erinnert. das ist eine ideologiekritische position, welche die produktionsbedingungen von geschichte in der jeweiligen gegenwart reflektiert. ich mag das, denn es hindert einen daran, geschichte für absolut zu setzen. allerdings bin ich kein ganz grosser anhänger der daraus auch abgeleiteten beliebigkeit von geschichten, wie das die postmoderne immer wieder auch propagiert.

mein vortrag in thun, soll zeigen, wie schweizer geschichte im bewusstsein darüber, dass sie immer auch schweizer gegenwart ist, aussehen könnte. hier nur die wichtigsten stichworte dazu: die politische gleichheit von mann und frau ist in der schweizer demokratie 1971 eingeführt worden. die direkte demorkatie ist von 1874, der föderalistische bundesstaat mit bund und kantonen datiert von 1848. moderne ideen begründeten 1798 die helvetische republik, die sich von vormaligen ancien regime so klar unterschied. 1648 wurde die eidgenossenschaft reichsunabhängig, und 1499 erkämpften sich die schlachtenbummler der verschiedenen orte ihren autonomen status im kaiserreich. davor war man rund 100 jahre kräftig (zusammen) gewachsen, denn war im mittelalter war, kann kaum als schweiz bezeichnet werden.

wer gar nicht an eine gründung der schweiz glaubt, der sieht sie entstehen und an ihren konflikten wachsen, wie dem waldsterben 1984, dem generalstreik 1918, der liberal-radikalen bewegungen nach 1830, der reformation von 1528 und dem investiturstreit 1076. denn die schweiz ist eine produktive verarbeitung von regionalismen, von religionsspaltungen, von ideologien, von sozialen auseinandersetzungen und von ökologiedebatten.

ich mache es klar: mit meinem vortrag zum fulehung will ich vor dem mittelalterverein thun die these begründen, dass die schweiz nie wirklich gegründet worden ist, sondern aus den gegengebenheiten heraus entstand. sie ist keine digitalfoto, die sekundengenau datiert werden kann, sondern ein farbbild, wie man es früher im wasserbad entwickelt hat. und: immer mehr fällt das licht der gegenwart in die dunkelkammer der vergangenheit, ohne dass es immer gleich scheinen würde. deshalb ändert sich auch die geschichte der schweiz von zeit zu zeit.

wohlan!

stadtwanderer

ps:
eine übersicht über all meinen vorträge bis ende jahr gibt es hier!

über einen geistigen vater des bundesstaates in luzern referieren

eingeladen am lehrstuhl für politische philosophie an der universität luzern, hielt ich heute im rahmen des kurses “philosophie im management” einen gastvortrag zum thema “politik-öffentlichkeit-medien”. bei einigen schritten in der lauschigen reussstadt habe ich mich des einzigen lokalen politphilosophen erinnert, der wesentliches zum werden des bundesstaates von 1848 beigetragen hat: ignaz troxler.

220px-Troxler_Portrait_1830die jüngst erschienen biografie, verfasst von daniel furrer, nennt troxler einen “Mann mit Eigenschaften”. in der tat war troxler ein früher und führender liberaler, der überall, wo er auftrat, aneckte.

1780 in beromüster geboren, schloss er sich noch während seiner zeit als gymnasiast den patrioten der helvetischen republik an, und wirkte er in luzern als vermittler zwischen franzosen und dortigen gemeinden. angewidert vom opportunismus vieler seiner zeitgenossen, quittiert er jedoch schon im zweiten jahr seinen dienst, um nach jena, später auch göttingen zu gehen, wo er gleichzeitig ein studium in philosoph und medizin bewältigte. dabei lernte er namentlich friedrich schelling kennen, den führenden philosophen nach dem tode kants und vor dem aufstieg hegels, dem er sein leben lang mehr oder minder verbunden blieb.

nach seinen studien wirkte troxler in der schweiz, namentlich in beromüster und aarau als arzt und lehrer, heiratete er wilhelmine polborn, prangerte er die gesundheitszustände in seiner heimat an, wurde er ausgewiesen, erhielt er angebote für professuren in deutschland, schrieb er pamphlete gegen die herrschenden, wurde er gar gefangen genommen, und musste während seinem unsteten leben den tod zweier seiner kinder erleben, bevor sie ins erwachsenalter gekommen wären.

doch dann beginnt troxlers aufstieg als professor, wird er doch 1819 ans luzerner lyzeum berufen, und avanciert er zum präsidenten der helvetischen gesellschaft. den einheimischen konservativen viel zu liberal, macht man ihm jedoch schon bald den prozess, wird er bespitzelt, bis er nach aarau, später freiburg im breisgau wechselt. wo er sich zum politischen philosophen wandelt. er studiert die amerikanische verfassung und erkennt in ihr das vorbild für eine neuordnung der schweiz. eine grosse bundesreform mit kantonen in einer gemeinsamen nation ist sein neues ziel.

parallel dazu schreibt troxler wissenschaftlichen abhandlungen, die ihm den weg zu einer professur an der basler universität eröffnen. da wird er fast umgehend rektor, gleichzeitig aber verdächtigung laut werden, der anführer der aufständischen landschäftler zu sein. man verbietet ihm, die stadt zu verlassen, stellt ihn gar vor gericht, wo er jedoch mangels beweisen freigesprochen wird. sofort flüchtet er, verliert er dadurch aber auch seine anstellung. im aargauischen freiamt wird der umgehend gefeierter grossrat des kantons.

1834 gründet troxler den nationalverein, dessen satzungen er selber verfasst, und nimmt er den ruf als professor für philosophie an der neuen universität bern an, wo er sich namentlich mit dem wachsen der schweizerischen verfassungen beschäftigt. immer mehr überholt ihn jedoch die reale politik, und auch die studenten entfernen sich schritt für schritt vom ihm, denn seine parteinahme für die katholiken in der konfessionalisierung der inneren polarisierung wird ihm von den fortschrittlichen kräften nun schwer angelastet.

1848 erscheint troxlers wichtigste politische schrift, nun stark gemässigt, mit der er nochmals die verfassungen der vereinigten staaten von amerika zum vorbild für den schweizer bundesstaat propagiert. seine grosse idee findet nur wenige wochen nach erscheinen des bandesd ihren niederschlag in der ersten bundesverfassung der schweiz, mit der ein politischer kompromiss zwischen liberalen und konservativen ideen wenigstens institutionell gesucht und gefunden wird, der von dauer sein sollte.

einer der geisten väter, ignaz troxler, zieht sich bald danach aus dem öffentlichen leben zurück. als schelling, ebenso wie troxler vereinsamt, während einer kur in bad ragaz stirbt, organisiert er dessen letzte ruhe auf dem örtlichen friedhof. seine frau stirbt vor ihm, er selber ruht seit den ersten märztagung 1866 in aarau.

um troxler, dessen leben mit den wirren des übergangs vom ancien regime zum bundesstaat fast deckungsgleich ist, dessen wirken als arzt vor allem von rudolf steiner und den antroposophen aufgenommen wurde, wurde es danach sowohl in der philosophie, dem staatsrecht und der politik, die er alle mitgeprägt hatte, merkwürdig still. ich glaube, keiner der studierenden, wohl auch nicht der dozierenden, die mir heute in luzern zugehört, kannten die geistigen mitbegründer des schweizerischen bundesstaates wirklich. bingo!

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die berühmteste zugsreise der europäischen geschichte und ihr geheimnis

eine seiner zwölf reisen durch das 20. jahrhundert führte geert mak durch den norden europas. von berlin aus ging es über kopenhagen, stockholm und helsinki nach petrograd. zeitlich ist sie der phase am ende des ersten weltkrieges gewidmet, dem grossen moment der russischen revolution.

LENIN STOCKHOLMlenin in stockholm (mit zylinder und schirm, beim empfang durch den bürgermeister der schwedischen hauptstadt während seiner reise von zürich nach petrograd)

vom sturz des zaren in st. petersburg erfuhr lenin am 15. märz 1917, dem sechsten tag des generalstreiks. mak nimmt das zum anlass, über die isolierung der bolschewiki im exil zu sinnieren. denn selbst die zürcher polizei interessierte sich mehr für seine nachbarn an der spiegelgasse 14, dem cabaret voltaire, wo künstler 1916 das ende der wahrheitssuche in der bürgerlichen gesellschaft verkündet und den dadaismus begründet hatten, als für den flüchtling vladimir iljitsch uljanov.

dass die prawda, die kommunistische wahrheit, 1917 in wenigen wochen von einer zeitung ohne eigene druckerei zu einem massenblatt mit täglich 40 ausgaben und einer gesamtauflage von über 350’000 exemplaren aufsteigen konnte, führt den autor unweigerlich zur frage, wie das finanziell möglich gewesen sei. die antwort darauf findet er im aufenthalt lenins in stockholm während seiner nordlandreise.

die letzte nacht in zürich verbrachten lenin und seine genossen im hotel zähringerhof. danach bestieg man den zug nach berlin, der plombiert durch das kaiserreich fuhr. das sollte garantieren, dass die kommunisten keinen kontakt zum feindesland haben würden.

in der tat hatte man die aber. denn berlin unterstützte die reise durchs kaiserreich, da man in der person von zar nikolai ii. einen gemeinsamen feind hatte. eine revolution in der zentrale des zarenreiches bot die möglichkeit, auf eine ende des zweifrontenkrieges, ja des krieges überhaupt zu hoffen.

nach der ankunft in der revolutionär gesinnten stadt, in der die liberale provisorische regierung die macht übernommen hatte, wandte sich lenin erstmals an seine zurückgekehrten bolschewiken. doch anders als sie es erwartet hatten, empfahl er ihnen mit den april-thesen nicht, die bürgerliche revolution weiter zu unterstützen, sondern gleich eine zweite, nämlich die sozialistische revolution der arbeiter und bauern vorzubereiten und den krieg mit deutschland zu beenden.

der wechsel der strategie in der russlands ist für geert mak so offensichtlich, dass es gründe hierfür braucht. denn in zürich, wo lenin am abend vor der abreise sprach, hatte er sich in seinem „brief an die schweizer arbeiter“ noch skeptisch über die chancen einer sozialen revolution im rückständig gebliebenen russland geäussert. nun wollte er sie im eilzugstempo realisieren.

den für die weltgeschichte entscheidenden moment der neubesinnung ortet der chronist bei den treffen der reisegruppe in stockholm. offiziell war man vom bürgermeister empfangen und von den medien bewundert worden. denn die hoffnung auf ein kriegsende ruhten nun ganz auf lenin. inoffiziell traf sich karl radek, der oesterreichische sozialist in der gruppe, mit alexander helphand, einen multimilionär mit sympathien für die komministen. lenin hatte er 1914, damals noch journalist, kennen gelernt.

nach dem kriegsausbruch war es helphand gewesen, der bei den kommunisten unter dem namen parvus bekannt war, der in berlin auf die gemeinsamen interessen der deutschen monarchisten und der russischen kommunisten hingewiesen hatte. in stockholm nun vermittelte er der radek die finanzielle unterstützung der revolution durch das auswärtige amt des kaiserreiches. die dokumente, die nach 1945 hierzu publiziert wurden, nennen 40 million goldmark, wovon mehr als die hälfte im ersten revolutionsjahr ausgegeben wurden, und der grossteil davon an die bolschewisten als kriegsgegner ging.

demnach kann man nach mak sagen: erst während der berühmtesten zugsreise der europäischen geschichte wurde der plan für die rasche revolutionierung der massen in russland gelegt. die oktoberrevolution und der ausbrechende bürgerkrieg zwangen russland zu einem separatfrieden mit deutschland, ohne dass dieses den krieg gewinnen konnte.

einen einfachen deutschen agenten sieht mak in lenin dennoch nicht. er sei durch und durch ein revolutionär gewesen, der dem kommunistischen umsturz alles untergeordnet habe und dafür bereit gewesen sei, mit dem teufel zu paktieren. seine allianz mit den deutschen sei eine gelegenheitskooperation gewesen, die beiden seiten zu einer bestimmten zeit nutzte, die aber jederzeit wieder beendete werden konnte.

das war dann auch nach kriegsende der fall. das kaiserreich zerfiel, an seine stelle trat die weimarer republik in deutschland, während aus russland die sowjetunion hervorging. revolutionsführer wladimir uljanov selber erlitt 1918 bei einem attentat schwere verletzungen, denen er schliesslich am 21. januar 1924 erlag.

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parteienanalyse im st. galler “wienerberg”

ich bin ein wenig zu früh auf dem st. galler unihügel. meine veranstaltung zur empirischen politikforschung in der praxis beginnt erst um zwei. “comparative politics“, ein dickes lehrbuch, das an der elite-uni in oxford herausgegeben worden ist, greife ich in der studentischen buchhandlung auf, um im restaurant “wienerberg” darin zu schmökern.

rwb_01restaurant wienerberg, wo ich mich auf die vorlesung an der hsg einstimme

herausgeber daniele caramani, direktor des st. galler instituts für politikwissenschaft, analysiert darin übergeordnete entwicklung der europäischen parteiensysteme wie folgt:

erstens, die nationalen revolutionen des 19. jahrhunderts spalteten die gesellschaft in zentren und peripherien, welche revolutionär resp. antirevolutionär waren. hinzu kam der gegensatz zwischen kirchengebundenen und säkularisierte kräften. in der schweiz drückte sich da im gegensatz von freisinn und katholisch-konservativen (heute cvp) aus.

zweitens, die industriellen revolutionen am übergang des 19. zum 20. jahrhundert teilten die menschen zwischen bauern und bürgern auf, aber auch zwischen arbeitern und unternehmern. in der schweiz sprengte das den freisinn, der einerseits in fdp un bgb (heute svp) zerfiel, anderseits die sp als eigene vertretung der arbeiterschaft entstehen liess.

drittens, die internationalisierung der politik im 20. jahrhundert brachte neue gegensätze: etwa zwischen kommunisten, welche die weltherrschaft anstrebten, oder in faschistische parteien, die sich an deutschland und italien ausrichteten. dauerhaft überlebt hat in der schweiz keine der parteien aus dieser spaltung.

die aktuelle transformation der parteiensysteme entwickeln sich nach caramani in zwei richtungen entwickeln: einmal sind mit den grünen postmaterialistische bewegungen und parteien entstanden, sodann sammeln sich die nationalkonservativen kräften in neuen parteien, oder verändern bestehende. die gegewärtigen wahlsieger der schweiz, die svp und die grünen, stehen für das ein wie für das andere.

vermittelt wird dies alles jedoch durch die eigenheiten des politsichen systems. in der schweiz entscheidend ist das konkordanzsystem, das sprachliche gräben überbrücken, konfessionelle gegensätze einebnen, bürger und bauern einander näher bringen will und die sozialpartner anhält, sich so weit wie möglich untereinander zu einigen.

am unversöhnlichsten prallen die standpunkte bei der aktuellsten konfliktlinie, dem gegensatz zwischen offener und geschlossener gesellschaft, aufeinander. die svp bildet den einen pol. die fdp und die sp den andern. letztere setzen auf offene grenzen, freien ökonomischen austausch, um wirtschftlichen fortschritt zu erzielen und befürworten multikulturelle gesellschaft mehr oder mindern. dagegen protestieren die vertreter der nationalen interessen immer deutlicher. aus internationalen organisationen wollen sie austreten, supranationalen verpflichtungen sind ihnen zu wider, denn sie werden als verlustgeschäfte zugunster globaler moloche gesehen, die nicht funktionieren. entsprechend setzt man auf die rechte und privilegien der autochtonen bevölkerungsteile, und bekämpft man das kulturelle andersartige.

wertesynthesen wie beiden grünliberalen, die den konflikt zwischen ökonomie und ökologie überwinden wollen, zeichnen sich hier noch kaum ab. am ehesten bei der bdp, der fall. die, von der svp herkommend, ihre politik ablehnt, und einen ausgleich zwischen der isolation der nationalkonservativen und dem neoliberalismus oder superetatismus der öffenungswilligen sucht.

voilà, das schützengarten-bier ist aus, das dicke buch von caramani noch lange nicht fertig gelesen, doch zeigt mir die uhr an, dass ich jetzt unterrichten gehen muss.

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samih sawiris soll direktor der pro helvetia werden

auffahrtstag – ruhetag. zeit, die zeit zu lesen. zum beispiel, die 10 ideen für eine besser schweiz. hier die sätze, die mir beim lesen blieben. nicht, weil ich sie alle gut oder schlecht finde, sondern weil sie mich auf- oder angeregt haben, hier die hitparade in meiner ordnung:

Samih Sawiris
Samih Sawiris, Begründer von Neu-Andermatt, soll Direktor der Pro Helvetia werden

10. Muammar al-Gadhafi, Staatspräsident Libyens:
“Ich rufe auf, das Staatswesen der Schweiz aufzulösen. Die Schweiz ist eine Weltmafia und kein Staat. Sie wurde gebildet aus einer italienischen Gemeinschaft, die zu Italien zurückkehren sollte, einer deutschen Gemeinschaft, die zu Deutschland zurück sollte, und einer französishcen Gemeinschaft, die Frankreich zurückgegeben werden sollte.”

9. Walter Wittmann, Oekonom:
“Die spektakuläre Erfolggeschichte des Schweizerischen Bundesstaates von 1848 bis 1914 basierte auf einem völlig anderen System, als wir es heute haben. Es gab Majorzwahlen, es gab eine handlungsfähigen Bundesrat mit sieben Radikaldemokraten, ab 1891 auch mit einem Vertreter der Katholisch-Konservativen. Der Föderalismus war schwach entwickelt, die direkte Demokratie spielte eine untergeordnete Rolle. Man konnte regieren – und tat das auch zügig.”

8. Martin A. Senn, Journalist:
“Der Kern des Selbstbewusstseins der Schweiz fusst auf einer Schweiz, die konservativ, aber auch ökologisch und sozial nachhaltig sowie wirtschaftlich-technologisch modern ist: auf der realen Schweiz. (…) Falls Sie dies schönfarberisch finden: Es war der ungelenkte deutsche Finanzminister, der mit seiner Wildwestmetapher die Sympathien unfreiwillig zugunsten der Schweiz verteilt hat. Denn die Indianer sind seit Karl May die Sympathieträger der Welt.”

7. Ludwig Hasler, Philosoph:
“Die Gesundheitspolitik muss um 180 Grad gedreht werden. Sie soll die Leute stärken, nicht vor allen Uebeln verschonen. Stark wird ein Mensch am Widerstand. Eine Politik, die an kräftigen Bürgern interessiert ist, ermutigt deren Freiheit, sicher nicht deren Unmündigkeit -wie soeben mit den messianischen Nichtrauchergesetzen.”

6. Bruno S. Frey, Oekonom:
“Jede staatliche Aufgabe soll sich in dem Raum abwickeln, der dafür die passende Ausdehnung hat. So entstünden funktionale Körperschaften, die sich überlappen und die für ihre Aufgaben nötigen Steuern in einem demokratischen Verfahren erhebendürften. (…) Das stellt eine neue Form von Föderalismus und Demokratie dar, in der sich die staatlichen Strukturen den Erfordernissen der Individuen anpassen – nicht umgekehrt.”

5. Simonetta Sommaruga, Ständerätin
“Ich schlage vor: Einem vollzeitlich erwerbstätigen Mann wird, wenn er Vater wird, das Arbeitspensum automatisch um mindestens 30 Prozent reduziert. (…) Dies hat zur Folge, dass auch Frauen Kaderpositionen anstreben und erhalten. Denn viele Frauen sind heute nicht bereit, für einen Chefposten, Familie, Freundschaften und Hobbys zu vernachlässigen und emotional zu verkümmern.”

4. Margrit Sprecher, Journalistin:
“Unsere Schweizer Volksvertreter machen nicht nur ein schlechte Figur. Sie genügen auch nicht dem internationalen Standard. Just die Schweiz, die so viel Wert auf höchste Qualität ihrer Produkte und Ausbildung legt, lässt sich sich von Amateuren vertreten, die ihren ausländischen Gegenspielern, gewandten, geschulten und cleveren Profis – hoffnungslos unterlegen sind. (…) Aber wollen wir das?”

3. Roger de Weck, Publizist:
“Eine in mehreren Kulturen verhaftete, global ausgerichtete Willensnation wie die Schweiz braucht Investitionen in die Mehrsprachigkeit ihrer BürgerInnen und Bürger. Die im Kindesalter gar nicht so grosse Mühe lohn sich, das beweist auch das Luxemburger Beispiel. Im Grossherzogtum sind dank des Schulsystems fast alle sowohl des Deutschen als des Französischen mächtig. Die Luxemburger pflegen überdies ihre lebendige Mundart.”

2. Remo Largo, Kinderarzt:
“Für mein Land wünsche ich mir eine Frauenpartei oder eine Familienpartei, die von Frauen geführt wird. Damit die Schweiz kinderfreundlicher wird. (…) Denn gemäss einer kürzlichen Umfrage des Beobachters würde es Eltern aus dem Mittelstand sehr schwer fallen, auf ihr Auto zu verzichten, weit weniger auf ein weiteres Kind.”

1. Daniele Muscionico, Journalistin:
“Samih Sawiris kann als Visionär unserem Land die Welt näher bringen. Die Bedingungen sind ideal: Er hat seinen Dürrenmatt gelesen und ist mit dem Besuch der alten Dame genauso vertraut wie mit dem Stall des Augias. Unser Gast aus Aegypten erfüllt alle Bedingungen als nächster Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia.”

uff, und wow,

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consilium abeundi

ich halte einen vortrag im kloster disentis – über direkte demokratie, ihren ursprung in der schweiz, den export in die ganze welt, und den versuch, so die volksmeinungen verstehen zu lernen. unweigerlich landen wir dabei beim ehemaligen disentiser klosterschüler filippo leutenegger.

kultur_kloster_disentis

pater urban empfängt mich mit einer leichten verneigung an der pforte des klosters disentis. vor dem vortrag im peter-kaiser-saal bin ich zu einem feierlichen abendessen mit salaten und fischen geladen. schon bevor alle geladenen da sind, gibt es bei einem leichten rosé diskussionen – über volksabstimmungen, minarett-initiative und umfragen.

es sei ein disentiser klosterschüler gewesen, der mich bewegt habe, umfragen vor abstimmungen für das schweizr fernsehen durchzuführen, entgegne ich. sofort ist allen klar, um wenn es geht: filippo leutenegger ist im kloster disentis ein umstrittener, aber bewundeter star.

das consilium abeuni sei über leutenegger verhängt worden, meint pater pirmin. das bedeutet soviel wie “rat zur wegweisung” erinnere ich mich aus meiner gymnasiumszeit. es ist mehr als die ehrenrunde, aber weniger als die definive abweisung. das weiss auch pater pirmin: man habe ein exempel statuieren müssen, gegen die leutenegger. denn er habe sich an keine regel halten wollen, und in einem der strengen benediktinerklöster gehe das einfach nicht. doch habe man ihm den berufsweg nicht ganz verhindert wollen, fügt er bei.

damals, sagt der ostschweizer physiklehrer im schwarzen gewand, hätten sich die rektoren der katholischen internate regelmässig getroffen und über den verblieb der problemfälle gesprochen. bei filippo habe man sich darauf geeingt, dass er in altdorf abschliessen könne, was dann auch geschah.

nach dem vortrag werde ich am späten abend an der pforte, an der ich am vorabend eingetreten war, wieder entlassen. ein consilium abeuni habe ich nicht zu befürchten. das zeigte mir schon der herzliche applaus des publikums, aber auch reichliche wein, den die patres danach ausschenkten. ich kann bleiben, in disentis und bei der srg …

doch regnet es zwischenzeitlich heftig, sodass wir keinen trockenen weg zurück ins hotel vor uns haben. ein einheimischer aus der späten vortragsrunde bietet sich an, uns ins hotel rhätia zu chauffieren, und wir nehmen das angebot dankend an. sofort ist das gespräch wieder beim kloster. unser wegbegleiter gesteht: seine pubertät habe er im kloster verbracht, das präge. und so sei er in disentis geblieben. filippo konnte man einfach nicht prägen, zu widerspenstig sei der mitschüler damals gewesen, fügte er ungefragt an. deshalb habe er auch gehen müssen.

doch kehrt der ehemalige chefredaktor der schweizer fernsehens und heutige medienunternehmer wenigstens symbolisch immer wieder nach distentis zurück. denn als wir am folgenden tag wieder vor der pforte stehen, um einer exlusiven klosterführung beizuwohnen, erklärt uns pater urban unumwunden: geschichte habe er seinen schülerInnen eben unterrichtet. der absolutismus in der geschichte sei das thema gewesen. über stalin, mao, hitler habe er das interesse der eleven zu packen versucht. und dazu habe man gemeinsam diskutiert, was diktaturen und absolutisten gemeinsam hätten – in form einer arena, mit pro und contra, die unter leitung eines modertoren-schülers aufeinander geprallt seien.

arena-begründer filippo hätte seine helle freude an der späten anerkennung gehabt.

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