der loppis von tyngsjö und der wandel der generationen

unser heutiger besuch galt dem loppis von tingsjö – dem trödlermarkt am alten versammlungsort am see, wie man das ganze auf deutsch nennen würde.

der loppis von tingsjö ist fast schon legendär. einer der abwechslungsreichsten, eine vielfalt an möglichkeiten und ein bijou an gefühlen, sagt ich nur. letztlich ist er auch eine reichhaltige informationsquelle über die konstanz und den wandel des schwedischen familienlebens.

der raum zum handeln ist nicht gross, vielleicht misst er fünf mal sechs meter. in der mitte ist ein grosser tisch, rund herum hat kleine ausstellungsbänke und -gestelle. die beiden fenster auf den seiten und die ausgangstüre am ende geben ein wenig licht in den dunklen, dafür umso spannenderen raum.

meine höchste aufmerksamkeit geniesst die werbung aus den 50er jahren des 20. jahrhunderts in der hinteren ecke rechts. email-plaketten, wie sie auf dem land so typisch waren, verkünden den lebensstils der frühen nachkriegszeit. es dominiert das aufkeimende freiheitsgefühl der amis im schwedischen bauernsozialismus. ein leicht vergilbter zeitungsartikel über das neueste bei chrylser und dodge bringt einen in stimmung. dann geht es um vespas und mopeds, um jünglinge, die bei ihrer verehrten vorfahren, um geburtstagsgeschenke, vielleicht zur volljährigkeit, die den staunenden jungfrauen überreicht werden. den etwas gereifteren frauen empfiehlt man, in septischen tönen, lange, elegante abendroben, wie man sie in schweden auf dem land kaum gesehen haben dürfte. da passt das prächtige schild für den väterlichen herrn zu neuartige jagdpatronen deutlicher besser in die landschaft. nicht vergessen wurden die kinder von damals, für die cacao aus übersee angeboten wurde.

die praktiker unter den besuchern verweilen in der ecke hinten links, wo sich gerätschaften aller art findet. hammer, klein und gross, zangen für jeden zweck, aber auch harte sachen wie schwere beile oder holzklemmen bekommt man hier. mehr fürs feine sind die holzschnitzer fürs birkenholz oder die pinsel zum lackieren. was dann fertig ist, kam vielleicht in einen der kupferkessel oder wurde auf der messinggplatte mit stolz gezeigt.

wäre da nicht das alte radio, würde man sich in der steinzeit wähnen. denn in dieser ecke bekommt man den eindruck, dass sie eigentlich nie etwas geändert hat. das radio mit seinen hunderten von vorprogrammierten stationen setzte dem ein ende. jetzt konnte man modern sein, die nachrichten aus halb europa hören, oder aber traditionell bleiben, und auf einen schwatz in die küche gehen, die im loppis von tingsjö in der ecke vorne links repräsentiert wird.

da überragen die gewürztöpfe alles. der für kardamom steht thronend zuoberst. es folgen im zweiten tablar die für schwarz-, weiss- und kräuterpfeffer. nicht fehlen dürfen diverse behälter für nüsse, muskat und nelken im dritten rang. die getränkeauswahl erschliesst sich einem aus den sets daneben. ohne zweifel kostete man bereits viel tee, aber auch kaffee gab es. der bierkrug wiederum, ein wenig germanisch wirkend, ist in seiner form unverkennbar, während in den einfachen gläsern saft, wohl aus waldbeeren, gereicht wurde. die kleinen gläser mit ständer und umgekehrtem zylinder präsentierten den aquavit mit sicherheit gleich wunderbar wie heute. und wer gut gegessen und getrunken hatte, der rauchte wohl noch eine selbstgedrehte zigarette, deren tabak man in einer der reich verzierten dose aufbewahrte.

der tisch in der mitte ist eine welt für sich. über allem eine kleine, wohlgeformte lampe – wer weiss, vielleicht aus glas, das man in venedig geformt hatte. sicher ist, dass das grosse gschirrset aus china kommt. da können figuren aus allen herren länder nicht fehlen. ein elephant aus schwarzem holz findet sich, genauso wie ein elegantes pferd aus glas, zwischen allem. und es sieht dich ein bittender neger wie in der sonntagsschule an, während die balettänzerin aus porzellan vor dir durch die lüfte zu schweben scheintt. leichtigkeit vermitteln auch die schüsseln aus grünem glas, das bemalte teeset und die blumenvase, die in die höhe schiesst wie langstilige rosen.

zu guter letzt ist man in der rechten vorderen ecke angelangt, wo man zahlen kann. irgend etwas zwischen 20 und 200 kronen wird der einkauf schon kosten. das sind dann 3 oder 30 schweizer franken. was man dafür bekommt, ist auf jeden fall mehr wert. denn im loppis zählen nicht nur die erstandenen gegenstände, es sind die lebenswelten und –stile, die man hier genauso mitnimmt wie vergessen geglaubte erinnerung und melancholische gefühle.

für realitäten sorgen die beiden damen zum schluss. sie könnten mutter und tochter sein, so sind ihre gesichter ähnlich. nur, dass die ältere viel sanfter wirkt, die jüngere viel härter. die zeigt dir schon mal die kalte schulter mit dem tattou, wenn sie einpackt. wärmer wirkt ihr tiefer ausschnitt, denn er gibt ihren busen mit dem feuerzeug in der mitte frei, während sie leicht gebeugt das gewünschte in zeitungspapier rollt, in eine blaue tüte steckt und mit einem coolen lächeln überreicht. fürs schlicht pekuniäre ist die schicke dame im landlichen lock vergangener tage zuständig, welche die geldscheine fast schon streichelt, bevor sie sie in die kasse versorgt.

so ändern sich generationen, denke ich mir beim hinaustreten – und sage: beybey whiskeyglas, tschüss ambos, au revoir waschbrett und hejda loppis.

stadtwanderer

zum beispiel ekshärad

stadtwandern in värmland: zum beispiel in ekshärad im klarälvtal. ein porträt aus zuneigung.

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wenn man in die stadt rein fährt, könnte man sich ein wenig im mittleren westen der usa wähnen. linker hand bietet ein grillkoch steaks, würste, hamburger in einer umgebauten flachdach-garage zwischen einfamilienhäusern an. und auf der rechten seite findet sich, zwischen tankstelle und tante-emma-laden eine grosszügige pizzeria, deren eingang inszenierte gemeinschaftliche stimmung verheisst.

wären da nicht die auffahrtrampen für behinderte, welche die eigene vorstellungswelt einholen und einen unweigerlich nach schweden zurückführten, wo man gesellschaftlichen diskriminierungen gegenüber besonders sensibilisiert ist.

ekshärad ist ein landstädtchen in vrämland, das ganz und gar von durchgang bestimmt wird. weiland waren es die pilger auf dem weg nach nidaros, dem heutigen trondheim in norwegen, die der mächtigen klarälv gen norden folgten. heute sind töffahrer mit schweren monturen, welche die reise in die weiten landschaften wagen, oder touristen aus dem süden, die in den naturgegenden der umgebung fischen, wandern oder radeln wollen.

die einen kreuzen eksährad in wenigen minuten, die andern bleiben, bisweilen tage, aber auch jahre. holländer waren trendsetter im tourismus; deutsche, vor allem aus dem osten, sind in der holzwirtschaft und im gewerbe tätig, während schweizerInnen wie wir im abgelegenen holzhausen eine stuga, ein sommerhäuschen, haben.

ekshärad ist auf diese erneuerung dringend angewiesen. seit 1970 verliert der ort einwohnerInnen. bedrohlich nahe an der 1000er grenzen sei man ende 2010, hiess es in einem bericht der värmländischen zeitung. die eigenständigkeit als kommun hat man schon länger verloren; heute wird man von hagfors aus verwaltet.

mit folgen: selbst die angesehene gemeindebibliothek wurde vom gemeindehaus im zentrum ins schulhaus an der peripherie verfrachtet. vom kommunhuset, wie das ehemalige gemeindehaus heute angepriesen wird, ist nur noch die rote hülle geblieben. Innen haben die kaufleute des ortes das sagen: sie haben hier ihre büros für buchhaltungen und sonstigen schriftverkehr eingerichtet, ohne dass viel geschäftigkeit entstanden wäre. die nordea bank beispielsweise kündet mit einem türschild an, bis ende september in der ferien zu sein. Das alles ist symptomatisch, denn ohne geld auch in der schwedischen provinz nicht viel, was man an der ökonomischen infrastruktur schnell erkennt.

geblieben ist ekshärad das kirchliche zentrum. die stattliche kirche stammt aus dem 17. jahrhundert, der aufbruchszeit schwedens als europäische grossmacht, und sie dient heute noch für taufen, heirat und beerdigungen. im friedhof finden sich zahlreiche eiserne lebensbäume, dem traditionellen kunsthandwerk des ortes. besichtigen kann man heute auch frühere kirchen, diejenige aus dem 16. jahrhundert, des wilden flusses wegen aufgegeben zeigt noch ihre grundrisse, ganz unten im tal, und die stabkirche aus der pilgerzeit ist oben, auf den weichen hügeln. das ist ist mehr für das gesetzte publikum, das jüngere zieht da den elchpark vor, der vor jahresfrist eröffnet wurde und gleich zum renner für ferienfamilien geworden ist.

eigentlicher star in ekshärad ist jedoch das ica, der grosse einkaufsladen im zeichen des kleinen bären. die lokalen produzenten bieten hier ihre frischwaren feil. bemerkenswert ist zudem die bäkerei mit spezialitäten aus dem donauraum. Interessent ist sind auch die ställe des heimatwerkes, gleich vis-à-vis, und selbstredend empfehle ich vor ort das moccacino, das cafe mit südlichem einschlag, das jacqueline und ralph aus leipzig hier seit einigen jahren führen.

wer ekshärad kennen lernen will, dem empfehle ein wenig mehr geduld, als man im mittleren westen der usa haben dürfte. denn die strasse von nord nach süd und umgekehrt ist nur der durchgang. auf dem hört man vor allem die lauten tucker. ein eigentlicher zugang zu den leisen radfahrerInnen ergibt sich so nicht. wer den sucht, muss sich etwas zeit nehmen, muss eintauchen wollen in den kleinod im nördlichen värmland, und darf sich ruhig beraten lassen. zum beispiel bei der sympathischen und kundigen josephine ba(ec)ker im örtlichen touristenbüro.

stadtwanderer

auf dem pilgerweg des nordens


der grössere teil der kapelle wirkt wie ein langhaus, dem versammlungszentrum der vikingersippen. spätestens die beiden drachen auf dem dach erinnern einen auch an eines ihrer legendären schiffe aus dem frühen mittelalter. den kleineren teil firmiert, genauso wie den eingang, ein kreuz, unzweifelhaft ein christliches. eine mischung, die typisch ist für alte kirchen am früheren pilgerweg des nordens.

stavkyrka heisst die kirche auf schwedisch, was auf deutsch stabkirche heisst. entstanden ist der name wegen der bauweise. denn die holzbalken werden nicht, wie in der blockbauweise waagrecht aufeinander gelegt, sondern senkrecht aneinander gereiht.

eingeweiht worden ist die stavkyrka von nygard bei ekshärad 2002 vom örtlichen bischof. erstellt haben sie handwerkern aus ekshärad – ein zimmermann und ein schmid waren dabei führend.

erbaut wurde sie nach traditionellen plänen der kirchen norwegens, die im 12. und 13. jahrhundert ihre blüte hatten. denn was rom für den süden, jerusalem für den osten, santiago de compostella für den westen war, das ist nidaros, das heutige trondheim, für den norden: der traditionsreiche sammlungsort für gläubige, die einmal im leben gott nahe sein wollten. und der weg hierzu war gekennzeichnet durch kleine gotteshäuser.

die stabkirche ist ganz aus holz gehalten, wie es sich für einen traditionellen treffpunkt auf dem land gehört. einzige ausnahme ist die platte auf dem altar, die aus einem seltenen stein der gegend geschlagen wurde. und der unterbau der kirche ist heute mit steinen unterlagt, damit das gebäude nicht fault.

die ausstattung im innern ist schlicht. drei kleine fenster geben ein wenig tageslicht, das während einer messe durch kerzen verstärkt wird. im hauptraum hat es genau drei bänke, eher für die touristInnen als für die gläubigen. denn die stehen während der ganzen dauer einer messen nach alter sitte. am imposantesten ist der dachstock. ein wenig luftigkeit kommt auf, wenn man ihn von unten erkundet. denn die baukunst des zimmermanns schwebt hoch über dem normalen besucher.

den oder die überrascht man in der umgebung der stabskirche mit einem kräutergarten, der ein wenig an eine frühchristliche präziose erinnert, wie sie in kontinentaleuropa von karl dem grossen gefördert wurden. da hat es alles, was einen erfreut, und im bedarfsfall auch wieder gesund macht(e). und es bereichert die örtliche biodiversität, was die zahlreiche schmetterlinge, hummel und bienen vor ort freut.

die guten zeiten der pilgerwege im norden waren zwischen dem jahr 1000 und 1500. die erinnerung an den heilig gesprochenen christlichen könig olav von norwegen bildete den anfang. mit der bildung des schwedischen nationalstaates unter könig gustav vasa kam dann jedoch das jähe ende. denn die seine lutheranisch gesinnten gottesleute hielten nichts mehr von dieser mittelalterlichen wanderungen. die meisten der kirchen in schweden verschwanden im 17. jahrhundert nach pestepidemien. heute entstehen sie neu, als teil einer europäisch verstandenen form der kulturbegegnung, eher touristisch als konfessionell ausgerichtet.

ein kleiner besuch, der es wert ist, auf den hügeln von nygard, hoch über der klarälv von ekshärad.

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der sturz des königs der tiere

das erste buch, das ich meinen ferien im nordischen holzhausen gelesen habe, ist die grossartige kulturgeschichte zum verhältnis des menschen und des bären, die es bis in harvard-press geschafft hat, bei uns (in bern) bisher aber kaum wahrgenommen wurde.

xals im juli 1969 neil armstrong mit seinem apollo-team zur ersten erfolgreichen mondlandung aufbrach, hatte er einen bären dabei – keine leiblichen selbstredend, aber einen teddybären!

michel pastoureau, französischer spezialist für die geschichte der symbole des europäischen mittelalters, nimmt das „als Zeichen einer sehr langen Geschichte zwischen Mensch und Bär, die auf dem Mond, an der Schwelle zur Ewigkeit, fortgesetzt wird.“

2007 hat der pariser professor ein bemerkenswertes buch über eben diese kulturgeschichte herausgebracht. in de debatten der archäologie, ethnologie und religionswissenschaften zum bär als erstem gott der menschen mag sich der historiker nicht wirklich einmischen. für ihn ist aber klar, in europa war der bär lange zeit der könig der tiere, analog dem löwen in asien, dem elefanten in afrika und dem adler in amerika.

die anfänge dieser tradition sieht in griechenland. artemis (die zwillingsschwester von apollo), ist seine zeugin. in arkadien, dem „land der bären“, war sie nicht nur die göttin der jagd, sondern auch des mondes, des waldes, der berge und der wilden tiere. die mythologie, die um sie entstand, ist nach pastoureau durch die drei verhältnisse gekennzeichnet, die es bei jagenden völkern gegenüber dem bären gibt: durch die verwandlung von menschen in bären, durch die mütterliche bärin, die verloren gegangene kinder aufzieht, und durch den bär als monster, der jungfrauen verführt.

in unseren breitengraden galt der bär lange als unser nächster verwandter – als mensch im fell quasi. seine physiognomie gleicht dem den menschen, wie dieser kann der vierbeiner aufrecht gehen und nutzt er die ganze sohle, wenn er geht. doch nicht genug: er kann schwimmen, rennen, klettern, springen und tanzen, genauso wie wir menschen auch.

im hohen norden, wo es heute noch bärenkulte gibt, ist diese symbiose besser spürbar: nicht nur ist die verehrung des raubtieres im alltag der naturvölker fest verankert geblieben; in der geschichte dänemarks, norwegens und schwedens haben sich könige immer wieder als nachfahren des bären verstanden.

das hat sich in kontinentaleuropa ins umgekehrte gewandelt. pastoureau sieht im römischen historiker plinius dem älteren und im kirchenvater augustinus die frühen feinde des königs im tierreich. als eigentlichen übeltäter denunziert wird jedoch karl der grosse. während seiner feldzüge gegen die sachsen liess er nicht nur heilige bäume fällen, magische steine versetzen, nährendes quellwasser umleiten und traditionelle orte mit christlichen kapellen bebauen, um die heidnischen bräuche auszurotten, nein, er hatte es auch auf den bären als krafttier der besiegten völker abgesehen.

in seinem buch „Der Bär. Geschichte eines gestürzten Königs“ entwickelt passtoureau die these, dass mit der christianisierung zwei strategien zu vernichtung entwickelt worden sind: die treibjagd im wald und die hetzjagd in der literatur. der kulturelle kampf gegen den bären interessiert ihn besonders: denn da wird er im hochmittelalter in raten bekämpft, gezähmt und erniedrigt.

angefangen hat das in frankreich, von wo der bär schon früh verdrängt wurde, in die pyränäen, die alpen und den hohen norden. symbolisch nachgezeichnet werden kann diese nach dem heraldiker pastoureau anhand des aufkommens von wappen im 11. jahrhundert. Speziell mit den kreuzzügen setzte sich in europa die vorherrschaft des löwen als zeichen der macht und als könig der tiere durch.

wenn bern (wie berlin) bis heute dagegen hält, ist dies in diesem gelehrsamen buch ein zeugnis für germanische traditionen, die in gebieten, die erst im 12. jahrhundert erschlossen wurden, länger erhalten blieben, ja bis heute nachwirken. Knut, der weissbär, und finn, der braunbär sind beredete zeugnisse daf^ür.

andernorts setzte sich schneller durch, was im ausgehenden mittelalter allgemeingut wurde: der bär wird aus dem wald gezerrt, in den werdenden städten auf den marktplätzen angebunden und domestiziert im zirkus aufgeführt, um ihn letztlich zu verspotten.

seine ehrenrettung findet der bär seither in den fantasien der herrschenden, den museen der naturkundler und als teddybär im kinderzimmer. von wo er als rache bis auf den mond schaffte!

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aquavit

sollte dir ein essen einmal nicht bekommen, gibt’s nur eines: einen aquavit trinken. im norden geniesst man die spirituose aber auch so, als getränk zum wohlbekömmlichen einheimischen essen.

xmas_janssonsder name sagt eigentlich alles. aquavit heisst auf deutsch nicht weniger als lebenswasser. weil es gut schmeckt, stark ist, und einen auch bewegt. ein wenig wie die lebenskräuter im lebkuchen, nur flüssig.

der alkoholgehalt des aquavit beträgt 40 prozent. das feuert einen schon mal kräftig an. verfeinert wird das getränk durch die beigemischten gewürze. allen voran kümmel – aber auch anis und fenchel. ersteres muss beim nordischen lebenswasser vorherrschend sein.

zuhause würde ich fencheltee trinken, wenn mit ein essen nicht bekommen wäre. in schweden kippt man einfach einen – oder auch zwei aquavit aus dem schnappsglas hinten nah.

anis erinnert mich unweigerlich an frankreich. nur schon in gedanken liegt ein hauch von pastis, einer bar und paris in der luft. die vorstellungen sind auch in holzhausen verführerisch.

doch damit nicht genug. aquavit ist der wohl beliebteste schnapps im norden. getrunken wird er von den einheimischen zu muscheln, räucherlachs und gereiften käse.

marktleader in schweden ist der aquavit von o.p.anderson. die marke gibt es seit 1891. das wasser dazu auch. neu auch mit bio-zutaten.

kaufen kann man den anderson vor allem in dutyfree shops an flughäfen oder in zollfreiläden in schiffen. das habe ich auch diesmal bei der anreise nicht ausgelassen, und ich werde mir auf der heimreise einen kleinen vorrat für die zeit in hinterkappelen anlegen.

skal!

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den nordischen prachttaucher vor augen

nun bin ich wieder in holzhausen – meinem schwedischen sommerdomizil.

19251084unser flug ab zürich war schrecklich. eng, laut und stressig. ich merke, dass ich älter werde. an einem wochenende aus der arbeits- in die ferienwelt, ist nichts mehr für mich.

von oslo aus ging es nach schweden. in kongsvinger, der letzte grösseren stadt vor der grenze, gab es den ersten sonnenuntergang. im norden wirken sie anders als bei uns, weil sich die sonne nur langsam dem horizont nähert. der himmel wird durch das viel heller, eher gelb denn blau.

auf der fahrt durch die schwedischen wälder bestanden wir den elchtest schon am ersten tag. denn in der abenddämmerung begegneten wir gleich zwei mal den königstieren des nordens. einmal gaben sie sich von der scheuen seite, einmal von der interessierten. es tut gut, die prachtsviecher in der nähe zu wissen.

in holzhausen genossen wird die phänomenale nachtruhe. es macht schon etwas aus, keine durchgangsstrassen in der nähe zu haben. dafür begrüssten uns die möven – mit ihrem typischen gekreische. so wissen wird, dass uns die quartierpolizei des grossen naturreservates registriert hat.

die funkverbindungen in den värmländischen wäldern haben sich heuer deutlich verbessert. zwei bis drei striche sind die regel. da kann man nicht nur handyfonieren, es liegt auch einiges in sachen surfen und bloggen drin.

mit telia hatte ich indessen am montag meine probleme. das schwedische modem hat, so schien es, im winter den geist aufgegeben. ein ersatz musste her, in der pampa nicht ganz einfach zu organisieren. zwischenzeitlich habe ich ein neues. und wie man sieht, klappte es.

der erste tag war sonst zum kontakten da. zum beispiel im moccacino, unserer lieblingsbeiz in ekshärad, wo uns jacqueline und ralph schon mal herzlich begrüssten. auch bengt, unser autohändler, war erfreut, uns wieder zu sehen. für dieses jahr hat er uns einen kleinen weissen opel breit gestellt.

jetzt machen wir uns daran, holzhausen zu erkunden. die wälder, die wege, die seen, das boot und die tiere. ein seeadler jagte einen graureiher, der ihm sein revier streitig machen wollte. ausgang offen. am besten gefiel uns der nordische prachttaucher auf dem see vor holzhausen, mit seinen eleganten überwasserfahrten und seinen ausgiebigen tauchkünsten.

es sind sommerferien. werde bisweilen berichten.

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die wiedergeburt des löwen in illiswil

wenn es so warm ist wie dieser tage, gibt es nur eins: raus aus der stadt, hinaus auf das land in eine kühle gartenbeiz. ich empfehle den wieder auferstandenen löwen in illiswil.

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achtung, was sie hierzu lesen, ist werbung. einseitig. subjektiv. und treffend!

am wochenende feiern alexandra und martin gerber ihr einjähriges jubiläum als wirtepaar im illiswiler löwen. vormals war er aufstrebender küchenchef in gümligen, und sie arbeitete als tatkräftige leitende dentalassistentin an der berner uni. gemeinsam meldeten sie sich auf ein inserat in der wirtezeitung – und bekamen zum glück den zuschlag!

seither ist wenig zeit verstrichen, aber viel gegangen. über mittag und abends reserviert man besser, wenn man im einzige illiswiler restaurant essen will. denn die stammkundschaft ist zahlreich, und die laufkundschaft ist mächtig im aufschwung. schliesslich ist es nur einige kilometer mit postauto oder fahrrad in den berner vorort, und wer in wohlen mit dem beizangebot hadert, weicht gerne in den nahegelegenen weiler aus.

vor den gerbers sah der “löje”, wie der gasthof im volksmund heisst, einige magere jahre. nicht weniger als drei pächter wechselten im jahresrhythmus oder noch schneller. wegen unvermögen, wegen lauter musik und wegen üblen geschichten. die gäste blieben zusehends aus, sodass ein wirklicher schnitt im gasthof nötig wurde.

beliebt sind heute die flammkuchen für den kleinen hunger oder ein stroganov für den grossen. wer es gerne scharf hat, nimmt das cordon-bleu mit einer paprikawurst. legendär ist der vielseitige löwensalat, und viel gefragt sind die leichten sommerteller. das roastbeef mit sellerie-, karotten- radischenbeilagen ist mein favorit.

der service ist flink und freundlich, und wenn es viel besuch hat, lässt man sich nicht stressen, bestellt man schnell ein cardinal und vertreibt sich die kleine zeit mit den sprüchen auf den bierdeckeln. überhaupt, im 200jährigen ehemaligen bauernhaus, das zum heimeligen gasthaus wurde, kann man die zeit leicht vergessen.

denn im löwen lässt es sich leben, fröhlich sein und geschichten hören. und wer möchte das schon verpassen. keine grossfamilie nicht, kein rentnerpaar nicht und keine frischverliebten nicht!

seit neusten herrscht wieder viel betrieb in den gaststuben. den traditionsgäste gehört die zentrale stube mit der theke. das geht es bei einem kaffee oder einem glas roten schon mal politisch zur sache, und sieht man nicht selten auch jassrunden. essen kann man im säli oder stübli, und im sommer wird auch eine kleine freiluftbar bedient. von da aus kann man die umgebung geniessen, die berge, die landschaft und die tiere. pferde und ponies auf der weide hähren das auge, und die schwalben und sonstigen vögel die ohren gaumen.

es sind viele tolle stunden, die ich hier verbracht habe. den 50. geburtstag habe ich da gefeiert, damals noch beim legendären caesare aus norditalien als wirt, und auch meine stadtwanderung quer durch die romandie für charlotte und jürg begann im gemütlichen illiswiller treffpunkt.

wer im sommer nicht in die ferien geht und wem das klima in der stadt schlicht zu heisst wird, dem oder der empfehle ich wärmstens einen ausflug bis in den löwen vor ort.

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sieben thesen zur entstehung und situation der schweiz

tina war überschwänglich. die slovenische fernsehfrau empfing mich am treffpunkt im zürcher hb und kam gleich zur sache. sie wolle ein interview von mir, vom sieg der eidgenossen über die habsburger bis hin zum nicht-eu-beitritt der schweiz in der gegenwart.

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die schweiz dem slovenischen fernsehen erklären – das notizbuch der vorbereitung und durchführung.

während die kamera in grossen halle installiert wurde, fragte mich die slovenische journalistin, ob es stimme, dass ich keinen doktor habe und dennoch an der uni unterrichte. ich antwortete ihr, so ungefähr sei das. sie wollte wissen, ob das nicht unmöglich sei. ich nickte, was sie erstaunte: sind sie also unmöglich? – nein, nein, ich bin einfach erfahren antworte ich.

hier die thesen, die ich als hintergrund für das gespräch mit dem slovenischen fernsehen vorbereitet habe:

erstens, das ist zuerst der ausgeprägte regionalismus mit einem dutzend städte und länder, die durch ihre kooperation untereinander im zerfallenden kaiserreich realtiv hohe autonomie erlangten. ursprünglich ging es um die hoheit über transitstrassen und kirchen. später war man vor allem ein militärbündnis. das angebot war attraktiv, weshalb das bündnis namentich zwischen mitte 14. und mitte 16. jahrhundert wuchs.

zweitens, die entwicklung einer übergeordneten staatlichen struktur wurde namentlich durch die reformation verhindert. das wachstum des bündnisses aus dem mittelalter wurde so gestoppt, die aussen- durch die binnenorientierung abgelöst. gespalten wurde auch die einheit von stadt und land, denn vor allem die städter wandten sich der neuen lehre zu, blieben aber lange in der minderheit. geformt wurde dadurch der reformierte stadtstaat in der katholischen umgebung.

drittens, am ende des ancien regimes, also vor der eroberung durch frankreich, kann man von einer staatlichen organisation sprechen, in der republikanische gedanke verwirklicht wurde. dank beteiligung am europäischen handel kam man zu reichtum, die konfessionelle spaltung wurde überwunden, die herrschaft über das militär war gegeben. die entscheidungsprozesse waren jedoch schwerfällig, die vielfalt der voraussetzung in der patrizischen, zünftischen und landsgemeindeorte blieb gross. eine nation war die schweiz im ancien regime eindeutig nicht, ein kleinstaat im werden der europäischen nationalstaaten schon.

viertens, mit der modernisierung des staates unter einfluss frankreichs und österreichsr enstanden die voraussetzungen für die schweizerische eidgenossenschaft: der föderalismus und die direkte demokratie zeigen die grössen wirkungen und sind dauerhaft von bedeutung. geblieben ist auch die republikanischen tradition. hinzu kommt eine verwaltungstradition, welche den bündnischarakter der staats ablöst. patriotische, liberale, radikale, demkratische und soziale bewegungen entwickel(te)n nicht nur die gesellschaft; sie prägen schrittweise das erneuerte schweizerische staatsverständnis, das dadurch bis heute einem patchwork mit einflüssen aus frankreich, den usa, deutschland und italien gleicht.

fünftens, der heutige staat ist ein kompromiss aus wirtschaftlichen erfordernissen der einheit und kulturellen grenzen aus der vielheit. die schweiz ist ein bundesstaat, der auf integration der regionen, konfessionen, sprachen und schichten ausgerichtet ist. die demokratisierung der politik trug mit ihrem mobilisierenden element einiges zur verbreiterung der basis bei, selbst wenn schwächen bei frauen und jungen lange bliebe oder anhalten. die konkordanz entwickelt sich zum vorherrschenden strukturmuster der politischen kultur, die auf verhandlungen zur konfliktlösung setzt. das wirkt sich auf die regierungsbildung aus, gelingt unter wirtschaftlichen guten bedingungen besser.

sechstens, mit dem ende des kalten krieges ende des 20. jahrhunderts verschwindet der zauber des schweizerischen staatswesens. der antikommunismus als einigende klammer fällt weg. die globalisierung von wirtschaft und kommunikation, die internationalen firmen und das internet bringen neue dynamiken ins land, das durch eine scharfe polarisierung der politik, der ökonomie und der gesellschaft erfasst wird. die anhänger einer rückwärts gewandten, traditionellen schweiz, und einer vorwärtsgewandten, modernen schweiz stehen sich schroff gegenüber.

siebtens, politisch sind heute die traditionalisten im vorteil, obwohl sie nur eine minderheit ausmachen, doch ist diese in einer nationalkonservativen partei geeint. derweil streiten die sich die vertreter des bürgerlichen zentrums und der rotgrünen linken darum, wer die vorherrschaft haben so, wie die modernisierung des schweizerischen staates im 21. jahrhundert aussehen soll.

ob die schweiz unter diesen bedingungen der eu-betreten werden, wollte tina am ende wissen. diese antwort konnte ich ihre locker schuldig bleiben …

stadtwanderer

ps. das inti erscheint am do im slovenischen fernsehen, werde eine link besorgen.

state building in switzerland

das slowenische fernsehen will mich interviewen. es geht um die staatenbildung am beispiel der schweiz. das land geniesst auf dem balkan viel sympathien. das weiss ich aus der erfahrung, die ich in verschiedenen reise gesammelt habe. jetzt geht es darum, wie man das auf den punkt bringt. ich bitte um mithilfe.

Tilly 1charles tilly. amerikanischer historiker, sozio- loge und politiker, der sich mit dem prozess der staatenbildung eingehend auseinander gesetzt hat.

charles tilly, ein amerikanischer sozialwissenschafter, den ich während meinem studien fleissig konsultiert habe, schreibt dazu: “State building provided for the emergence of specialized personnel, control over consolidated territory, loyalty, and durability, permanent institutions with a centralized and autonomous state that held the monopoly of violence over a given population“. generell gesprochen geht es um den prozess, bei dem sich der staat von der gesellschaft durch institutionen zu unterscheiden beginnen, welche die entscheidungsprozesse formalisieren.

wann und wie ist das in der schweiz geschehen?

mehr oder weniger klare staatsgrenzen haben wir seit 1815.
mehr oder weniger permanente institutionen haben wir seit 1848 und danach.

spuren davon entstanden unter einfluss der französischen revolution, als folge der der reformation und durch gemeinsame bündnisse gegen habsburg. die ältesten vorstaatlichen spuren kann man wohl ins 14. jahrhundert zurückverfolgen.

ausgebildet worden ist vieles erst im 20. jahrhundert: zum beispiel die eigene einheitlich währung. oder die staats- resp. autobahnen.

das konkordanzsystem hat alte ursprünge. seine überhöhung hat es aber erst in der nachkriegszeit erhalten. die direkte demokratie als abstimmungsdemokratie gibt es seit rund 180 jahre. das milizsystem wiederum ist älter, der föderalismus sogar viel älter.

zudem: aus meinen reise auf dem balkan weiss ich, wie schwierig es ist, etwas, das an einem ort funktioniert hat, an einem andern zu realisieren! staatenbildung ist ein prozess der mobilisierung, der nur gelingt, wenn er nicht bloss von oben gesteuert, sondern auch von unte getragen wird!

so bleibt mir nur eines zu fragen, auf das es wohl viele antworten gibt: wie nur soll man das alles in wenigen, knappen, gut verständlichen sätzen (auf englisch) für slowenen formulieren?

hilfe! wer macht mit, bei versuch, das interview vom kommenden dienstag sach- und mundgerecht vorzubereiten, wenn es heisst: how was the process of state bilding in the famouse case of switzerland?

stadtwanderer

mehr oder weniger kla

die ego-, öko-, konflikt- und angst-schweiz

gerne hätte ich den bericht auch vorzeitig gehabt. doch eine vorab-publikation im “blick” war der schweizerischen vereinigung für zukunftsforschung wichtiger als auf dem stadtwanderer. so bleiben mir nur der hinweis und der vorläufige kommentar zur studie “schweiz 2030”. übernächste woche, wenn sie ausführlich erscheint, gibt’s dann (hoffentlich) mehr.

georges t. roos ist ein engagierter und vorsichtiger forscher zugleich. wenn er über den wertewandel in der schweiz bis ins jahr 2030 redet, macht er klar, dass er auch nicht weiss, was dann sein und wie die schweiz in 20 jahren aussehen wird. der trendforscher glaubt deshalb auch nicht, dass es nur eine zukunft gibt. vielmehr beobachtet er die entwicklungen der gegenwart und projiziert sie auf verschiedene zukünfte.

nach zahlreichen expertInnengesprächen (zu denen ich geladen war), kommt er zum schluss: es gibt vier plausible entwicklungspfade der schweiz für das stichjahr 2030:

HBNGDO6V_Pxgen_r_179x256die ego-schweiz:
demnach geht es der schweiz auch in zukunft gut. die menschen sind gebildet, reich und sicher. sie sind erfolgreiche individualistInnen. einzig an nestwärme fehlt es der wettbewerbsgesellschaft, weshalb sich das kollektiv, die gemeinschaft und die geschichte bis zur unkenntlichkeit zurückentwickeln. die schweiz wird zur wohlstandsinsel ohne inneren zusammenhalt.

HBVbM3ON_Pxgen_r_278x398die öko-schweiz:
demnach meister die schweiz die grosse herausforderung der zukunft – die vermittlung von ökonomie und ökologie. sie profitiert davon, darin trendsetterin zu werden. nachhaltigkeit der wirtschaft, der gesellschaftlichen und menschlichen entwicklung sind die wichtigsten werte, welche die ökogesellschaft politisch im verbund mit der eu realisiert werden.

HB8XnwQR_Pxgen_r_231x256die konflikt-schweiz:
demnach wird aus der gesellschaftszwiebel mit einer breiten mitte eine sanduhr mit vielen reichen oben und vielen armen unten. die gesellschaftlichen aggressivität steigt. das land droht sich in der spaltung aufzulösen. die frage nach der solidarität wird neu gestellt. erreicht wird sie mit eu-beitritt und harter kontrollgesellschaft, um die inneren konflikte zu mindern.

HBFQB0B0_Pxgen_r_179x256die angst-schweiz:
demnach gibt es zwischen dem eigenen und dem fremden nur noch trennendes. die schweiz isoliert sich von seinen nachbarn. der wirtschaft schadet es, hauptsache man bleibt rein. die eigene kultur wird gepflegt, die anderen kulturen sind verhasst. die unternehmen verlassen das paradies.

sicher, das alles sind nur schemen der zukunft. sie zeigen uns aber, dass verschiedene entwicklungen in der gegenwart angelegt sind. deshalb macht es auch sinn, mit zukunftsszenarien zu arbeiten: um sich zu fragen, wohin das, was ist, in der zukunft zielt. und das ganze macht durchaus sinn: man stelle sich ein viereck vor, indem oben die beiden optimistischen, unten die beiden pessimistischen zukünfte angesiedelt sind. oben-rechts ist die ego-schweiz, unten-rechts die angst-schweiz, unten-links die konflikt-schweiz und oben-links die öko-schweiz. diesen radar kann man sich merken.

“Nicht alles ist machbar, aber auch nicht alles ist Schicksal”, wir der studienleiter ross im sobli von gestern zitiert. ich füge dem bei: traditionelle gesellschaft kennen nur den erfahrungsraum des vergangenen; moderne haben darüber hinaus einen erwartungshorizont, der das kommen im auge hat. diese ist nicht eindimensional, sondern szenarisch. es kommt darauf an. auch welchen zukunftsplan sich eine gesellschaft einlässt.

stadtwanderer

vermessene lebensqualität der berner städte

rankings fasizinieren mich immer, auch wenn ich ihnen gelegentlich misstraue. so auch beim städte-ranking der zeitschrift bilanz.

bern-panoramabern hat nicht nur touristisches zu bieten, sagt das neueste städte-ranking der bilanz.

als ich vor einigen jahren nach der veröffentlichung des bilanz-städterankings bei der redaktion nachfragte, wie die reihung zustande komme, herrschte schnell mal aufregung. einen termin für ein gemeinsames treffen wollte man nicht vor sechs monaten haben. dabei zweifelte ich nicht an der richtigkeit der einzelnen bewertungen, doch wurde mir nicht klar, wie diese zum gesamtindex führten, mit dem man lebensqualität messen wollte.

2011 sind die forscher bei wüest&partner selber über die bücher gegangen. sie haben aus den 117 indikatoren 11 neue dimensionen erstellt, und verrechnen diese neuartig miteinander. generell fand eine verlagerung von harten faktoren der lebensqualität (wie dem steuerfuss) zu weichen statt. neu erfasst werden beispielsweise die besonderheiten einer stadt, und der unbrauchbare übernachtungsindex wurde durch die einkaufsinfrastruktur ersetzt.

das ist denn auch der grund, weshalb zahlreiche städte im aktuellen rating ganz anders rangiert sind als noch vor jahresfrist. beschränkt man sich auf die bernischen, lautet die reihenfolge neu:

1. bern: stärken: arbeitsmarkt, soziales, besonderheiten, bildung, kultur/freizeit und einkaufsinfrastruktur, mobilität/verkehr

2. köniz: arbeitsmarkt, soziales, gesundheit/sicherheit, bildung als stärken

3. biel/bienne: bildung, kultur/freizeit

4. thun: arbeitsmarkt, soziales, besonderheiten

5. muri: soziales, arbeitsmarkt

6. ittigen: arbeitsmarkt, bildung

7. burgdorf: bildung, soziales, erholung

8. langenthal: keine (am ehesten bildung)

9. münsingen: soziales

10. ostermundigen, spiez, worb: ohne spezifische angaben

was die berner städte also auszeichnet: das soziale, der arbeitsmarkt, die bildung, kultur/freizeit und ihre besonderheiten. real hat sich einiges verbessert, verändert sind die platzierungen aber wegen der neuen methode.

die hat erhebliche konsequenzen für die rangierung der berner städte. bern zum beispiel verbesserte sich im nationalen spiegel von 19. auf den 4. rang, köniz vom 73. auf den 34., biel/bienne vom 80. auf den 36., thun vom 78. auf den 45. und langenthal vom 111. auf den 45. platz. rückschläge gab es für muri (vom 47. auf den 70. rang), ittigen (vom 59. auf den 75. platz), während sich die andern hielt.

man sieht es, je spezifischer man lebensqualität auf pekuniäres reduziert, desto eher haben städte, die auf steuerpolitik setzen, vorteile. wenn man das konzept jedoch umfassend versteht, haben grösse, differenzierung und vielfalt der entwicklungen eine deutlich höheres gewicht. das bekommt im nationalen rating auch zug zu spüren – die beiden letzten jahre spitzenreiter. neu liegt zürich an erster stelle, vor zug und luzern – und eben bern.

stadtwanderer

berns moderne zeit: materialiensichtung über-, spurensicherung unterentwickelt

da mache ich mir gar nichts vor: ich werde aus diesem buch noch 1000 mal zitieren. dennoch bleibt ein schaler nachgeschmack bei der lektüre zu “Berns moderne Zeit“, dem letzten band in der neuentdeckung der berner geschichte, zurück.

5377begegnung zwischen tradition (rechts) und moderne (links) im 19. jahrhundert: albert ankers kleinkinder- schule

der anspruch ist grandios: denn in diesem buch geht es um nicht weniger als politik, gesellschaft, wirtschaft, kultur des kantons bern seit die französischen truppen das ancien regime beendet und den kanton in bewegung gesetzt haben. texte und anhänge, von peter martig herausgegeben, erstrecken sich über fast 600 seiten. charlotte gutscher und sandra hüberli, welche die bildredaktion besorgten, liessen das werk reichlich illustrieren.

zuvorderst wird man in das bild albert anker “Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke” eingeführt. dabei geht es um ein treffen zwishen tradition und moderne, symbolisiert durch kleidungen, aber auch durch verhältnisse. denn kinderkrippen entstanden als städtische einrichtungen während der krise der agrarwirtschaft, die zu einer landflucht und damit zum anwachsen der städte führten. das ganz ist programm. denn es geht darum, wie die bernerInnen mit der moderne umgehen gelernt haben.

was so gebündelt beginnt, ufert danach leicht aus: mehr als 100 autorInnen haben zum buch beigetragen, über 150 kapitel sind so entstanden. meist widmen sie sich einem klaren thema, sind sie vorbildlich kurz gehalten. in der regel sind in deutsch abgefasst, une minorité des chapitres est écrites en français.

da geht es um regierungsstatthalter als mittler zwischen volk und verwaltung, um flüchtlinge aus deutschland. erzählt werden die körpergrössen der berner und hinrichtungen in langnau. nicht fehlen können je ein kapitel über verdingkinder, die fasnacht und badekulturen im kanton. spannung verheissen berichte über katastrophenkulturen, käsefieber und medizinaltechniken. porträtiert werden der berner bahnhof, bond und bollywood. die rede ist auch von jeremias gotthelf, dem grossen berner schriftsteller wie auch von anna tumarkin, der ersten professorin europas, die in bern lehrte.

man wird gar nicht fertig, den superlativen facettenreichtum dieses buches zu würdigen. postkarten tragen genauso dazu bei wie unveröffentlichte fotos. zeichnungen, stadtpläne, bilder, karikaturen, fotos, und faksimilierte dokumente beeindrucken einen seite für seite, egal, ob sie aus der frühen moderne des 19. jahrhunderts, dem höhepunkte der berner geschichte vor dem ersten weltkrieg, oder dem umbruch in der späten moderne, in der wir heute leben.

und dennoch. wenn man das buch bildlich und textlich durch hat, befällt einem das gefühl, heerscharen gelehrter hätten ihre zettelkasten aus jahrelangen recherchen über einen ausgeleert. und genau da mischt sich die faszination über den rechtum des wissens mit der erschrecken über dem ungeordneten historismus der gegenwart. denn es macht den anschein, alles in bern habe geschichte geschrieben. der bundesrat ganz sicher, die burgergemeinde wohl auch, ebenso die arbeiter, die frauen, die juden, die künstler, die nobelpreisträger, ja selbst die bourbaki-armee bekommen etwas vom aussergewöhnlichen ab, das einem den eingang in ein geschichtsbuch öffnet.

dabei ruft niemand halt und fragt, wo steht der kanton eigentlich?

man hätte sich gewünscht, dass man als abschluss des buches eine oder einen kennerIn der berner entwicklung, ihrer gegenwart, vergangenheit und zukunft gebeten hätte, nicht nur zurückzuschauen, sondern auch auf die seite zu gucken und nach vorne zu blicken. um die leserInnen aufzuklären, was an alle dem, was berichtet wurde, in anderen kantonen auch geschah, was in bern verspätet passierte und wo der kanton führend war. und um die frage zu beantworten, die doch so drängend vor der türe steht: nämlich ob bern nicht nur eine monumentale geschichte hat, selbst in den 200 jahren der moderne, sondern auch eine ebenso tragende zukunft, in den 200 jahren, die kommen.

denn geschichte ist nicht nur bienenfleissige selbstbeoachtung. sie ist auch kritische selbstvergewisserung und nachdenkliche selbstreflexion, um nicht berge von informationen aufzuschütten, sondern auch die wege aufzuzeigen, die die erhebungen hinauf und hinab führen. leider muss ich da sagen: auf dieser spurensuche fühlt sich der wanderer durch berns räume und zeiten ziemlich alleine gelassen.

stadtundlandwanderer

die illusion der geschichte beim wandern in cudrefin

vor uns wellt der neuenburgersee, hinter uns läuft der mont vully aus. dazwischen liegt das stsädtchen cudrefin. ein wanderungsbericht mit geschichten aus dem ort, dem hause savoyen und der familie longchamp.

800px-Cudrefincudrefin von montet aus, mit neuenburg im hintergrund.

mit der juragewässer- korrektur im 19. jahrhundert verkleinerte sich der neuenburgersee. seither hat es zwischen dem landstädtchen cudrefin und dem seeufer platz für einen hafen mit zahlreichen segelschiffen, ein strandbad mit ausgedehntem schilf und ein restaurant, baywatch genannt, sodass an einem warmen sommertag wie heute ferienstimmung aufkommt.

4000 bis 5000 campingleute zählt cudrefin während des sommers. ihnen stehen knapp 1200 ortsansässige gegenüber. die meisten von ihnen sind französischsprachig, eine minderheit spricht deutsch, und die kolonie aus portugal ist die dritte sprachgemeinschaft im waadtländischen landstädchen.

letzter höhepunkt in der stadtgeschichte war die versammlung schweizer diplomaten am ort. 1997 war das, unter der leitung von bundesrat jean-pascal delamuraz. der platz vor der stadt trägt seither seinen namen.

eigentlicher stadtherr ist peter von savoyen. 1246 erwarb der spätere graf den platz vom bischof in sitten, der ihn 999 aus der hand des burgundischen königs geschenkt bekommen hatte. vermutlich war er damals schon besiedelt, aber nicht befestigt.

der drang nach norden steckte im savoyer. nach dem aussterben der zähringer übernahmen seine vorfahren moudon, später wurde peter herr von romont und payerne. die natürliche fortsetzung des weges über avenches und morat blieb ihm indes versperrt, nicht zuletzt weil die orte zum bischof in lausanne und zum kaiser im reich hielten. so wählte peter den pfad über cudrefin, um bei oltingen über die aare ins mittelland vorstossen zu können. das war nicht ohne, peter war ja eine weile schutzherr von bern.

die grossen gegenspieler der savoyer, die habsburger, seit 1273 deutsche könige und förderer von lausanne, kannten, wie schon hundert jahre zuvor die zähringer, den umgekehrten drang nach süden. so kam man sich regelmässig in die quere.
1283 eroberten die habsburger murten, dann payerne und behielten beide orte bis zum tod von rudolf I. erst danach gelang den savoyern der direkte durchstoss nach norden; murten, den entscheidenden platz, nahmen sie 1310 ein und behielten es bis zu den burgunderkriegen.

cudrefin verlor in dieser zeit an herrschaftlicher bedeutung. der graf von grandson, auf der anderen seeseite im süden gelegen, übernahm die verwaltung der stadt. 1393 kam es zum aufstand gegen ihn und zum gottesurteil durch adelskampf. die aufständischen unterlagen; das städtchen cudrefin, das zu den oppositionellen hielt, wurde erstmals zerstört.

von der viereckigen gründungsstadt sieht man bei einer heutigen wanderung kaum mehr etwas. was im 14. jahrhundert überlebte, wurde 1475 bei der freiburgischen besetzung zerstört, und was man danach noch hatte, legte ein stadtbrand im bernischen provinzstädtchen im zeichen der revolutionäre aufstände 1790 in schutt und asche. den schlusspunkt unter die stadtzerstörungen setzen die bürger von cudrefin selber, als sie 1839 die beiden grossen wehrtürme und die stadtmauern abtrugen, und das heutige hotel de ville bauten. übrig geblieben aus früheren zeiten ist der gerechtigkeitsbrunnen aus den zeiten, als man in der gegend bernische untertanen war. und ein turm aus savoyischen zeiten, der zum kirchturm mutierte, ziert den ort.

erlebbare geschichte ist im landstädtchen an den gestaden des neuenburgersee jedoch zur weitgehenden illusion geworden.

schön ist die aussicht von montet aus, wo die heute reformierte kirche von saint theodul steht, die an den patron der wanderer, christen und weintrinker aus dem wallis erinnert. im frühling 1957 arbeitete mein vater da, als ihn die nachricht erreichte, er müsse sofort nach hause, denn es stehe nachwuchs im hause longchamp an – worauf ich das licht dieser welt erblickte …

stadtwanderer

erinnerungsorte und erinnerungshorte

niemand mehr, der oder die das 19. jahrhundert selber erlebt hat, ist heute noch auf der welt. das saeculum ist stück für stück von der erfahrung in die erinnerung gewandert. doch selbst das änderte sich mit dem 19. jahrhundert historisch. denn kein jahrhundert zuvor ist schon zu seiner zeit medial so verewigt worden wie eben das 19.

die-verwandlung-der-welt-id4600019jürgen osterhammels buch “Die Verwandlung der Welt” ist seit dem erscheinen 2009 in den allerhöchsten tönen gelobt worden. als meilenstein der deutschsprachigen geschichtsschreibung hat man es gefeiert, und es dauerte kein jahr, da gab es für den konstanzer historiker preise und ehrungen zuhauf.

zu osterhammels originellen beiträgen über das 19. jahrhundert zählen seine ausführungen zur selbstbeobachtung und gedächtnis, die sich zwischen französischer revolution und erstem weltkrieg geändert haben.

zahlreiche städte aus dem mittelalter wurden im 19. jahrhundert drastisch verändert. es fielen die stadtmauern mit ihren toren, hinzu kamen eisenbahnschienen, bahnhöfe sowie industrie- und wohnquartiere. das alles kann man heute noch sehen. hören kann man das 19. jahrhundert in der oper. zwar schon früher entstanden, wurden gerade die europäische wie die chinesische oper zur führenden kunstform auf der bühne, die heute noch nachhalt.

zur gleichen zeit wurde das archiv der staaten populär, es entstanden vielerorts die bibliothek und das museum. geboren wurde die weltausstellung als neue form der selbstbeobachtung. mit der industrialisierung und der urbanisierung nahm nicht nur das symbolische, auch das schriftliche zu. die sozialreportage wurde erfunden, es multiplizierten sich die reisebeischreibungen. die literatur wurde realistisch, die welt vermessen und kartiert, und die soziologie als diagnose der gegenwarten entstand in paris.

zahlreiche volkszählungen haben ihren ursprung im häufiger werdenden nationalstaat. mit der demokratisierung der republiken und monarchien entstand die presse, die sich zum informationsmittel der massen und zum nachrichtenwesen rund um den globus entwickelte. last but not least ist das 19. jahrhundert die zeit des bildes. mit viel pomp wird die meschheit mit der fotografie beglückt, und genau zum ende der zeitspanne entsteht mit dem film das bewegte bild. das entfernte kam so ganz nah, und ins reale mischt sich das fiktionale.

vordergründig ist es nur ein sprachspiel, das jürgen osterhammel in sein monumentales werk über die verwandlung der zeit einfügt. demnach hat das 19. jahrhundert nicht mehr nur seine erinnerungsorte. in einem bisher unbekannten masse wird es auch durch erinnerungshorte geprägt. hintergründig trifft die metapher die entwicklung der damaligen zeit genauso wie die schätze, die sich mit der zweiten welt der medien für die historie eröffnen, von denen man für frühere zeiten nur träumen kann.

eine tolle anregung, neu durch bern zu wandern, um das 19. jahrhundert zu hören, zu sehen und zu lesen.

stadtwanderer

bern und die stadtentstehungstheorie

mittelalterliche städte wie bern wurden vom adel aus gründen des machtausbaus gegründet. städte wie bern sicherten weiträumige verbindungen, erschlossen ihre region mit märkten und wurden mit mauern vor feinden geschützt.

der walisische geograph harald carter entwickelt in den 70er jahren des 20. jahrhundert eine eigentliche stadtentstehungstheorie. er nannte vier gründe, warum es zu städten kommt:

. den hydraulischen grund: örtlich begrenzt verfügbares wasser begrüdet die stadtentwicklung
. den theologischen grund: ein räumlich fixiertes heiligtum steht am anfang der stadtentwicklung
. den ökonomischen grund: ein markt bildet die grundlage der stadtentwicklung
. den militärischen grund: der schutz in form einer mauer bildet den anstoss der stadtentwicklung.

bern
die zähringerstadt aus dem frühen 12. jahrhundert

wendet man dies auf bern an, merkt man als erstes, was nicht zutrifft. von wassermangel kann man in der furchigen landschaft des aaretals generell nicht ausgehen. bern war bei seiner gründung auch kein religiöses zentrum; das lag in köniz, von dem man in kirchlichen fragen anfänglich abhängig blieb.

die gründung und frühe entwicklung der stadt bern war von herrschaftlicher absicht. der weg von freiburg im breisgau, der ersten zähringischen stadtgründung, nach lausanne sollte städten in regelmässigen abständen erschlossen werden. die lage von rheinfelden, herzogenbuchsee, burgdorf, freiburg, murten, milden/moudon können so gedeutet werden, und bern sicherte die verzweigung nach thun ins oberland, nach freiburg ins üechtland und nach murten durch die seenlandschaft.

bern war von beginn weg ein marktplatz, der aus dem aareübergang im bereich der heutigen untertorbrücke entstand. diese gab es bei der stadtgründung noch nicht. so soll erst ein halbes jahrhundert später gebaut worden sei; zu zeiten der zähringer führten indessen eine fähre an der traditionsreichen stelle über die aare. vielleicht gab es schon vor der stadt eine warenumschlagplatz; sicher ist, dass mit der stadtgründung ein markt entstand, auch wenn auf keine separaten platz, sondern auch der langen gasse durch den ort stattfand. anfänglich diente er als umschlagplatz für lokale produkte aus dem oberland, insbesondere felle von tieren, aber auch eisenwaren, getreide und fleisch. erst in der zweiten hälfte wird bern an den fernhandel angeschlossen, bekommt die stadt ihr eigenes kaufhaus, mit dem auch einflussreiche familien entstehen, die als kaufleute geld machten.

die gründungsstadt kannte noch keine mauern. die aare bot schutz, und am ende der ersten stadt, beim heutigen zytglogge war ein tiefer graben. eigentliche stadtmauern kamen erst mit den savoyern auf, welche in den 1260er jahren mit den habsburgern im krieg standen. dafür baute man die burg an der aare ab mit deren steinen man die stadt sicherte.

ausgehend von carters typologie kann man sagen. bern ist im verbindungsnetz des zähringischen freiburg im breisgau als etappenort an strategisch wichtiger stelle entstanden. die stadt diente den stadtgründern in der mutterstadt freiburg im breisgau, 1118 entstanden, als einnahmequelle, beschaffte sich ihrerseits geld aus dem lokalen handeln. wie in vielen anderen mittelalterlichen städten überwiegt das herrschaftliche bei den motiven für die gründung 1191. die stadtentwicklung wurde durch wirtschaftlichen und militärische gründe, sicher nicht theologische bestimmt. hydraulische scheiden schon im voraus aus.

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lehrmeinungen zu ortsnamen – zum beispiel zu bern

seit über 100 jahren tobt ein deutungskampf, wofür der name “bern” stehe. diese woche wurde von der uni bern eine neu-alte lehrmeinung verbreitet, wonach bern mit verona verwandt sei und direkt auf die zähringischen stadtgründer zurück gehe. ich zweifle.

ankuendigungthomas franz schneider ist ortsnamenforscher an der uni bern. gemeinsam mit seinen kollegInnen gibt er das voluminöse ortsnamenbuch des kanton bern heraus. gestern ist der vierte band der umfassenden serie erschienen.

in der begleitmusik des bund diese woche begründete der basler germanist die neu-alte lehrmeinung, wonach bern eine übersetzung von verona sei und von den zähringern erfunden wurde.

die zähringer waren nach dem tod von kaiser heinrich iii. nicht wie erwartet herzöge von schwaben geworden, erhielten als entschädigung aber den herzogstitel von kärnten. das glück, das sie dabei in verona suchten, fanden sie nicht, und schon bald zogen sie sich aus dem südländischen abenteuer zurück. unter kaiser heinrich V. begannen sie dafür ihre expansion vom stammsitz bei freiburg im breisgau nach süden, während der sie im 12. jahrhundert mehrere städte der heutigen schweiz aufbauten oder neugründeten.

ferdinand vetter, professor für deutsche literatur, verbreitete 1880 erstmals die auffassung, bern sei ein einzigartiger name, der populären sage über den dietrich von bern entlehnt, die auf den ostgotenkönig theoderich zurückgehe, der in verona (eigentlich bern) seinen widersacher odoaker besiegt habe und den ort berühmt gemacht habe. dem widersprach vor gut 100 jahren paul hofer, berner historiker, weil er der germanischen begründung des ortsnamens misstraute. vielmehr leitete er den namen bern aus dem keltischen “berna” ab, meist mit kluft oder schlitz übersetzt. sein argument war weniger literarisch, dafür im geografisch verbreiteten vorkommen von der silbe “bern” ab. daraus schloss er, es handle sich um einen flurnamen, der eine enge stelle oder eine lanschaftskluft, die herrschaftlich interessant war.

der germani(sti)schen lehrmeinung der heutigen berner ortnamenforscher habe ich gestern nach der vernissage des neuen ortsnamenbuches für den kanton bern schon mal widersprochen. thomas franz schneider setzte sich gelehrt zu wehr, wohlwissend, dass die ortsnamenkunde keine exakte wissenschaft ist, in hohem masse bei deutungen stehen bleibt, für die es einige wenige belege gibt. die lassen sich bei weitem nicht immer in eine logik einreihen lassen, aus der eine klare these mit belegen entsteht. so sind lehrmeinungen für die toponomastik typisch geblieben, von denen sich in flall von bern mindestens zwei recht schroff gegenüber stehen.

aus der wenig befriedigenden situation für die wissenschaft, habe ich eine unüblichen schluss gezogen: es geht nicht darum, weitere belege für ortnamendeutungen aus alten chroniken, landkarten oder dem volksmund zu suchen, sondern wandern zu gehen. wenn es gelingt, ortsnamen in den ort einzubinden, hat man den wohl besten beweis für seine entstehung gefunden, denn orte wurden von unseren vorfahren immer wieder nach dem benannt, was sie selber hergaben. und das kann man heute noch nachvollziehen oder sich ausmalen, wenn man die entstehung der zivilisation in der landschaft studiert.

haben den literatisch gebildeten forscher schneider deshalb zu einer stadtwanderung an die aare eingeladen, die uns ins nydegg-viertel führen wird, wo wir den schlitz suchen und finden werden, durch den die aare seit tausenden vor jahren muss und der dem ort seinen sinn mit einem namen gab, bevor er durch die nachfolger der zähringer umgedeutet wurde.

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von grossen ideen, meisterhaften erzählungen und dem leben im kleinen raum der geschichten

es ist ein anspruchsvolles, aber spannendes buch. übertitelt ist es mit “Geschichtsphilosophie zur Einführung”. verfasst hat es johannes rohbeck aufgrund von vorlesungen, die er in dresden für technikerInnen gehalten hatte. seit einigen tagen lese ich mit gewinn darin – wenn mir zeit bleibt.

12912052nfür mitte 2011 ist ein weiteres buch des gleichen autors unter “Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie” angekündigt.

bis zur aufklärung haben sich philospophen nicht systematisch mit geschichte beschäftigt, ist der ausgangspunkt des buches. das ist zwar eine mutige annahme, denn in den antiken kulturen dominierte die vorstellung des (immer)wiederkehrenden die gechichtlichkeit, während die christen mit ihrer heilsgeschichte das zeitliche als wirken gottes deuteten bis zum jüngsten tag deuteten. rohbecks entschied, das einleitend zu seinem buch zu erwähnen, dann aber wegzulassen, beschleunigt das lesen. es bleibt auch so voll von tücken, wenn auch im grossartigen überblick vortrefflich vereinfacht und meisterhaft dargestellt.

vom fortschritt in der geschichte
die wichtigste geschichtsphilosophische frage der aufklärung ist die nach dem fortschritt: techniker neigen seither zu einem ja, denn neue technologien setzen sich nur dann durch, wenn sie einen mehrwert haben. kulturhistorikerInnen sind da vorsichtiger. sie verweisen auf das werden und vergehen menschlicher zivilisationen, die immer wieder neue antworten suchen und damit vorübergenden erfolg haben, ohne dass sich ist, ob sich daraus ein fortschreiten der menschheit ergibt.

im ersten buchteil schliesst sich rohbeck der fortschrittsidee voll und ganz an. analysiert wird das entstehen der universalgeschichte im späten 18. und frühen 19. jahrhundert, auf der denker wie rousseau, kant, insbesondere aber auch hegel und marx ihre je eigenen fortschrittsgeschichten verfasst haben. voraussetzung hierfür war die säkularisierung, die kritik am dogmatischen christentum und seiner verfestigung in kirchen, was den raum für aufgeklärte weltbilder eröffnete. die menschheitsgeschichte beginnt seither nicht im judentum als erstem buchvolk, sondern in den frühen hochkulturen, wie der ägyptens. mit der zivilisationsgeschichte des 19. jahrhunderts verlagert sich der ort der ursprünglichen geschichte immer weiter ins ungewisse, während die zeit eine beschleunigung erfährt. weit zurückliegendes veränderte sich in der retrospektive kaum, während die zeitgeschichte durch rasanz bestimmt wird. begründet wird dies alles im fortschreitenden fortschritt. diesem naturwissenschaftlichen verständnis vor allem von entwicklung steht eine neue teleologie gegenüber, die sich im wirken der vernunft zeigt. diese ist seit den alten griechen dort am weitesten ausgebreitet, wo auch immer auf dem erdball die spitze des fortschritts angelangt ist.

von der wissenschaftlichkeit der geschichte
in der folge analysiert rohbeck zwei strömungen, die daran zweifelten: den historiums, der das konzept eine materiell sinnvollen geschichte zugunsten methodischer sicherung der geschichtswissenschaft aufgab, und die posthistorie, die ganz allgemein die möglichkeit von geschichte negiert. ersteres verortet er als typische strömung der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts, zweiteres als phänomen des späten 19. und des ganzen 20. jahrhunderts. beide, ist rohbeck überzeugt, haben ihre berechtigung in der gegenwart, weshalb er auch nach aktuellen vertretern sucht und sie auch findet.

der historismus reflektierte die erfahrung des industriezeitalters, mit dem sich mehr als je zuvor alles änderte. ewige werte wurden diskreditiert, der wandel der menschlichen lebensbedingungen zum neuen massstab. geschichte sollte zur fundmentalsten aller wissenschaften werden, welche das geschichtlich gewordene im menschlichen dasein immer wieder neue darstelle. zentrale autoren wie droysen, dilthey und troeltsch werden hierfür vorrgestellt, weil sie der frage nachgingen, wie historische erkenntnis möglich wird. unzweifelhaft ist geschichte so zur geisteswissenschaft geworden, die nicht mehr spekulativ den fortschritt bestimmt, dafür die quellen sichtet, kritisiert und interpretiert, um zu gesichterten aussagen zu gelangen. die aktuelleste form des historismus ortet rohbeck in den darstellungen des menschlichen bewusstseins von hayden white, der ganz den liguistic turn in den geisteswissenschaft vorwegnehmend, geschichte als poetik neu bestimmt hat. ohne erzählung keine gesichte, und ohne helden keine erzählungen. was die helden in der geschichte geleistet haben, sei aber verschieden, bestimmte white, und gäbe es romanzen, komödien, tragödien und satire nicht nur literatur, auch in der geschichte.

vom ende der geschichte
radikalere noch kritisiert die posthistorie das moderne programm der geschichtsphilosophie. denn die verheissung der aufklärung – fortschritt, wohlstand, demokratie, emanzipation – hätten sich alle nicht erfüllt. begonnen hat alles mit burckhardt weltgeschichtlichen betrachtungen, gesteigert wurde es mit nietzsches abrechnung mit der kultur, und mit adorno erreichte die posthistorische kritik ihren höhepunkt, der angesichts der katastrophe der weltkriege radikal mit dem optimismus der aufklärer abrechnete.

posthistorie meint man natürlich nicht, dass es keine zukunft mehr geben würde. doch bleibt von dem, was man mit der säkularisierung der geschichte in sie hinein proijzierte, nichts übrig. da kommt keiner am geschichtsbild von jean-francois lyotard nherum. nach ihm hat sich der fortschritt nicht in licht, sondern neue dunkelheit gebracht. die menschen seien in der moderne nicht befreit worden, sondern gesellschaftet. ihr horizont habe sich nicht erweitert, vielmehr sei er verstümmelt worden. damit verbunden ist die kritik am ökonomismus, denn “der weltmarkt macht keine allgemeine geschichte im sinne der moderne”. wie viele der posthistoriker misstraut er überragenden erzählungen, aber auch ihren kritikerInnen, weil sie die entwicklung der menscheit nicht mehr beeinflussten – und empfiehlt, sich von den grossen dingen abzuwenden, und sich dem lokalen zuzuwenden, um die entstehung von geschichte im konkreten neu zu bestimmen.

von der faszination geschichte immer wieder neu zu erfinden

während meines studiums der geschichte habe ich mich immer wieder mit fragen der “theorie der geschichte” herumgeschlagen. einerseits stand die herausforderung der sozialwissenschaften an, die theorien für neuen formen der wirtschafts- und sozialgeschichte anboten. anderseits faszinierte die alltagsgeschichten der ethnologie und psychoanalyse, die verhiessen, dass es jenseits der geschriebenen quellen neues material zu entdecken gäbe. selbst wenn ich die theorie der geschichte zum thema meines abschlussexamenes bei walther hofer gemacht hatte, musste ich mir eingestehen: die geschichte als erzählung, als wissenschaft, als philosophie neu zu entdecken, ist mega schwer.

das ist mir beim lesen von rohbeck vorzüglicher einführung wieder in den sinn gekommen: denn so treffend seine übersichten in den drei teilschritten sind, so flach bleibt seine synthese zur zukunft der geschichtsphilosophie. das ist denn auch die einzige kritik, die ich hier äussere, verbunden mit dem gedanken: dass die grosse idee in der geschichte immer noch fasziniert, die kritik an der mangelnden wissenschaftlichkeit der geschichtsphilosophen begründet bleibt und der zweifel am sinn des unterfangen auch mich nagt, aber nicht soweit, dass ich nicht mit wiederkehrender lust erzähle, den kleinsten raum schätze, ohne die grosse geschichte aus den augen zu verlieren.

stadtwanderer

berner cafe postgasse – die hinterste beiz in aussenbezirk von marseille

sie hat “ja” gesagt, gab die wirtin ihrer freude ausdruck. die gäste in der strasse fragten sich zu was?
es hat geklappt, bald schon wir sie königin sein. da war es uns an den mittagstischen klar, dass es um kate, äxgüsi, herzogin catherine ging.

lange lenkte mich das thema nicht ab. was die gegenwart betrifft bin ich republikaner – und demokrat. wenn es um monarchien geht, faszinieren mich die, bevor die revolutionären gedanken von jean-jacques rousseau, alexis de tocqueville oder benjamin barber staats- und regierungsverständnis prägten, indem es nicht nur feiernde untertanen, auch anspruchsvolle staatsbürgerInnen gibt.

uns so wandte ich mich von den grossen geschehennisse der zeit ab und dem wunder des kleinen ortes wieder zu. denn aufgetischt wurde ein prächtiger postgass-salat. frische blätter, einige pilze und etwas gebratenes poulet lagen schön zubereitet vor mir, sodass ich nur zustechen musste. dazu gab es ein herrlich gekühltes bier. genauso wie ich es an einem solche warmen frühlingstag liebe.

im winter versteckt man sich gerne im engen berner café postgass. das ist es schön warm, vom grossen offen, von der küche und von den gästen zwischendrin. im sommer bleibt man lieber draussen. ein paar kunstbäume markieren den bezirk, wo man auf sonst offener strasse essen und trinken darf. die wirken ein wenig wie eine alte stadtmauer, mitten in der stadt.

die tische im cafe postgasse sind aus einfachem holz, die stühle nicht minder so. dafür ist die bedienung stets fix und herzlich. und die kleine karte hat immer was grosses aus der hausmansskost. als koch amtet stephan hofmann, den service macht regula hofmann. seit ich das cafe besuche, sind sie das wirtepaar. wie lange das genau her ist, weiss ich nicht wirklich, 10 jahre, vielleicht auch 20.

die spezialität der beiden sind fischsud mit muscheln. im kalten tagen seien sie aus der normandie, sagt man, im heissen aus dem mittelmeer. die bouillabaisse ist in bern und einiges darum herum bekannt – und beinahe so berühmt wie in marseille.

das sage ich meinen gästen bei stadtwanderungen denn auch immer: kulturell ist bern eine brückenstadt, ein ort der vermittlung zwischen den nachfolgern der alemannen rechts der aare und den burgundern links der aare. die nydegg ist seit menschengedenken der hauptsächliche übergang – nur wenige schritte vom postgässli entfernt. und da man in dieser altstadtgasse auf ehemals burgundischem boden ist, ist das cafe postgasse sowas wie die hinterste beiz von marseille. womit wir doch wieder bei erinnerungen an grosse zeiten wären.

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kaffeehaus einstein in bern

wenn sich der berner theatermann lukas leuenberger etwas in den kopf setzt, macht er was draus. vor ein paar jahren war es die inszenierung von schillers “wilhelm tell” auf dem legendären rütli. jetzt ist es das restaurant “einstein”, im parterre des einsteinmuseum in berns altstadt.

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bis vor ein paar jahren hiess das restaurant zum “untern juker”. das angebot war mässig, und die bedienung abweisend, wenn man nicht zur stammkundschaft zählte, die immer mehr ausblieb.
eigentlich war das schon eine katastrophe. denn im gleichen haus hatte albert einstein vor gut 100 jahren gelebt und geforscht, und aus seiner wohn- und arbeitsstätte ist seit dem jubiläumsjahr 2005 das einstein-museum geworden.
dann ging der untere juker ganz zu, und das war nicht minder schlimm: ein museum ohen kaffee – das gibt es nicht!

seit anfangs april ist alles anders. “relatively the best”, führt das “einstein“, wie das neue kaffehaus heute heisst, im untertitel. das ist anspruchsvoll und vielversprechend zugleich.
wer die probe aufs exempel macht, wird nicht enttäuscht. der innenraum quer durch die häuserzeile wurde gründlich ausgeräumt. die küche ist jetzt im ersten stock, was einen durchblick erlaubt.
von der kramgasse aus gibt es ein paar plätze für passantInnen, die es eilig haben. sie bekommen einen sitzplatz in reihe, und einige lokalzeitungen zum schmökern. in der mitte ist die bar, mit eigenem kaffee, soft- und harddrinks.
und wer von der münstergasse her kommt, findet eine gemütliche lounch mit kamin und ledersesseln vor, samt einigen tischen zum verweilen und essen.

der service ist noch etwas holperig, dafür aber freundlich. meine tagliatelle mit spargel und morcheln sind im nu serviert, dampfen ganz heiss und schmecken hervorragend. nur als man den käse reicht, um alles zu verfeinern, zerfällt er der trockene in zwei teile – einen davon mitten im teigwarenteller. der kellner getraut sich nicht in mein essen zu greifen, und ich wage es kaum, seinen käse herauszufischen …

das publikum im einstein ist grossmehrheitlich jung und international. genauso wie es einstein war, als er in den oberen stockwerken des hauses seine kleine bleibe für sich und seine familie hatte. neben mir spricht man spanisch, vor mir schriftdeutsch, und ich unterhalte mich mit einer dame, die fotos vom neuen lokal macht, auf gut bernischem dialekt.

ein gewinn für die berner altstadt, denke ich mit, als ich den hauseigenen kaffee gekippt habe, und mich daran mache, die mittelteure rechnung zubegleichen.

dank der zündenden idee von lukas leuenberger ist schon mal ein guter startschuss gemacht worden. ost daraus auch im vergleich das beste angebot wird, wird man am besten bestens daran bestimmen, dass die besucherInnen des museums nicht nur vom brühmten wissenschafter, sondern auch vom berühmten kaffeehaus in aller welt erzählen werden.

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der charme von käse, schokolade, uhren und bergen trügt(e)

im dritten und vierten teil seiner übersicht über die berner (wirtschafts)geschichte geht historiker und journalist stefan von bergen auf den aufstieg und niedergang der berner ökonomie – und der rolle von politik und unternehmern hierbei.

StaldenChocolaitsinnbild für die traditionsreiche, aber nicht zukunftsträchtige berner wirtschaft: die unvergessliche stalden-crème

als eigentlicher einschnitt mit dem selbstverständnis, schweizerische spitze zu sein, bezeichnet der autor den 1968 erstellten bericht der volkswirtschaftsprofessoren paul stocker und paul risch. ihre röntgenaufnahme, unter dem titel einkommenslage und wirtschaftsstruktur des kantons bern dem regierungsrat vorgelegt, ist alarmierend.

hauptbefund: der ertrag aus der wehrsteuer liegt unter dem schweizerischen schnitt – tendenz ungebremst sinkend. begründet wird dies im übermässigen agrarsektor, der die entstehung von industrie und dienstleistungen behindere. uhren- und schoggifabriken prägen die wirtschaft; sie bauen auf vielen kleinbetrieben mit wenig rationalisierung und tiefen löhnen, die weder günstig für den konsum sind, noch im internationalen wettbewerb bestehen können.

dabei hatte alles gar nicht so schlecht begonnen. von bergen nennt die zeit zwischen 1890 und 1920 die berner belle epoque. gebaut werden alpenbahnen, die den weltweiten vergleich nicht scheuen müssen, es kommt mit der bkw ein stromnetz auf, das in europa führend ist, und eisenbahnen wie elektrizität befördern den tourismus aus dem ausland, namentlich im berner oberland. zwischen 1920 und 1980 gerät bern nach von bergen jedoch in eine abwärtsspirale.

symptomatisch dafür ist die entwicklung der milchverarbeitung. die berühmte stalden-creme, der stolz der berner nahrungsmittelherstellung, wird durch den kühlschrank in den 50er jahren ausrangiert. kondensmilch wird überflüssig, denn die milch wird haltbar. die nachfahren der firmengründer sind keine wirklichen pioniere mehr. und so kommt es zur übernahmewelle. nestlé hatte das angebot diversifiziert und sich internationalisiert. der multi lief den berner firmen im milchgeschäft den rang ab. in den 70er jahren traf es auch toblerone und ovomaltine. die auslandnachfrage entwickelte sich – jedoch an den klassikern aus bern vorbei! 1967 wurdr die wander von der basler sandoz übernommen, später an associated british foods veräussert, die produktion konzentrierte man in neuenegg. 1970 fusionierten suchard mit tobler, die 1991 in der philipp-morris-gruppe aufging, und heute in bern-brünnen arbeitet.

von bergen hat zwei thesen: die eine betrifft die altlasten mit der übernahme des jura. die anderen den politischen wandel. letztere gefällt mir besser, denn mit den wahlen 1919 wurde die freisinnige vorherrschaft gebrochen, die wirtschaftlich auf industrialisierung und freihandel gesetzt hatte. auf anhieb eroberte die neue bgb, die bauern-, gewerbe- und bürgerpartei von ruedi minger, die hälfte der nationalratssitze, und auch im grossen rat war sie schnell vergleichbar stark,. zuerst regierte sie alleine, dann sicherte sie mit hilfe der freisinnigen die konservative politik ab. auf dem land bleibt sie unangefochten die politische macht. ihre lokalfürsten schauten, dass die subventionen in alle ecken und ränder des kantons verteilt wurden, und man dafür lückenlos die stimmen einsammeln konnte.

den befund der wirtschaftskollegen von 1968 spitze der berner wirtschaftshistoriker christian pfister nachträglich noch zu: “Ab 1920 fällt die Berner Wirtschaft unter der BGB-Aegide in den alten Trott zurück und begnügt sich fortan mit dem gemütlichern Charme von Käse, Bergen, Uhren und Schokolade.”meinerseits füge ich bei, die ursache liege vermutlich tiefer als im fehlverhalten der staatspartei: denn das schicksal der modernisierung berns liegt im verhältnis von stadt und land, das seit der bürgerlichen Revolution der 1830er jahren ungeklärt bliebt. sein selbstverständnis entwickelte der kanton stets in abgrenzung zur hauptstadt, und er verstärkte die problematik zwischen ruralem und urbanem kanton mit der konservativen wende um 1920 nochmals, sodass der einstmals führende stand der eidgenossenschaft man von den internationalen entwicklungen überrumpelt im nationalen mittelfeld und globalen abseits landete.

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mein kommentar zu teil 2
mein kommentar zu teil 1
die serie im original