st. galler frauen

diese woche bin ich in st. gallen. zwei frauen beschäftigen mich.

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meine lehrveranstaltung an der hsg halte ich diesmal als blockseminar ab. es ist den ständeratswahlen gewidmet. prominenter gast am mittwoch ist regierungsrätin karin keller-sutter, eine der vier kandidatInnen für die wahl im kanton st. gallen. mehr dazu auf meinem berufsblog.

natürlich interessiert mich in st. gallen eine andere frau ebenso. wiborada wird sie geheissen. ob das ein wirklicher name ist, bin ich mir nicht ganz sicher. denn unzweifelbar steckt “weiberrat” in diesem althochdeutschen wort. das kann eine person gewesen sein, aber auch eine eingebung.

gemeint ist die legendäre figur, die beim einfall der ungarische reiter 926 das kloster auf unkonventionelle art verteidigte. es soll ihr gelungen sein, wertvolle schriften vor der verbrennung zu schützen. deshalb ist sie bis heute die schutzpatronin der bibliotheken und bücherfreunde. das macht sie mir sympathisch.

wiborada soll die letzten 10 jahre als inklusin gelebt haben. gemeint ist damit, dass sie in einem enge gemäuer, das sie nicht verlassen konnte, hauste. in ihrer zeit war das keine seltenheit, vor allem bei frauen. denn es schützte vor überfällen, war es doch kaum einzunehmen. 1047 wurde sie, als erste frau überhaupt, von der katholischen kirche heilig gesprochen. bis heute ist der 2. mai im bistum st. gallen ein lokaler feiertag, an dem man ihr gedenkt.

und so werde ich, wie in früheren zeiten viele vor mir, am donnerstag zwischen rosenberg und kirche st. mangen pilgern, dem ort, wo die strenge asketin von damals gelebt haben soll.

jetzt muss ich aber schlafen gehen, denn morgen werde ich dem rat der regierungsrätin horchen, die in die kleine kammer nach bern will, um den überfall der svp-auf den ständerat wenigstens in st. gallen zu verhindern …

mehr zu alledem im verlaufe der woche.

stadtwanderer

bärn – seit 1191

bern hat einen neuen film über sich und seine bären. heute war premiere in der cinematte. ein gelungener auftakt für “bern – seit 1191”.

HBlUw14N_Pxgen_r_900x588das ende einer stadtgeschichte: pedro, der letzte bär im alten bärengraben, seit 1513 ein fester bestandteil des berner stadtlebens, wird 2009 krankheitshalber eingeschläfert.

der film “bärn – seit 1191” beginnt mit der bekannten stadtlegende. gründer herzog berchtold v. von zähringen habe beschlossen, die stadt nach dem ersten tier zu nennen, das im eichenwald an der aare erlegt würde. und das sei ein bär gewesen. eine stimme auf dem off widerspricht, und sie erzählt, filmisch unterstützt, die wenig geläufige fassung der gründungslegende. mechthild, eine edle, sei mit ihren kindern von einem wolf angegriffen – und von einer bärin verteidigt worden. diese habe sie, vom kampf verletzt, in ihre höhle zu ihren jungen geführt, wo sie verstorben sei. der herzog habe, als er vom opfermut der bärin gehört hatte, die jungen adoptiert und die stadt nach der heldin benannt.

unweigerlich fühlt man sich an die dramatischen tage im frühwinter 2009 erinnert, als finn, das männchem im neuen bärenpark von der polizei angeschossen wurde, nachdem er einen eindringling angegriffen hatte. die geschichte bewegte die stadt, wie kaum eine andere, ging medial um die welt, und die aufmunternde post samt honig liessen finn wieder stark werden. zwischenzeitlich hat björk, das bärenweibchen, zwei junge geworfen, berna und ursa, die bald schon ein neues zuhause brauchen. dann wird der erste rummel vorbei und vielleicht wieder etwas normalität einkehren.

der dokumentarfilm über das geradezu symbiotische verhältnis von bär und mensch in bern, den daniel bodenmann 2010 gedreht hat und der heute in der berner cinematte premiere hatte, geht den unzähligen bärengeschichten in der bundesstaat nach – in der gegenwart wie auch in der vergangenheit. zu wort kommen zum beispiel bärenwärter, die früher mit bären bis zum bahnhof spazieren gingen. ihr prestige war mit dem des stadtpräsidenten vergleichbar. der macht im film auch mit, meint kurz und bündig, man hätte den neuen bärenpark kaum gebaut, hätte man gewusst, wie kostspielig das werde. dem widerspricht der ceo der mobiliar, hauptsponsor der neuen touristenattraktion in bern. ganz manager aus zürich, lobt er das ziel, zu dem man von beginn weg gestanden sei, und es auch nicht aus den augen verloren habe, als es schwierigkeiten gab. barbara hayoz, die unglückliche mutter des bärenparks, bleibt da noch anzufügen, dass die stadt so unfreiwillig zum handkuss in millionenhöhe gekommen sei.

das alles ist in bern bekannt, und diese geschichten hätten kaum einen ebenso spannenden wie informativen dokumentarfilm abgegeben. denn der streifen erzählt auch geschichten, die kaum herumgeboten werden: wie die von der bärenjagd im bärengraben. lange erlegte man alte bären mit gewehren, wobei der präparator des naturhistorischen museums höchstpersönlich von der balustrade schoss, um das tier fachmännisch zu erledigen, ohne das fell zu beschädigen. anschliessend verzehrte man, bei einem kleinen fest im kleinen kreis, das bärenfleisch im benachbarten hotel adler. das beste stück ging an den stadtpräsidenten. alex tschäppät erinnert sich, dass es bären gab, die nach seinen eltern benannt worden seien. das habe ihn als junge gefreut. wenig erbaut war er jedoch, als dann auch sie geschossen und gefuttert wurden. diesen brauch pflege man in “seinem” bern nicht mehr, hält der stapi fest.

an der heutigen premiere waren viele, die den film miterzählen, anwesend – vom letzten bärenmetzger bigler bis zum jetzigen bärenparkdirektor schildger. der stand dem projekt der filmemacher anfänglich ziemlich negativ gegenüber. nach dem turbulenten start mit dem neuen gehege wollte er keine unnötige publicity durch sensationsjournalisten mehr, die nur geld machen wollten. davon ist nichts geblieben. bodenmanns team ist alles andere als reich geworden, und der oberste bärenwärter in bern lobte das einfühlsame werk beim apéro. die konrahenten von damals machten ob ihrer gemeinsamen freude spontan duzis.

ich kann mich dem positive urteil von höchster warte nur anschliessen. entstanden ist ein film mit rhythmus, ohne chichi, dafür mit gehalt. am 17. april kommt er in die kinos, und im herbst soll er als doc-film im schweizer fernsehen ausgestrahlt werden. vorgesehen ist, dass eine dvd entsteht, und das material von bern tourismus weiterverwendet wird.

mich freuts, auch für die einfälle zu berns bären und geschichte(n), die ich in verschiedenen interviews während mittagspausen und stadtwanderungen beisteuern durfte. berna, lüfte ich das geheimnis um den stadtnamen im abspann, sei nicht schwäbisch und komme auch nicht von den zähringern. vielmehr sei es das keltische wort für schlitz, geformt durch zwei grosse molassebrocken unter der nydeggbrücke, durch den die aare seit menschengedenken fliesse. das würde einen weiteren film füllen, über bern – vor 1191.

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schweizer identitäten: wohin entwickeln sie sich?

in vielem stiften die alpen schweizerische identität. wir sind die mutter der ströme europas und damit mitten drin, und dank uns gibt es verbindungen über und durch die alpen. von aussen her gesehen sind die schweizer häufig ein alpenvolk, von vor- und nachteilen: gleichzeitig gilt unsere lebensweise als urban unverdorben, sind wir aber auch das putzige land zwischen den grossmächten.

1267718343000unser pass und unsere identität: gleichzeitig unverkennbar schweizerisch und von schweizerInnen wie ausländerInnen anerkannt; mehr zum identitätsbarometer 2010 gibt es hier

in dieser optik sind wir nicht selten die erfinder der unmittelbaren demokratie, gleichzeitig auch die zurückgebliebenen im europäischen einigungsprozess. genauso oszilliert das bild vom guten und schlechten: in jedem schweizer steckt ein hirte, der darauf achtet, das die landschaft nicht übernutzt wird, während in jedem hirten auch ein sodomit steckt, wie man einsamen bergler nennt, die es mit tieren treiben. doch wehe, wenn man uns, politisch inkorrekt, kuhschweizer heisst, denn dann zahlen wir es den sauschwaben mit der gleichen münze zurück.

schweizerische identitäten – ich ziehe hier den plural bewusst vor – sind seit der finanzmarktkrise von 2008 und ihren negativen auswirkungen auf die globale krisen gefragter denn je. die globalisierung, ein projekt der wirtschaft, ist diskreditiert. die gier der banken hat zum moralischen zerfall geführt. die einfallslosigkeit der energietechniker beschert uns weltweit verstrahlte umwelten. die bocksprünge an den finanzmärkten hat das wirtschaftswachstum in der westlichen welt gestoppt, und die natur- und zivilisationskatastophen zerstören jeden sachten wiederaufbau der ökonomien.

die öffnung der schweiz, wirtschaftlich und politisch, hat das bedrohungsgefühl verstärkt und verändert. massenhaft beklagt werden nicht mehr die polarisierung und der so ausgelöst reformstau. vielmehr ist die migrationsfrage ins zentrum der aufmerksamkeit gerückt, aber auch der probleme und problemursachen. am verlorenen sicherheitgefühl sind die kriminellen ausländer schuld. an den hohen wohnungspreisen auch. vergessen geht dabei, dass sie einen viertel der erwerbstätigen ausmachen, uns geholfen haben, die krise besser als andere zu meistern, universitäre forschung auf spitzenniveau zu bewahren und den betrieb der spitäler aufrecht zu halten. unter geht auch, dass danke der zuwanderung die überalterung der schweizer bevölkerung gebremst und damit die ahv gesichert werden kann.

daraus lässt sich keine drang zu einer identität ableiten. die einheit in der vielfalt bleibt die wichigste bestimmung der schweiz. immerhin, diese hat einige gute grundlagen: stolz können wir sein, dass unsere arbeitslosenzahlen geringer sind als im ausland, wir im innovationsrating unverändert weltmeister sind und der ruf der schweiz weltweit gesehen vielerorts gar besser ist als in der heimat selber. denn wir haben eine solide basis mit unserer patronwirtschaft in den vielen kmu-betriebe, verstärkt durch einige international tätige unternehmen. schweizer uhren und angehängte akzessoires strahlen global, und künden von starken marken, die ihren ursprung in unserem land haben.

weil es uns gut geht, sorgen wir uns verbreitet um unsere eigenständigkeit. wo es konflikt gibt, wollen wir neutral bleiben. wo es etwas zu dienen gibt, sind wir aber dabei. wir rühmen uns, wenn es um das zusammenleben von sprachkulturen geht, selbst wenn wir wissen, das die harten gegensätze heute zwischen städter und landleuten auftreten. wir glauben, die einzigartigste direkte demokratie der welt zu sein, selbst wenn das wachstum an volksabstimmungen im ausland gegenwärtig höher ist als im inland. und wir halten konkordanz und sozialpartnerschaft hoch, auch wenn sich arbeitgeber und arbeitnehmer in fragen der sozialwerke unseins sind, und die brunners und levrats in bald keine punkt mehr gemeinsamkeiten haben.

bei allen unterschieden zwischen genf und appenzell, zwischen baslern und tessinerInnen: das nationale ist schweizweit wieder in, schrieb ich vor einige monaten im schlussbericht zum identitätsbarometer, den unser institut seit einigen jahren regelmässig für die credit suisse erstellt. hauptgrund: die swissness schützt uns davor, in der massengesellschaft auf- und unterzugehen.

das war noch vor der abstimmung über die ausschaffungsinitiative für kriminelle ausländerInnen. es war auch vor dem start zum wahlkampf. seither hat sich einiges zugespitzt und ich bin zwischenzeitlich nicht mehr ganz sicher, ob aus der analysierten swissness-welle nicht eine eigentlich nationalistische geworden ist. denn das ist die schwäche aller bestimmung nationaler identitäten: dass sie dazu neigen, sich mit selbstbildern begnügen und sich um fremdbilder scheren. bei einem menschen würde jeder psychologe sagen, das so keine identät entstehen kann, denn die ergibt sich aus der gewachsenen übereinstimmung von wunsch- und spiegelbild. leider gibt es kaum jemanden, der das nationen und ihren politikerInnen so eindringlich sagt.

vielleicht gelingt es morgen, wenn in der arena die schweizer identität an der schwelle zum wahlkampf 2011 diskutiert wird.

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berns zug der modernisierung

das passt gut zu meiner aarberger-geschichte von gestern. in seinem zweiten teil zur bernischen geschichte, sucht der preisgekrönte berner historiker und journalist stephan von bergen nach gründen, warum bern mit der industrialisierung den wirtschaftlichen anschluss an zentren wie zürich, basel und genf verpasst.

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scb – damals noch für schweizer centralbahn stehend – als promotor des frühen eisenbahnbahns von olten nach bern und bieln

“Die Bahn zeichnet die Landkarte der Lebens- und Arbeitsräume neu. Die alte Topogragfie, in der sich Verkehrswege und Siedlungen auf sicheren Anhöhen befanden, wird umgedreht. Die Bahnlinien verlaufen in den Tälern und werten einst unansehnliche Gewerborte auf. Ob ein Dort an eine Bahnlinie zu liegen kommt, entscheidet über dessen wirtschaftliche Zukunft.”

das ist die these, auf der der essay von bergens aufbaut.

in den kanton bern dringt die eisenbahn 1857 vor. die centralbahn baut von olten aus die linie nach herzogenbuchsee und bern. zwei jahre später wird die verbindung nach thun eröffnet, nochmals drei jahre später die nach fribourg-lausanne.

der bau der verbindung von biel über bern nach langnau bringt die wende. das private unternehmen geht bankrott, der kanton muss einspringen. “In Zürich sind finanzstarke Privatunternehmer wie Eisenbahnbaron und Nationalrat Alfred Escher und ein wachsender Bankensektor treibende Kräfte, in Bern Juristen wie Eschers Gegenspieler Jakob Stämpfli”, vergleicht von Bergen die unterschiedlichen Entwicklungen.

die bahn, so seine feststellung, legt mankos des kantons bern offen: seine konzentration auf die agrarwirtschaft, sein schwach ausgeprägtes unternehmertum und sein verharren in kleinen räumen.

christian pfister, emeritierter professor für geschichte an der universität bern, sagt es noch deutlicher: “Die Bahn hat in den ersten drei Jahrzehnten im Kanton Bern nur auf Modernisierungsinselns wie Bern, Biel, Thun, Burgdorf oder Langental industrielle Impulse ausgelöst.”

warum, weiss die geschichtsforschung bis heute nicht wirklich!

schade, sage ich dazu. denn das ist die entscheidende frage. im geschichtsunterricht lehrt man ja immer noch, dass die aarekorrektion in der 2. hälfte des 19. jahrhunderts die wirtschaftsentwicklung geändert, die grundlage für die elektrifizierung gelegt und damit der meilenstein in der wirtschaftsgeschichte war, der 1914 – zurecht – zur in die landesausstellung in bern als höhepunkt der nationalen entwicklung vor den weltkriegen geführt hat.

solange die optimistische und pessimistische sicht der dinge wissenschaftlich nicht geklärt ist, dominieren bilder wie die von rené fritz allemann in seinem buch “25 mal die Schweiz”: während bern in sich ruhe, denke zürich über seinen kreis hinaus, heisst es da. die aarestadt sei “eine art oktopus, der die lebendige kraft der nation aussaugt”. das mag von bergen nicht stehen lassen und kontert: während bern bis heute die berühmte milliarde aus dem finanzausgleich beziehe, bekomme zürich via eth jährlich ebenso viel geld aus der bundeskasse!

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der auf- und abstieg auf und von schloss ferrette

heute gab es einen ausflug in den sundgau. das mittelalterliche städtchen ferrette, vormals pfirt, war das ziel. der auf- und abstieg zur schlossruine glich einem gang durch die bewegte geschichte des elsäsischen ortes.

der aufstieg war steil. er führte an der gotischen kirche vorbei. rechter hand streifte man schweren schrittes die häuser des friedensrichter, des bürgermeisters und des örtlichen grafen. dann war es fertig mit dem mittelalterlichen pflaster. man bog scharf nach links, folgte einem holprigen weg aus herd und stein, der im ehemaligen schlosshof mündete. gut 600 meter über meer ist die ruinen gelegen. noch heute bietet sie eine wunderbare aussicht über den sundgau. im norden sind die hügelzüge weich, im süden wirkte der jura schon rauher.

rauh ging es in ferrette auch während der französischen revolution zu und her. denn die erbosten bauern und bürger des elsässischen städtchens schleiften das schloss, auf dem seit dem westfälischen frieden gefolgsleute der französischen könige hausten. sie alle trugen den titel eines grafen von pfirt, den die franzosen dem kaiser in wien nach dem 30jährigen krieg abgenommen hatten. die habsburger waren, wie könnte es anders sein, durch heirat albrecht ii., dem königssohn, mit johanna, der erbin von pfirt, wie ferrette früher hiess, in seinen besitz gekommen. und so ist auch das schloss entstanden: die oberburg wurde im 12. jahrhundert von einem friedrich von ferrette voller zuversicht in einer properierende phase der geschichte gebaut, die unterburg liess erzherzog maximilian errichten, nachdem der ort in den burgunderkriegen gelitten hatte.

vom städtischen charakter des französischen ortes in früherer zeit zeugt heute vor allem das rathaus. es ist, wie in den chroniken steht, in einem rot aus ochsenblut gehalten, und es fällt noch heute als markantes gebäude am schlossweg auf. das tor am stadteingang steht indessen nicht mehr, und auch sonst ist einiges heruntergekommen in ferrette. typisch dafür ist, dass das “st.bernhard”, das restaurant unmittelbar neben der gotischen kirche, selbst am sonntag zu hat. krankheitshalber vorübergehen zu, steht auf der tafel geschrieben, die früher wohl das sonntagsmenü ankündigte. dieses reicht man an diesem tag bei den asiaten als take away, und im “collin”, von wo es noch nach dem bekannten traditionsteller mit sauerkrauf, wurst und speck riecht. die serviertochter, die uns am place charles de gaulle bedient, macht ihre sache bestens, friert aber ein wenig, wenn sie auf die terrasse kommt – vielleicht, weil ihre nylonstrümpfe eine lange fallmasche haben.

der berühmteste zeitgenosse ferrettes ist prinz albert von monaco, dessen vorfahren den örtlichen grafentitel vor den revolutionären franzosen gerettet haben. kümmern tun sich die grimaldi, ausser bei ausgewählten repräsentativen anlässen, wo graf albert auftaucht, um den ort nicht. die bilder des konservativen bürgermeisters françois cohendet strahlen nicht viel zuversicht aus. von beruf war der heute 67jährige masseur. seit der pensionierung massiert er die politischen seelen der knapp 1000 einwohner, die man in der cluse noch zählt. aggressiv wirbt dafür der front national. die drei telefonnummer für alle fälle sind auf jedem plakat: jene der polizei, der feuerwehr und des parteisekretärs. ob hilft, zweifle ich. denn die unfälle, die ferrette geschadet haben, liegen weit in der geschichte zurück.

so steil der aufstieg auf den felssporn, so steil wirkt auch der abstieg des provinzstädtchens. schade, denke ich mir. doch weiss ich, dass der ort schrägen charme bewahrt hat, und seit einem viertel jahrhundert kehre ich gerne immer wieder in den pittorseken ort im südlichen sundgau zurück.

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die andere stichwahl

geladen hatte der trachtenverein wohlen. gekommen waren 250 personen, die meisten aus meiner wohngemeinde wohlen. es wurde getanzt, gesungen, gegessen und getrunken – und zwischendurch gabs das theater “stichwahl”.

“aerger für herger” war das motto des volkstheater. matthias herger, berner nationalrat der stadtlandpartei, wollte seit langem kantonalpräsident seiner partei werden. die belastung durch die politik war hoch, das eigene unternehmen lief schlecht. eine eigentlichen durchbruch erwartete der gut 50jährige durch seine wahl – weniger für die partei, mehr für sich! das sah patrizia bichsel, eine dreissig jährige anwältin unter den parteimitgliedern genau umgekehrt. frischer wind durch frische leute sollte der partei neues leben einhauchen – mit ihr als präsidentin.

dramatik kam in die aufführung, als die hintergründe der stichwahl ausgeleuchtet wurden. denn herger war im vorjahr nicht mit seiner parlamentskommission in die ukraine gereist, sondern in seine heimatgemeinde, wo er sich in seinem ferienrustico auf eine liebschaft einliess. überrascht wurde er dabei von seiner erwachsenen tochter, denise, die sich danach entsetzt ins auto stürzte und unter mysteriösen umständen einen schweren unfall baute, der ihre persönlichkeit entstellte. das verhältnis hatte herger ausgerechnet mich bichsel, seiner parteikollegin, die nun gegen ihn antrat.

die wahl fand im tagungszentrum der heimatgemeinde von herger statt, gerade neben dem rustico. mit der ankunft der familie herger rekonstruiert sich die familiengeschichte, die trägödie um ihre tochter und liebschaft des mustergatten, von der nicole, die ehefrau, erst am wahltag erfährt. eilends geht sie ins wahllokal, wo sie mit der nebenbuhlerin anstösst, allerdings mit sekt, den sich vorher mit schlafmittel präpariert hatte.

so kommt es zu einer dramatischen stichwahl. herger gibt sich selbstbewusst, der parteivorstand stützt ihn, ebenso seine ehefrau, und die sonntagspresse, die beeindruckt ist, das in diesem wichtigen moment die familie herger samt tochter vereint anwesend ist. bichsel wiederum taumelt schlaftrunken ans redepult, hat nur eine vergraulte ex-nationalratskandidatin hinter sich, sagt wenig, und als sie ausrasten und die ganze wahrheit auspacken will, setzt man sie in die hinter reihe der parteimitglieder.

dr. fernando plüss, dem parteisekretär, bleibt nur noch, die stichwahl gemäss statuten durchzuführen. doch lässt er nicht die parteimitglieder entscheiden, sondern das publikum. das erhält wahlzettel, wie es sich gehört, bestimmt werden stimmenzählerInnen, wie man das kennt, und dann wird ausgemehrt.

es gewinnt die herausfordererin patrizia bichsel, die dreimal mehr stimmen macht, als der anfängliche favorit, matthais herger.

als der vorhang fällt, wähnt man sich in einem stück realität. unverkennbar gespielt wurde hier die traditionsreiche bernische svp. es mischen fast unzertrennbar das politische und das gesellschaftliche. in diesem gibt es das öffentliche und das private. dieses wiederzum zerfällt in echtes und getäuschtes. all diese ebene verleihen dem geschehen auf der bühne spannung.

regie führte wie jedes jahr bei den aufführungen des wohlener trachtenvereins annemarie schädeli. sie scheint die mentalität der landleute gut zu kennen, ohne ihr milieu mit dem theater zu brüskieren. die fassade, von der man am anfang wenig überrascht kenntnis nimmt, bröckelt mit jedem schritt, mit dem man auf die entscheidung im machtkampf zugeht. das macht das stück, durchwegs von laienschauspielerinnen gespielt, lebensnah.

an ende war ich froh, nur gast im wohlner räberhaus gewesen zu sein. denn die analyse wäre mir nicht leicht gefallen. in der stichwahl habe ich mich nämlich enthalten, nicht weil ich neutral bleiben wollte, sondern weil mich beide protagonistInnen des stücks politisch nicht überzeugten.
die unterhaltung am abend – einem stück begegnung zwischen stadt und land – habe ich dagegen ausgiebig genossen.

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das www der berner geschichte

waschen, wählen, weitersagen: das ist das motto einer kleinen ausstellung über berns moderne zeit in der berner stadt- und universitätsbibliothek, die gestern eröffnet wurde. vorbereitet wird damit das erscheinen des fünften und letzten bandes der grossangelegten geschichtsreihe zu bern in buchform im mai 2011.

bernsmodernean der gestrigen vernissage war man überzeugt: geschichte der moderne lässt sich anhand von geständen des alltagslebens erzählen. drei davon standen im zentrum der ausführungen: die waschmaschine, die wahlurne und das wähltelefon!

die waschmaschine hat im 20. jahrhundert (nicht nur in bern) vieles verändert. den waschvorgang selber, die sozialform des gemeinsamen waschens. weitgehend geblieben ist dagegen die rollenverteilung zwischen den geschlechtern. die ausstellungsmacherinnen wählten deshalb das bild eines mannes, der verstohlen wäscht, weil sein hemd kusslippen enthält.

die wahlurne hat einiges verändert. zwischen 1831 und 1993 wurde bern mit vier verfassungsänderungen demokratisiert. die politische rechte wurden sozial- und geschlechtermässig erweitert. geblieben sind aber burgergemeinden, und nicht realisiert wurde das stimmrecht für ausländerInnen und jugendliche. symbolisiert wird dieser vorgang durch den mann auf dem plakat, der ja zum frauenstimmrecht, im kanton bern 1968 eingeführt, sagt. auch er hat lippenstift auf der wange.

auch das wähltelefon beschreibt den wandel der beziehungen. man kann vieles weiter sagen, obwohl man bedenken hat, dass das fräulein, das die verbindungen herstellt, mithört, und es und seine kolleginnen am schluss am meisten weiss. die berner firma hasler war führend in der produktion von telefonapparaten, bis die modernisierung an ihr vorbeizog. deshalb steht ein nostalgisches bild im zentrum: ein iphone aus der gegenwart, das aber eine wählscheibe auf dem display hat.

der rundgang durch die ausstellung bietet zu den drei themen einiges an informationshäppchen, auch weniges an bildmaterial. das ganze ist als einstimmung gedacht, denn in kürze erscheint der fünfte und letzte band zur berner geschichte. er wird, auf 600 seiten, und mit zahlreichen abbildung, den wandel der moderne im kanton bern beleuchten.

sympatisch und nett war die veranstaltung gestern. geschichten wurden erzählt; die geschlechterfrage scheint dabei die historikerInnen der gegenwart so erfasst zu haben, das mir anderes zu kurz kam. in der vormoderne war bern eine führende stadt und ein führender stand in der eidgenossenschaft. warum ist er das nicht mehr, wird ja landauf, landab debattiert. ein klärungshinweis dazu hätte ich gerne auch gehört. denn die nachmoderne welt droht zu einer gigantischen virtualität zu werden, die an keinner grenze mehr halt macht. das www berns wird man noch verfassen müssen!

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berns geschichte für die gegenwart neu erzählt

stephan von bergen, historiker und journalist, bringt historische erkenntnisse immer wieder unters volk – mit unkonventionellen artikeln und positionen. seit heute figuriert er als autor einer mehrteiligen kantonsgeschichte, in der er sich mit vergangenheit und gegenwart, mit glanz und gloria, aber auch mit destastern und defiziten des berner standes auseinander setzt.

470gdas berner kornhaus aus dem 18. jahrhundert: der inbegriff des autarkiedenken in der alten republik, dessen grundlage mit der industrialisierung und dem eisenbahnbau so heftig unterminiert wurde.

“Das heute noch wirksame Erbe aus dem Alten Bern ist schillernd”, schreibt autor stephan von bergen. “Dazu gehören eine Staatsgläubigkeit und ein boderständiger, bäuerlicher Geist. Das immer noch virulente gegenseitige Ressentiment zwischen dem Land und der einst dominierenden Stadt Bern. Die Brückenfunktion zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, die Bern erobert hatte. Und eine Berner Mentalität, die Vorsicht mit Unbeweglichkeit, ein Gefühl von Grösse mit privinzieller Selbstgerechtigkeit und Nüchternheit mit Gemütlichkeit paart.”

mit seiner neu erzählten berner geschichte nimmt er den faden aus der bemerkenswerten dissertation von stefan altorfer-ong, die bern im 18. jahrhundert einen überflussstaat nannte. dank abwesenheit von kriegen und aufständen etablierte sich die berner republik zum vorbild für erfolg. allerdings, so der neue star unter den berner historikern, gelang das nur als trittbrettfahrerin. bern finanzierte kriege, lieferte söldner, und die heerführer wie auch die rückkehrer verdienten damit ihr geld.

kaufleute, unternehmer und beamte gab es in der heimat kaum. obwohl die stadt von brugg bis nyon reichte, lebten nur mitte des 18. jahrhunderts nur 336’000 menschen in der republik, davon drei prozent in der mittelalterlichen stadt. viel der heute noch stehenden häuser in der altstadt stammen aus dieser zeit, der den kollektivgeist der städtischen oberschicht zum ausdruck brachte. über allem wachten das münster und die reformierte kirche, unter sich waren die oligarchen gleich, gegenüber anderen erhaben, während das land politisch ausgeschlossen blieb, wirtschaftlich aber geförderte wurde, solange man für die landwirtschaft produzierte.

1747 traf der grosse rat eine wichtige entscheidung. die führenden patrizier im zentrum sollten gesamthaft die tätigkeiten als kaufleute und industrielle unter- resp. sie ganz den minderwertigen untertanen in deer peripherie überlassen. “Staatswirtschaftlich und agrarisch, nicht privatwirtschaftlich und unternehmerisch”, fasst der berner geschichtsprofessor andré holenstein die tragende bernische mentalität zusammen. die begründung war einfach: vom getreidebau profitierte man doppelt – als einnahmequelle der republik und als sicherheit gegen hungersnöte. das kornhaus in bern, aber auch in burgdorf und langenthal war der eigentliche inbegriff des bernischen staatswesen.

alt bern entschied sich gegen die frühindustrialisierung. diese überliess man der ostschweiz, in der sich die textilindustrie ausgebreitet hatte. das brachte exporteinnahmen, mit denen man getreide aus dem süddeutschen raum importierte. entstanden ist so eine bürgerliche schicht, die ganz anders auf die industrialisierung reagierte als die berner patrizier, die in ihren autarkie-, unabhängigkeits- und souvernitätsvorstellungen verharrten, bis sie durch die französischen truppen gestürzt wurden, ohne dass eine bürgerliche schicht die entwicklung in wirtschaft und politik nahtlos hätte vorantreiben können.

immerhin kann man beifügen, die liberale und radikale bewegung der 1830er jahre gab dem risikoscheuen staat ein neue gepräge. der freisinn von 1848 entwickelte nicht nur die schweiz, auch bern bis zum ersten weltkrieg auf einer industriellen grundlage, wie beispielsweise der elektrifizierung, die in ihrer frühzeit europäisch führend war. der freisinn zerbrach mit dem ersten weltkrieg, mit dem die arbeiterbewegung einerseits, die bauern und gewerbler anderseits das bürgertum herausforderten, gemeinsam jedoch wieder einem protektionistischen staatsverhalten auftrieb gaben.

heute sind svp und sp die grössten politischen kräfte im kanton bern. bei den anstehenden ständeratswahlen treten sie mit vehemenz gegeneinander an. adrian amstutz, der rechte mann auf dem land, steht ursula wyss, der linken frau aus der stadt gegenüber. und wieder geht es um öffnung oder nicht. die konservativen sind national gestimmt, vereinfacht heisst das gegen die eu, derweil die modernistInnen international denken, wirtschaftlich offen und politisch vernetzt bleiben möchten. vom mittelstand der kleinen und mittleren zentren, der den freisinn zwischen 1890 und 1920 so stark machte, ist bei dieser ausmarchung kaum mehr etwas zu spüren. ihre kandidatin fiel schon in er ersten runde aus der wahl.

stephan von bergen bedauert das. denn amstutz kritisiert er als vorschnellen antietatisten, der so tue, als könne man einen schweren tanker mit ein paar markigen worten in eine andere richtung lenken. und ursula wyss hält er vor, zu genügsam zu sein, weil ihre klientel von der gemütlichkeit des bernischen kahns profitiere.

mal sehen, wer lotse oder lotsin wird, und ob sie oder er das schiff mit schlagseite neuen schub verleihen kann.

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in mühleberg und oltigen mit vögeln, grafen und frühlingshafter energie unterwegs

ich war heute auf der winterexkursion mit dem vogelschutzverein wohlen. besucht haben wir den landstrich zwischen mühleberg und oltigen an der aare. wenn es um mönchgrasmücken oder nonnenkneifer ging, konnte ich nicht immer mithalten. dafür komponierte ich in der herrlichen frühlingsatmosphäre eine kleine rede, die ich vor dem güggelisloch, dem sagenumworbenen unterirdischen zugang zur verschwundenen burg, über oltigen hielt. hier die leicht ausgeschmückte widergabe.

meine damen und herren!

morgen wird mich mühleberg am wohlensee beschäftigen, heute geht es uns um oltigen, der stelle zu unseren füssen.

sie alle haben sicher schon von troia gehört. in der heutigen türkei gelegen, gehört der untergang der stadt zu den tragischen momenten der weltgeschichte. denn die menschen glaubten immer, mit städten jene form von sozialgebilden geschaffen zu haben, die stets überleben werde. wenn dem einmal nicht so war, war das nicht nur ein desaster, es liess auch die wildesten geschichten über den grund und den ort entstehen.

das wäre eigentlich auch bei oltingen an der aare der fall. unter uns liegt ein dorf mit heute 67 einwohnern. oltigen. an stelle des dorfes stand einst eine stadt – im mittelalterlichen sinne. sicher, troia war wichtiger als oltigen. doch zwischen dem 11. und 15. jahrhundert konnte sich der ort mit neuenburg durchaus messen.

flüsse sind kulturhistorisch gesehen etwas vom spannendsten. immer schon waren sie verkehrswege. manchmal trennten die flüsse die länder beidseits, manchmal verbanden sie sie. mit unserer eisen- und autobahn schweiz kennen wir fast nur noch letzteres; ersteres ist uns fremd geworden. doch man muss daran erinnern, wenn man die bedeutung der aare ermessen will.

als sich zu beginn des 5. jahrhunderts nach christus die römer nördlich der alpen zurückzogen, fluteten verschiedene bevölkerungsgruppen in ihre ehemaliges herrschaftsgebiet. in unserer gegend muss man von zwei völkern sprechen, den burgundiones oder burgundern, und den alemanii oder alemannen. die burgunder waren ebenso wie ihre nachbarn germanen. doch wollten sie unbedingt römer werden. sie nahmen ihre sprache an. sie konvertierten zum katholizismus. sie liebten den wein, und sie unterhielten die römerstädte mit ihren bischöfen weiter. die alemannen waren das pure gegenteil davon. sie behielten ihr idiom, sie blieben arianer, und sie tranken weiterhin bier. die städte mochten sie nicht. sie mieden sie, oder sie zerstörten sie. zu zweiten der römer war aventicum, das heutige avanches, eine stadt mit 20’000 einwohnern; 610 ging sie nach einem alemannensturm unter.

konstanz, die einzige bischofsstadt im alemannischen, die im mittelalter mit basel, genf, lausanne, sion oder chur stand halten konnte, war von hier aus weit weg. das galt auch für die stellvertreterklöster in st. gallen und zürich. nur das schwäbische entwickelte sich in ihnen mehr, während sich auf der seite der aare, auf der wir jetzt stehen ein völkchen mit viel eigenbrötlertum herausbildete. christianisiert wurde die bevölkerung erst im 10. jahrhundert, – durch burgundische klöster.

getrennt wurden die burgunder und der alemannen durch die aare. seit dem 9. jahrhundert war sie nicht nur eine kulturgrenze, auch eine politische grenze. wo das der fall war, brauchte es stets herrschaftszentren. befestigungen, sitze von adeligen, orte der versorgung, zentren der verwaltung. oltigen bot sich da an. unmittelbar unterhalb des zusammenflusses von saane und aare gelegen, war die stelle verkehrstechnisch günstig. der hohe felssporn attraktivierte die lage noch. er verschaffte zu jeder zeit aussicht, und bot damit sicherheit. schliesslich, olitgen heisst bis heute riviera von radelfingen, weil es so sonnenbeschienen ist.

oltigen ist einer ältesten brückenköpfe über die aare. eine feste brücke gab es nie, fähren schon. in oltigen herrschte seit dem 11. jahrhundert ein graf, der phasenweise sehr mächtig war. burkhart, der berühmteste von ihnen, wurde bischof in lausanne, gefolgsmann des kaisers. seine grösste wohltat: er liess das mittelalterliche städtchen avenches wieder aufbauen. seit dem 12. jahrhundert waren die oltiger herren nur noch provinzgrafen. genauso wie murten hielten man aber zu den savoyern und ihren vasallen in der gegend.

eine der mächtigsten erschütterungen der mittelalterlichen welt war die pest. 1348 wütete sie erstmals im mittelland, sie raffte wohl einen drittel der menschen weg. wer schutz versprochen hatte und diesen im entscheidenden moment nicht gewähren konnte, stand jetzt auf der anklagebank. so die kirche – und so der adel. die bauern rebellierten gegen klöster und grafen, denn sie wollten nicht mehr leibeigend sein und abgaben zahlen müssen.

den zwist, der auch in oltigen ausgebrochen war, nutzte das benachbarte bern. offiziell vermittelte man, faktisch betrieb man den sturz der burgunder, dem grossen thema des 15. jahrhundert. denn bern, die zähringerstadt, die parallel zu oltigen entstanden, aber ganz in der schwäbisch-zähringische tradition und in den herrschaftsbereich des deutschen königs eingebunden war, bildete das eigentliche gegenstück zum burgunderstädtchen an der aare.

1410 kam es in oltigen zum entscheidenden aufstand. bern half den aufständischen. als man sich durchgesetzt hatte, schleiften die sieger burg und stadt. der letzte graf, hugo von mömpelgard, wurde vertrieben; die verhasste konkurrenz aus dem aarestädtchen ganz zerstört. 1412 verlor savoyen alle rechte auf oltigen, seither ist man hier bernisch, zuerst stadt-, dann kantonsbernisch. in die kirche ging man nach wohlen, zu gericht musste man nach zollikofen.

heute spricht man in diesem zusammenhang gern von bauernbefreiung. ich nenne es eher herrschaftswechsel. denn die stadt bern, 1415 zum königlichen stand erhoben und mit allen rechte über leben und tod, fackelte damals nicht lang. damit man keine gefängnisse bauen musste, in denen man fremde durchfuttern musste, präferierte man bei eroberungen die zerstörung, für die angegriffenen bedeutete das flucht oder tod. und was man nicht erobern konnte, kaufte man auf dem aufstieg zum grössten stadtstaat nördlich der alpen zusammen.

als folge davon setzte sich auch diesseits der aare die kultur der alemannen durch. 1476 wurde der landstreifen, der bis murten reichte von eidgenössischen truppen erobert, und er wurde unter bernisch-freiburgische herrschaft gestellt. die kultur wurde zwangsweise (re)germanisiert. wer in bern vorsprechen wollte, musste deutsch sprechen können, die andern hörte und verstand man nicht. 1536 griffen die berner bis vor die tor genfs aus, und vertrieben die savoyer aus der gegend. was bernisch wurde, wurde auch reformiert. man war nun reformierte untertanen der eidgenossenschaft, die gefälligste berndeutsch sprechen sollten. erst napoléon bonaparte räumte damit auf, machte die untertanen zu bürgern, die besetzten gebiete zu gleichberechtigten kantonen und schuf damit eine der grundlagen für das friedliche und erspriesliche zusammenleben heute.

oltigen hat davon nicht wirklich profitiert. die stadt ist abgegangen, wie das etwas verharmlosen heisst. selbst die erinnerung ist aus der geschichte gestrichen worden. sie lebt nur noch in mythen weiter, die im internet weiter leben. das gibt dem ort doch noch eine hauch von troia.

sicher, die kulturelle trennung durch den fluss ist heute weitgehend überwunden. wirklicher verkehrsweg ist die aare aber nicht mehr, sie dient hier seit der industrialisierung der stromproduktion aus dem benachbarten mühleberg. davon morgen mehr.

stadtwanderer

religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

stadtwanderer

soziologisches who ist who der gegenwart

es ist das aufregendste buch von soziologInnen, das ich seit langem gelesen habe. es stellt sozialfiguren der gegenwart vor, und ist damit einen abstrahierende gesamtschau über das konkrete soziale, in dem wir heute leben. jede(r) findet sich darin wieder, als treiber oder getriebener.

12573“Sozialfiguren sind zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann”, steht in der einleitung der herausgeber. sie beschreiben ein bisher verkanntes phänomen: dass jede zeit ihre eigenen praktiken hat, die aus verschiedenen sphären stammen, sich aber generell durchgesetzen und für eine weile durch die gesellschaft vagabundieren. so gibt es manager nicht nur in firmen, auch in kulturellen institutionen. spekulantInnen trifft man nicht bloss an der börse, auch in medien. und beraterinnen gibt es nicht einzig für familien, auch für die politik.

stephan moebius und markus schroer, soziologie-professoren in graz resp. kassel, habe es sich zur aufgabe gemacht, die sozialfiguren unser gegenwart aufzustöbern, zu systematisieren, und sie in buchform beschreiben zu lassen. herausgekommen ist ein kaleidoskop der ist-zeit, das provoziert, erhellt, zustimmung findet, den köpf schütteln lässt – und dabei immer wieder klar macht, welche typen uns umgeben. die sponti sind nicht mehr dabei, denn sind sind out. genauso wie die tramper oder die yuppies. geblieben und gekommen sie die 34 andere sozialfiguren, die von ausgewiesenen soziologischen beobachterInnen porträtiert werden. hier sind sie:

der amokläufer.
der berater.
der bürger/weltbürger.
der dandy.
der dilettant.
die diva.
der experte.
der fan.
der flaneur.
der flexible mensch.
der flüchtling.
der fremde.
der fundamentalist.
der hacker.
der homo academicus.
der hybride.
der konsument.
der kreative.
der manager.
der medienintellektuelle.
der migrant.
der narziss.
der nomade.
der simulant.
der single.
der spekulant.
der spiesser.
der star.
der terrorist.
der therapeut.
der tourist.
der überflüssige.
der verlierer.
der voyeur.

es fehlt eigentlich nur der stadtwanderer, der ja auch immer mehr mich und andere umgibt … wer wagt dieses porträt?

stadtwanderer

das sog. italien auf deutschem grund

unser hotel nennt sich “zur sonne”. die gastwirte heissen esposito. und um die ecke ist das römerbad. doch sind wir nicht in italien, nein, vielmehr in badenweiler, am hang des schwarzwaldes auf ein paar lauschige kurtage. dass man hier in italien ist, liesst man nur in den prospekten für touristInnen. wer selber hierher kommt, lernt die typische lebensart der grenznahe markgräfler kennen und schätzen.

hotelbadenweiler, genau zwischen lörrach und freiburg gelegen, wurde 1756 zum eigentlichen kurort. die vier ersten badhäuser waren die carolsruhe, die krone, der hirschen und eben die sonne, die schon länger stand, und einen eben so wenig katholischen namen hatte, wie zahlreiche der nachfolgenden wirtschaften.

mit ihnen kam auch die reklame ins dorf, was der siedlung ein kleinstädtisches gepräge gab. die gäste, vornehmlich aus dem reformierten basel, die zum baden kamen, wurden fein säuberlich auf einer liste erfasst und hatten der kurpfennig entrichten. denn der obrigkeitlich geförderte wirtschaftsaufschwung in der region sollte neue einnahmequellen für die herrschaft erschliessen.

zwar wusste man der spur nach von den römern. doch deren riesiges bad am fuss des blauen kannte man damals nicht. die erste schriftliche erwähnung von “baden” verdankt der ort den nahen silberminen, die kaiser heinrich II. dem bischof von basel im 11. jahrhundert zur nutzung vermachte. andere quellen sagen, die heilquelle sei bis ins hochmittelalter genutzt, dann aber durch das schreckliche erdbeben in basel eingestürzt. seit 1408 habe es wieder ein gasthaus gegeben, der vorläuferbau der sonne.

geprägt wurde die region in der nach baslerischen zeit durch die gegnerschaft zum habsburgischen vorderösterreich. doch erst die grafen von hachberg-sauseberg begründen im 15. jahrhundert den namen “markgräflerland”. mit ihm wurde aus baden badenweiler, um es vom nördlich gelegenen baden-baden besser unterscheiden zu können.

1525 machten die bauern gegen die herrschaft mobil. die grafen von baden, die 1503 das markgräflerland geerbt hatten, schlossen bald schon frieden mit ihren untertanen, machten sich die sache der reformation zu eigen, was die bevölkerung zusammenschloss, bis der verheerend 30jährige krieg kam, der alles zerstörte. seither steht in badenweiler auch kein schloss mehr, nur noch eine riesige steinruine, burg genannt.

1784 entdeckte der kurort bei neubauten die alte römerquelle. wer sie erschlossen hatte, weiss man nicht. von kaiser vespasian, der das decumatland rechts des rheines für die römische sache zugänglich gemacht hatte, wird häufig genannt. gut sichtbar baute man auch den römischen podiumtempel, dessen entstehen dendrologisch auf das jahr 175 nach christus datiert wird. an seiner stelle steht heut die reformierte kirche.

die römischen funde ende des 18. jahrhunderts lancierten die archäologie und denkmalpflege im markgräflerland, deren anfänge die ältesten im heutigen baden-württemberg sind. populär wurde der name “markgräfler” übrigens erst im 19. jahrhundert, seit ihn die zahlreichen winzer an der weinstrasse zwischen lörrach und freiburg zur vermarktung der region verwenden.

wolfgang abel, ein freiburger soziologie, der seit jahren den südwesten deutschlands bereist und zahllose wander- und gastrobücher geschrieben hat, findet sich in jeder buchhandlung bibliophil aufgelegt. alle kommen bei ihm an die kasse, denn liebevoll-bissig berichtet er erfolgreich aus der und über die breisgau. über badenweiler schreibt er, dem kurort würden einige anzeigekampagnen weniger, finanziert aus der kurtaxe der gäste, gut tun, wenn der ort nur ein ausgiebiges nachleben hätte.

dass genau das fehlt, halte ich dem kenner entgegen, macht den charme des ortes aus. badenweiler ist eben nicht italien auf deutschem grund. wer des nachts eins über die stränge hauen will, gehe doch gleich anderswohin! wer hingegen ruhe sucht, der lässt sich durch die reklame nicht täuschen, und erfreut sich im markgräflerland, das fleissig-aufmerksam, aber auch beschaulich-gemütlich ist. genauso wie wir uns bei der familie esposito freuen, die süditalienische wurzeln hat, im breisgau aber bestens integriert (und und andere) im traditionsreichen gasthaus zur sonne (be)wirtet.

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appläuse für die erfolgreichsten schweizerInnen

bei einer show wird gezeigt, was man zu bieten hat – beim swiss award 2010, was die schweiz für sich selber und für die welt letztes jahr erbrachte. und sich hierfür sichtbar gut gelaunt gestern abend auch applaudierte.

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für mich der intensivste moment des abends: die dankesrede von sophie hunger für den swiss award 2010 in der kategorie “show”

das erdbeben in haiti bestimmte das hochmedialisierte, gestrige geschehen im züricher hallenstadion am meisten. denn mit dem publikumspreis für den den und die schweizerIn des jahres 2010 wurden marianne kaufmann und rolf maibach geehrt. der bündner war bis vor kurzem direktor des albert-schweitzer-spital in deschappeles auf haiti; die bernerin wirkte gleichzeitig als krankenschwester unter den opfern des erdbebens auf der karibikinsel.

moderatorin sandra studer führte wie immer elegant und gekonnt durch die gala. ihr viersprachiges jahresthema waren die löcher. nicht nur in der erde haitis – denn auch der vulkanausbruck auf island und seine folgen kam zu sprache, genauso wie der rettungsschacht für die bergleute in chile – und selbstverständlich das weltrekordträchtige loch durch denn gotthard, der europa durch die schweiz führt. dennoch schafften es die gemeinsam nominierten bohrmeister adolph ogi und moritz leuenberger nicht, den immer begehrteren titel zu gewinnen. denn die konkurrenz für die auszeichnung ist zwischenheitlich ziemlich stark geworden.

in der kategorie politik wurden die alt-bundesräte von der newcomerin pascale bruderer übertroffen. gekonnt hatte sie als nationalratspräsidentin das parlament durch wahlen und sachgeschäfte geführt, tuchfühlung mit grossen der welt wie dem dalai lama geknüpft, und brücken in die gespaltene schweizer gesellschaft gebaut. dafür erhielt sie den politischen swiss award 2010. den für wirtschaft ging an felix richterich, dem chef von ricola, deren bonbon-absatz die firma zum weltmarktleader gemacht hat.

im in- und ausland erfolgreich waren schliesslich auch sophie hunger und martin suter, die gekrönten für show und kultur. ihre reaktionen auf den preis hätten jedoch nicht gegensätzlicher sein können. die musikerin hielt die vielleicht gehaltvollste rede des abends; der schriftsteller fehlte ohne angabe von gründen und liess eine kurze dankesnotiz durch einen kollegen verlesen. das mag typisch sein, dafür, dass unsere künstler, die emotionen ansprechen, das publikum lieben, jene, die unseren intellekt schärfen sollten, es immer mehr meiden.

so stimmte die analyse von bärbi an meiner seite: es seien entscheidungen des herzens gewesen. das trifft sicher auch auf emil zu, dem 78jährigen komiker, der für seine lacher über generationen hinweg den streng geheim gehaltenen life time award erhielt. und es traf auch zu, was man vielerorts hören könnte: die entscheidungen des abends waren (manchenorts anders als meine favoriten, aber) durchaus vertretbar. genauso wie der relounch der sendung, die besser als auch schon gefiel.

das anschliessende essen verbrachten wir am tisch von hans-ueli müller, dem neuen besitzer der kartonfabrik im bernischen deisswil. er war mit seiner reizenden familie gekommen, welche ihn in seiner riskanten rettungsaktion trotz anfänglich hohen verlusten unterstützt, weil man überzeugt ist, langfristig etwas gutes zu tun. eines ist sicher: als banker, der er im hauptberuf ist, wäre müller kaum zur auswahl gestanden. als unternehmer nebenbei, der zivilcourage beweist, figurierte er von der “bilanz” portiert zurecht weit oben unter den nominierten in sachen wirtschaft.

“applaus, applaus”, kann man da nur sagen. oder wir es der täschmeister hinter der fernsehkulisse während der aufwärmrunde dem publikum im zürcher hallenstadion auf neudeutsch sagte: appläuse für die speziellsten unter uns!

schweizerIn des jahres wird …

morgen kürt die srg einmal mehr den oder die schweizerIn des jahres. insgesamt und in den sparten: politik, wirtschaft, gesellschaft, kultur und show. beim sport stehen die ausgezeichneten schon fest. hier meine diesjährigen favoriten.

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viel wurde jüngst diskutiert, wie das auswahlverfahren beim siwss award zustande kommt. auch mir als beteiligter war es nicht immer klar.

jetzt lässt man grosse transparenz walten. eine nominationsjury, welche die trägerinnen der veranstaltung repräsentiert, schlägt im herbst des jahres rund 30 personen vor, die sich in ihrem bereich besonders hervor getan haben. eine davon unabhängige academy bewertet die vorschläge und verteilt so die awards in den kategorien. bekannt gemacht werden die plätze 1-3 je kategorie. sie, und die drei besten beim sport, nehmen an der wahl des oder der schweizerin des jahres teil. doch entscheidet hier kein fachgremium, sondern das tv-publikum.

selber bin ich teil der academy, also jenes gremiums, dass die spezialpreise verteilt. rund 100 weitere personen aus der ganzen schweiz zählen hierzu. erstmals weiss ich, wer sie sind.

um die transparenz zu erhöhen, lege ich hier meine favoriten unter den nominierten offen; es sind dies:

kategorie “politik”: pascale bruderer, nationalratspräsidentin
kategorie “wirtschaft”: hans-ueli müller, investor (namentlich im kanton bern!)
kategorie “gesellschaft: fabiola gianotti, teilchenphysikerin am cern
kategorie “kultur”: melinda nadj abonji, schriftstellerin
kategorie “show”: bligg, musiker

beim sport konnte ich nicht mitentscheiden – und habe ich auch keine favoriten. denn davon verstehe ich definitiv zu wenig. was nicht heisst, dass die von mir bevorzugten echten chancen haben, zu obsiegen …

stadtwanderer

campari soda

alles begann mit einem flüchtigen blick an der amici-bar in der berner markthalle. seither entwickelt sich eine rasch zunehmende leidenschaft. vor einem typischen hintergrund, dem ich mir gar nicht bewusst war.

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der wichtigste vorsatz zum neuen jahr war, sich nichts mehr vorzunehmen. das jedenfalls sagte mir der kopf, der sich der üblichen konvention verweigerte. und doch schlummerte da ein wunsch, ein ganz persönliches anliegen anzugehen, das in mir schlummert.

weniger bier trinken!

unverändert vergöttere ich den gerstensaft. er wäre wohl das letzte, auf das ich ganz verzichten würde. doch ist der bierkonsum auch eine dumme gewohnheit, die sich auf der gewichtswaage rächt.

so gehe ich seit längerem mit dem idee schwanger, meinen bierkonsum auf die hälfte zu reduzieren. 1 stange pro tag soll das mass aller dinge werden. dafür trinke ich mehr säfte, mehr teeli … und campari soda.

kurz vor weihnachten machte es an der amici-bar in der berner markthalle click. ein flüchtiger blick auf das getränk zweier gäste löste alles aus. es war rot – die farbe der liebe. serviert wurde es in einem eleganten glas – der ausdruck des geschmacks. und das ambiente stimmte – die botschaft des gefühls.

innert sekundenschnelle war mir klar: das ist es. um mich abend von der arbeit zu lösen, werde ich mir von nun an ein campari soda mixen – oder eins mixen lassen!

und so war mein gutes-neues-jahr-vorsatz perfekt.

was mir überhaupt nicht bewusst war: die wahl des apéro-getränkes hat mit selbstbildern der männlichkeit zu tun. das jedenfalls behauptet die zeitschrift “abstract“, die ich heute zugestellt bekommen habe. stephan siegrist, ein begnadeter forscher des hiesigen konsumverhaltens – gibt das anregende magazin heraus. darin entdeckt man immer wieder neue analysen, sicher auch hippige trends.

so, dass die (gewünschte) lebensweisheit einerseits, die (erhofften) haare-auf-der-brust anderseits bestimmen, welches getränk man wählt, um sich in stimmung zu bringen. und auf diese weise ertappe ich mich, gerne sophistizierter zu werden, ohne grosse aspirationen zu haben, einen behaarten oberkörper zu bekommen.

gary grant, als vorzeigebeispiel für diesen typ kannte ich ja. die gegensätzlichen benchmarker musste ich sinnigerweise googeln, um mit ein bild zu machen, was ich nicht bin.

stadtwanderer

sein neuester hinweise findet sich hier.

silvester in st. silvester

kirchen, die auf den namen des heiligen silvester lauten, gibt es viele. politische gemeinden, die auf diese weise dem papst aus dem 4. jahrhundert gedenken, sind dagegen eine grosse ausnahme. einzigartig sind auf alle fälle die feierlichkeiten am letzten tag des jahres im freiburgischen st. silvester.

Tagesschau vom 31.12.2010
geschichte und gegenwart vereint: silvester wegen dem heiligen silvester in st. silvester feiern.

der wecker ging um viertel vor vier. ein freundlicher chauffeur holte kurz darauf bärbi und mich ab und brachte uns nach st. silvester im freiburgischen sensebezirk. im hell erleuchteten gotteshaus auf dem kirchberg spielte die musikgesellschaft schon vor 5 uhr zum frühkonzert auf. dann feierte ein gut gelaunter pfarrer das hochamt zum jahresausklang vor vollem haus.

so richtig los ging es aber erst danach. alt und jung versammeln sich traditionellerweise im nahe gelegenen restaurant försterhaus. rösti, bratwurst und spiegeleier werden in rauhen mengen gereicht, für feine gemüter gbit’s dazu wasser, für harte rotwein. eine handörgeligruppe spielt auf, und im nu kommt das volksfest zu ehren des patrons der kirche und der gemeinde mit volk und honoratioren auf.

die zusammenhänge zu silvester werden einem dabei so klar wie sonst nirgends. der letzte tag im christlichen kalender hat seinen namen vom römischen papst silvester, der am 31. dezember 335 verstarb. heilig gesprochen wurde er, weil er, nach dem wegzug des kaisers aus rom nach konstantinopel, auf listige art und weise den kirchenstaat in italien gründet hatte.

gestorben sind vielerorts und an vielen tagen auch tiere, zu dessen schutzheiliger silvester bald wurde. als im 17. jahrhundert die maul- und klauenseuche auch unter den tieren wütete, die bei der kapelle von st. silvester im sensegebiet weideten, versprach das burgerspital im entfernten freiburg den hirten köstliche gaben, sollte die krankheit überwunden werden.

in st. silvester ist man überzeugt: dank silvester gelang die rettung der tiere vor ort. und deshalb feiert man den heiligen silvester nirgends so innig wie im hinteren sensebezirk. auch heute brachte der präsident des burgrspitals 30 kilo käse und einen riesigen schinken nach santifaschtus, wie st. silvester im idiom heisst. geweiht wurden sie während der morgenmesse. das ist der sakrale part des festes, der populäre findet beim essen und trinken danach statt.

nicolas bürgisser, der oberamtmann des sensebezirks, mag nicht mehr wie viele seiner vorfahren-untertanen arbeiten und schweigen. seine gabe ist es, zu arbeiten und darüber zu reden. so vermarktet er quasi im nebenamt seine gegend. nur zugerne hätte er gehabt, der grosse weihnachtsbaum vor dem bundeshaus, wäre aus st. silverster (eigentlich: heiliger waldmann) gekommen. der geht die grenze anders als gedacht, und so stammt er aus plasselb.

erfolgreicher war der geschickte bürgisser bei mir. vor zwei jahren lud er mich nach einer “arena”-sendung zur örtlichen silvester-feier ein. diesmal sollte es klappen. und so mailte er vorgestern frohlockend: ausser der papst heirate heute, sei man ganz “in”, denn über das fest in st. silverster werde auch im radio und fernsehen berichtet werden.

doch das war nicht der grund meines besuches bei den einheimischen hart an der diesseitigen sprachgrenze. denn ebenso hart an der jenseitigen lebten einst meine grosseltern, auch meine eltern in der nachbargemeinde von st. silvester. und auch ich verbrachte in der gegend schon mal kinderferien. so kam ich auch ein wenig in eine welt, aus der ich eigentlich stamme. ein tolles erlebnis!

stadtwanderer

décroissance will in bern wachsen

es war eine unübliche beilage, die gestern mit den berner zeitungen kam: “Décroissance – Die Mutmacherin” hiess sie. aufgerufen wird damit, sich vom wachstumszwang zu befreien. 120’000 potenzielle leserInnen hat man so bedient, denn die neue politökonomisch inspirierte bewegung will rasch anhängerInnen gewinnen.

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immer mehr städter und städterinnen wollen wissen, woher ihr rüebli kommt

das visuelle am titelblatt des maganzins sprach mich nicht an. eine soziokulturelle beilage, wie man in bern jenseits des mainstream silvester feiern kann, dachte ich mir zuerst. dann blieb ich beim stichwort “mutmachen” hängen – und begann mich zu interessieren.

das wachstum in den ländern des nordens könne nicht die lösung sein, las ich im editorial von philipp zimmermann, student der geschichte und präsident der grünen in spiez. vielmehr sei der wachstumszwang das hauptproblem. unterlegt wurde das in der folge mit dem neuesten buch der bekannten publizisten urs p. gasche und hanspeter guggenbühl. “Schluss mit dem Wachstumswahn – Pladoyer für eine Umkehr” ist ihr titel und passt genau ins konzept der décroissance.

entstanden ist die bewegung in frankreich innerhalb der grünlinken aktivistInnen. bisher fand sie vor allem in der französischsprachigen schweiz unterstützung. im märz 2010 fanden sich einige berner sympathisantInnen in der brasserie lorraine zusammen und beschlossen den brückenschlag über die sprachgrenze. basisdemokratisch und offen versteht man sich. im käfigturm, dem alten gefängnis, das zum polit-forum der eidgenossenschaft umgebaut worden war, wagte man sich mit einer vortragsreihe erstmals an die öffentlichkeit. im magazin ist so ein “abc der décroissance” entstanden, das einem das weltbild der neuen bewegung handlich erschliesst.

scharf kritisiert wird etwa der green new deal, der basis des wirtschaftskonzepts der schweizer grünen werden könnte. widersprochen wird ihm, weil er, in anlehung an den new deal des amerikanischen präsidenten roosevelt, ein neuer wachstumspakt sei, um mit ökologisch ausgerichteten wachstum aus der wirtschaftskrise heraus zu finden. das wirkt für die décroissance-leute wie klimaretten mit easy-jet – und ist damit schon im ansatz diskrediert.

wer in rom nach mailand wolle und im zug nach neapel sitze, müsse umsteigen, nicht die verlangsamung der fahrt verlangen, lese ich einige seiten später. nullwachstum wird so begründet, das ohne arbeitslosigkeit möglich sei. wenn die notwendige umstrukturierung langfristig vorbereitet werde, verlaufe der übergang ohne soziale härten, verspricht der deutsche buchautor helmut knolle. und adriano mannino, philo-student und juso-aktivist in zürich, propagiert das grundeinkommen zur absicherung aller, sollte es nicht klappen.

wenn sich die männer in der broschüre mit der theorie befassen, sind die frauen für die praxis zuständig. ursula schmitter, familienfrau in interlaken, nimmt sich die landwirtschaft vor. empfohlen wird die ernährungssouveränität, die, wie die kleinbäuerliche via campesina, auf selbstversorgung, lokale und regionalen handelt setze. was das im wg-alltag heisst, führt politologin marina bolzli vor. soliTerre, die sich für direkte verträge zwischen produzenten und konsumenten stark macht, liefert den wöchentlichen gemüse- und salatkorb in die vegetarier-haushalte. anti-speziesismus müsse genauso selbestverständlich werden wie anti-rassismus und anti-sexismus, heisst es im weiteren.

es ist ein kunterbund an gelebter alternativer lebensweise, harscher globalisierungskritik und linker ideologiesause, die einem da geliefert wurde. einiges ist mir aus meiner studentenzeit bekannt, vieles ist der ist-zeit angepasst und weniges wirkt auch ein wenig wie eine säkulare religion. verantwortet wird das alles von antidot, einem verein, der meist die woz beliefert, dank grosszügigen spenden aus dem leserInnen-kreis (selbstdeklaration) nun auch via bund und bz 120’000 neue interessentInnen ansprechen konnte.

wow, dachte ich mir, und ertappt mich beim hauptwiderspruch der gross angelegten marketing-aktion: die bewegung décroissance will unbedingt wachsen. sie wird es auch, wie die junge schriftstellerin bolzli selbstbewusst prophezeit. denn immer mehr städtische konsumentInnen wollen wieder wissen, woher ihr rüebli kommt. und das treibt auch die alternative ökonomie an.

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die virtuelle auferstehung der kirche von cluny

cluny steht für so vieles, selbst wenn nur noch weniges davon steht. jetzt zeigt eine virtuelle 3d-rekonstruktion die einst grösste katholische kirche der welt.

Tagesschau vom 27.12.2010

bei der datierung der klostergründung ist man etwas unsicher. gefeiert wurde sie am 11. september 2010, erinnernd an das jahr 910. herzog wilhelm I. von acquitanien stiftete damals im hintersten teil seines reiches, nahe einem seitenfluss der saone, ein kloster. dem frieden sollte es dienen, der im frankenreich durch adelfehden und magyarenstürme arg in bedrängnis geraten war. deshalb unterstellte der edle spender das kloster nicht einem lokalen vasallen, sondern dem papst in rom. nur er sollte über das schicksal des abtes von cluny und seine möchne bestimmen können.

entstanden ist so, ausgehend vom 10. jahrhundert das zentrum eines zukünftigen gottesstaates ohne vergleich, das in seiner besten zeit aus mehr als 1400 klöstern und über 20’000 mönchen bestand. erneurt wurde so die regel des heiligen benedikts, aus dem 6. jahrhundert stammend, die in vielen klöstern der fränkischen christenheit aber in vergessenheit geraten war. gebetet und gearbeitet wurde nun für den papst, der danach trachtete, sich selber über den kaiser zu stellen, um eine unverselle schirmherrschaft über alle christen im und ausserhalb des reiches zu gewährleisten.

die adeligen bis in die heutige westschweiz animierte man tag für tag, schenkungen zu machen, gelobte dafür, die betuchten pensionäre aufzunehmen, um sie auf den weg zum ewigen leben in den himmel vorzubereiten. die nachfahren hielt man an, ihnen gutmütig zu gedenken, um sich so als teil einer väterlich bestimmten familie zu sehen. vorangetrieben wurde in der zeit, als das patriachale rückgrat der christlichen kirchen entstand, auch der kreuzzugsgedanke, vordergründig der befreiung jerusalems gewidmet, faktisch als krieg gegen den sich ausbreitenden islam. mit diesem kampf wollte man die unabdingbare vorherrschaft der christlichen kirche im europäischen festland, aber auch im mittelmeerraum sichern.

symbolisiert wurde das alles durch den bau des damals grössten christlichen gottenshauses in der verlassenen gegend am rande burgunds. im 12. jahrhundert war man damit fertig, und zeigte so sowohl treunen gläubigern in der gegend wie auch den staunenden pilgern aus allen herren ländern, wo man gott am nächsten kam. bis in die zeit der überschäumenden renaissance, als man in rom die st. peter-kirche baute, war cluny der grösste sakrale bau in christlichen abendland.

die französische revolution machte dem prunkbau ein ende. die wut auf die feudale kirche liess man freien lauf. die revolutionäre plünderten die kostbaren werke, brandschatzten das kircheninnere und rissen zwei drittel des monumentalen werken ab. wer selber nach cluny ging, konnte nur noch die überreste sehen und sich anhand von plänen eine vorstellung machen, wie es einst ausgesehen haben mochte.

rechtzeitig zum 1100. geburtstag wartet das weltkulturerbe in der französischen provinz mit einer neuerung auf. aufgrund von modellen und plänen aus dem 18. jahrhundert, erstellt unmittelbar vor der zerstörung des baus, wurde die kirche neu erstellt. nicht reel, aber virtuell. so kann man dank modernster filmtechnik, vermittelt durch 3d-flachbildschirme, einen eindruck bekommen, wie cluny aus romanischer zeit seinerzeit aussah, wie das gotteshaus ausgestaltet war und wie es auf die zeitgenossen gewirkt haben mag.

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orte und nicht-orte, in bern und anderswo

gemeinhin bringt man geschichte mit zeit in verbindung. denn die geschichte ist sowohl das geschehene, wie auch die erzählung darüber. alles erzählte hat einen ort, an dem etwas geschah, an das man sich erinnert. orte, kann man sagen, haben geschichte, sind ausdruck von beziehungen und stiften identität. wer den stadtwanderer kennt, weiss um genau diese zusammenhänge.

9783406605680_largemarc augé, ein führender ethnologe in frankreich, entdeckte die nicht-orte. flughäfen, supermärkte, flüchtlingslager sind für ihn orte des ortlosen. ihnen gemeinsam ist der übergang. weder wird man an nicht-orten heimisch, indem man sich niederlässt, wohnt und privatheit entwickelt. noch sind sie orte des öffentlichen lebens im eigentlichen sinne, weil man nur auf durchreise ist, sich mit waren eindeckt, die man mitnimmt, oder mit eben diesen versorgt wird, ohne dass man bleiben will.

nicht-orte schaffen keine gemeinsamkeit, schrieb augé vor knapp 20 jahren in seinem buch über non-lieu. denn an den nicht-orten herrscht einsamkeit vor. sie entstehen mit der modernisierung der lebens, der globalisierung der welt. denn mit ihnen wächst die entwurzelung, nimmt die mobilität und urbanität, lösen sich geschichte und ort auf.

an nicht-orten wimmelt es an menschen, die sich kreuzen, ohne sich füreinander zu interessieren. sie haben es gelernt, sich auszuweichen, statt sich im andern zu spiegeln. sie stellen keine fragen, weil sie gar keine antworten erwarten. sie leben nicht wirklich; sie funktionieren nur.

so treffend die idee von marc augé war, um die veränderungen in den städten der gegenwart zu diagnostizieren, so fragwürdig bleibt seine pauschalisierung. denn heute wird kein einkaufszentrum mehr gebaut, das nicht auch als treffpunkt dient, mit erlebnisparks für kinder, kinos für jugendliche und restaurants für erwachsene. so flüchtig das leben da auch sein mag, immer wieder finden sich auch an orten des ortlosen orte des treffens. flughäfen wiederum sind orte des wiedersehens und der freude, der trennung und des schmerzes, der liebe, die neue beziehungen und identitäten schafft. das alles gilt gerade auch für das flüchlingslager, dem chaos der individuellen geschichten, aus dem sehr wohl ein ort neuer kollektiver identitäten entstehen.

eines stimmt schon, wenn man sich durch die neu aufgelegten gedanken von augé liesst: der dichteste ort in bern, ist die altstadt. nicht wegen ihrer architektonischen enge. sondern wegen dem, was in ihr alles geschah, wie es repräsentiert wird und damit ein raum der gegenwart und vergangenheit ist. da kann das westside nicht mit halten. nicht nur weil es neu ist. eher weil es nicht zum bleiben einlädt, höchstens zum verweilen. so dürfte es ein ort unendlicher vieler geschichten werden, nicht aber der geschichte. und erstaunt es nicht, dass ich auf 100 wanderungen, die ich mache, vielleicht eine in die neue kunstwelt am rande des geschehens mache.

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lob dem schwindenden gemeinwohl

“Selbstverständlich zurückzugreifen auf die Konensressourcen eines von einer breiten Mehrheit geteilten Gesellschaftsvertrages ist heute nicht mehr möglich.” georg kohler, der das sagt, forschte als professor für politische philosophie an der universität zürich unter anderem zum schweizerischen selbstverständnis. darüber schreibt er in der woche nach dem ja zur ausschaffungsinitiative in der nzz am sonntag ein essay zu lage der nation.

011106BEX500wenn politik zur pokerrunde jede(r) gegen jede(n) verkommt, stirbt das gemeinwohl – und damit auch die fähig, in einer welt des globalen verhandels sinnvoll bestehen zu können.

kohler zentrale frage lautet “Wie kann ein Land, dessen Lebensformen stets darin bestanden hat, in grösstmöglicher Weise neutral zu bleiben, mit der Tatsache einer mehr und mehr supranational regulierten Welt fertig werden?” seine antwort ist nicht einfach: kluge politik erfordere heute anpassung an normen, die man nicht selber gesetzt habe; sie verlange ein gefühl für die stimmungslagen von funktionseliten, welche die multipolare welt beherrschten.

kohler weiss es selber: das alles widerspricht dem kollektiven unbewussten der schweiz. dieses sei durch den krieg bestimmt worden, aus dem der wille zum zusammenhalt jenseits kultureller unterschiede entstanden sei. heute bestimme indessen nicht der krieg das geschehen, sondern die verhandlung. in verhandlungen zu bestehen, setze gemeinsame ziele voraus, die man kohörent verfolge. genau daran kranke die schweiz.

denn die inneren polarisierungen hätten tiefe gräben in den boden für eine gemeinsamen strategie jenseits der abkapselung geschlagen. anders als auch schon, seien nicht mehr verschiedene interessen die ursache. vielmehr gehe es um das eigene, den kampf um das selbstverständnis der schweiz.

die nationalkonservative seite habe mit ihrer abgrenzung von allem zunächst die besseren karten, sei es durch den rückgriff auf mythen in der geschichte oder durch die mobilisierung von unsicherheit angesichts realer veränderungen. doch all das sei trügerisch, hält kohler dezidiert dagegen, denn in der jetztzeit könne man sich gar nicht mehr abkoppeln. die bewältigung der grossen probleme der gegenwart liesse sich nur druch kooperationen lösen.

zu dem, schliesst kohler, ist die schweiz der gegenwart nicht mehr in der lage. innerlich zerrissen, beschäftige sie sich nicht mehr mit dem aussenpolitischen notwendigen, sondern nur noch mit dem eidgenössisch verträglichen. sie wähle nicht mehr den kompromiss, sondern setze auf extreme. das sei gefährlich. sinnvoller sei die suche nach dem gemeinwohl, was stets das “gut schweizerische” gewesen sei. wer das beschädige, falsch oder überflüssig finde, “der tue dem Land keinen Dienst”, meint philosoph georg kohler.

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