ortsgeschichte von wohlen. ein exemplarischer fall bernischer modernisierung

wohlen bei bern: das sind 3630 hektaren äcker, wälder, siedlungen und gewässer, erschlossen durch 181 km strassen, aber kein meter eisenbahnen. das sind auch 9056 einwohnerInnen, davon 6753 stimmberechtigte, die in 3969 wohnungen leben, 240 landwirtschaftsbetriebe um sich wissen und 239 weitere arbeitsstätten in ihrer umgebung kennen. das sind schliesslich auch 4375 personenwagen und 3461 tägliche wegpendlerInnen, die allermeisten nach bern!


die politische gemeinde wohlen entsteht in den letzten 175 jahren und legt sich heute rechenschaft ab, über das was war und was daraus wurde (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

wohlen: berner umland ausgeleuchtet

so nüchtern ist das gemeindeporträt, wenn ein ehemaliger soziologe eckdaten der gemeinde zusammenstellt. so vielsagend sind sie aber, wenn man wohlen im jahre 2006 vorstellen will. denn mit dem traditionellen wohlen hat die heutige gemeinde nur noch den namen gemeinsam:

. seit den 60er jahren des 20. jahrhunderts ist die bevölkerung rapide angestiegen. siedlungen im kappelenring, der au- und schlossmatt haben dem ort einen modernes gepräge gegeben.
. und seit dem ersten weltkrieg gehört zu wohlen auch der wohlenersee, gestaut für das damals neu erbaute bkw-kraftwerk mühleberg. topografisch war das ein einschnitt, für die gemeindeentwicklung indessen auch ein wesentlicher teil des wohlstandes, der sich zu mehren begann.
. schliesslich ist wohlen seit der liberalen und radikalen reformen im 19. jahrhundert nicht mehr nur eine kirchgemeinde, die fromme christen erzog, sondern ein politische gemeinwesen mit gemeindeordnung, gemeindebehörden und gemeindeschulen, das kommende staatsbürgerInnen ausbildet und mit gelegentlich auch über sie hinweg politik betreibt.

wohlen, das war bis ins frühe 19. jahrhundert noch eine reine agrargemeinde, bestehend aus den dorfschaften wohlen, uettlingen, murzelen und säriswil. politisch gesehen war der ort damals von anderen abhängig: zollikofen auf der einen seite, laupen auf der anderen. deshalb dominiert bis heute das selbstverständnis, dass man in wohlen auf dem land lebe. würde man jedoch zeitgenössische geografen fragen, wie es damit stehe, würden die vom berner umland sprechen, darauf verweisen, dass die nahe gelegene stadt in tuchfühlung mit wohlen sei, dass die in wohlen rapide angewachsende bevölkerung – verdreifachung innert 40 jahren! – aus der stadt komme, und dass sie als pendlerInnen in die stadt zurückkehre. unser soziologe würde das wohl so zusammenfassen: primär traditionelle wurzeln, sekundär moderner vorort mit ausgesprochenem schlafstättencharakter!

wohlen: mein wohn- und spazierort

weshalb mich das so interessiert, und weshalb ich da so genau weiss? – ganz einfach: ich bin seit sieben jahren selber ein teil dieser suburbanen kultur in wohlen, schlafe in der aumatt, einer der frühesten siedlungen für verdichtetes bauen in der schweiz, und fahre mit dem poschi täglich zur arbeit nach bern und zurück. und ich bin der berner stadtwanderer, der vor allem über geschichte und alltag der stadt bern berichtet. das erklärt, weshalb ich mich – zunehmend – auch für vororte wie wohlen, und da speziell für hinterkappelen interessiere. dass ich es aber statistisch und historisch nun so genau weiss, hat nichts mit eigenen recherchen zu tun, vielmehr aber mit der gestern erschienenen neuen wohlener ortsgeschichte.

200’000 franken steuergelder hat die gemeinde in dieses projekt gesteckt. und ich sage: gut gemacht, mehr davon, dafür weniger von anderem! drei jahre hat eine projektgruppe unter der leitung des pensionierten wohlener soziologen franz haag gearbeitet, konzipiert, lektoriert und redigiert. und ich ziehe auch hier den hut: eine respektable leistung der wohlener zivilgesellschaft, die sich ihrer selbst vergewissert. zudem waren zwei historikerInnen am werk, erprobt aus der berner und worber stadt- und ortgeschichte, um professionelle texte zu erstellen: auch hier meine hochachtung für thomas brodbeck und andrea schüpbach, denn entstanden ist ein gesellschafts- und politikgeschichtlich anspruchsvolles werk, das schwergewichtig die zeit nach 1830 bis in die jüngste gegenwart vorstellt. und last but not least darf nicht unerwähnt bleiben, dass bernhard wyss, einheimischer kunstschaffender, die bildredaktion für den schmucken band übernommen hat und mit alten und neuen fotos, handzeichnungen, logos und wappen ein visuelles porträt wohlens geschaffen hat, das dem leser und der betrachterin des geschichtswerkes emotionale nähe zur eigenen erinnerung oder anschauung verschafft.


das moderne wohlen mit gestautem wohlensee, kappelenbrücke und vorortssiedlung und viel prominenz überlagert alles stück für stück (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

wohlen: eine berner gemeinde, die (lokal)geschichte schreibt

präsentiert wurde der 225seitige band gestern abend an einer buchvernissage in der wohlener gemeindebibliothek in hinterkappelen. gemeindevertreter waren anwesend, lehrer und lehrerinnen musizierten, die projektgruppe frohlockte, und die autorInnen gaben einige einblicke in ihr schaffen. auch die bevölkerung interessierte das neueste kind in wohlens gemeinschaftsproduktionen: gut 100 personen kamen vorbei, hörten und schauten, staunten ob der leistung und prostesteten sich und ihr zu. zahlreiche erwarben den druckfrischen band der marti media ag, gestaltet von der firma rub graf-lehmann in bern denn auch gleich. andere, so hofft man bei den herausgebern, werden eines der 2000 exemplare im buchhandel kaufen.

gemeindepräsident christian müller brachte die ziele der ortsgeschichte auf den punkt: “wer seine wurzeln kennt und versteht, versteht auch das weite und fremde.” er weckte die neugier seiner mitbewohnerInnen mit einer feurigen rede: die so zahlreichen neuzuzügerInnen müssten erfahren können, wo sie lebten, was da mal war, und was daraus heute entstanden ist. sie müssten nachvollziehen können, was modernisierung der wirtschaft, der gesellschaft und der infrastruktur in wohlen heisse, und sie müssten schonungslos erfahren, mit welchen politischen brüchen das bis in die 90er jahren des 20. jahrhunderts einher gegangen ist. er verhehlte mit blick auf die anwesenden journalistinnen und rezensenten auch nicht, dass die behörden sich mit dem investitionsprojekt profilieren und für “gute presse” sorgen wollten, um so die identifikation der einwohnerInnen mit dem ort zu fördern.

acht solcher ortsgeschichten sind im kanton bern in den 70er jahren des letzten jahrhunderts entstanden. 34 waren es bereits in den 80ern und 43 in den 90ern. seit der jahrtausendwende sind bereits wieder 24 hinzugekommen, und seit gestern bildete die wohlener geschichte die 25! ortsgeschichtsschreibung ist also im trend. sie ist aber nicht einfach trendig. sie ist seit dem boom, den ich als student der berner uni in seiner anfangsphase erlebt habe, klar besser geworden. es sind nicht mehr dorfchroniken dessen, was einmal war, die heute entstehen. es sind auch nicht mehr heimatkundebücher oder publizierte familienalben, die auf den buchmarkt kommen. vielmehr sind es historische werke, die sich an der zeitgenössischen geschichtsschreibung orientieren. ihre autorInnen kennen die übergeordneten entwicklungen der neuesten geschichte und suchen während ihren recherchen vor ort nach dem typischen und speziellen an eben diesem ort. so entsteht eine sicht von aussen, die nichts mit freundlicher hofberichterstattung, viel aber mit einer historischen informationsschrift zu tun hat.

das gilt auch für die wohlener ortsgeschichte von brodbeck und schüpach, die mit ihren gut gegliederten themenkapiteln zum schmökern, schauen und lesen anregt. der einstieg wird einheimischen leicht gemacht. der projektleiter franz haag nimmt sein publikum nicht nur durch den zitierten rundgang durch das bundesamt für statistik, er lässt es auch wohlen mit einem bebilderten und gut erzählten virutellen spaziergang sinnlich erleben. selbst den abschluss des buches macht jemand aus der gemeinde: marianne blankenhorn erzählt über die kulturproduktion in wohlen zwischen tradition und experiment.


das ländliche wohlen mit bauernbevölkerung, kirchgemeinde und gemeindeschule verschwindet stück für stück (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

wohlen: der neue überblick und die bleibenden nischen

ich habe in der letzten nacht, in der ich viel las, einiges hinzu gelernt: die politischen konflikte zwischen den alten machthabern der gemeindepolitik und der fdp, die tiefe krise der gemeindeverwaltung von 1991, und der aufstieg von offener liste und sp, heute zu sp-plus verbunden, zur wählerInnestärksten partei des ortes, wird in unparteiischer manier und besser als auf jeder hintergrundsseite der tagespresse dargestellt. mit spannung habe ich auch von den sozialen konflikten gelesen, die sich aus dem bau des stausees für die bevölkerung ergaben, die wegziehen musste, aber auch für die arbeiter, die staumauer und brücken bauen mussten. als sie gegen schlechte arbeitsbedingungen revoltierten, wurden sie vom schweizerischen militär umstellt und als bolschewiken abgestempelt. mit interesse habe ich ferner gelesen, wie in wohlen feudallasten abgestossen und dafür steuern eingeführt wurden, wie das wahlrecht in der gemeinden bis 1921 an den geleisteten steuerzensus gebunden war, und wie alle stimmberechtigten heute denken, wenn es um die förderung von biologischem landbau und öko-automobilen geht. bis zu letzt habe ich schliesslich geschmunzelt, als ich die stellen nachlas, wie das obligatorische schulwesen in wohlen gegen alle möglichen widerstände eingeführt werden musste, und wie autoritäre dorflehrer in konflikte gerieten, als sich die erziehungsideale zu wandeln begannen. am meisten gefreut hat mich aber, dass selbst in das religiöse leben der gemeinde ein anschaulicher blick gewagt wurde, der erheischen lässt, wie aus der einheitlichen reformierten kultur eine multikulturelle glaubens- und kulturgemeinschaft wurde.

ein spannendes buch ist entstanden, das der lektüre wert ist, eine auseinandersetzung mit seinem eigenen wohnort ermöglicht und wohl auch den zusammenhalt in wohlen erhöhen wird. denn was modernisierung ist, wird allen klar, die von bern nach wohlen gehen, den stägmattsteg überschreiten oder die kappelenbrücke überfahren und die skyline der hochhäuser und die konturen der neuen siedlungen an der aare erblicken. warum diese modernisierung entstanden ist und was sie für ein leben ermöglicht, erfährt man jedoch erst wenn man hierherzieht und/oder neugierig nachliesst.

etwas bedauern mag man einzig, dass das potenzial der oral history, der geschichtsschreibung aus mündlichen quellen, für diese ortsgeschichte nicht wirklich genutzt worden ist. zur lesbarkeit und zur popularität des buches hätte dies wohl noch einen drauf gesetzt. zunächst hat mich die diesbezügliche zurückhaltung der fachhistorikerInnen an der gestrigen präsentation angesichts der schwerpunktsetzung in der neuesten geschichte geärgert. dann habe ich es als chance genommen: denn das eröffnet dem stadtwanderer perspektiven, bei seinen wanderungen auch durch wohlen über noch unerzähltes vermehrt zu berichten!

den anfang hierzu hat an diesem abend fritz scheurer gemacht, der zwischen 1966 und 1988 als gemeindeschreiben das gemeindeleben massgeblich prägte, im buch selbstverständlich auch vorkommt und während den präsentationen an der buchvernissage neben mir sass. wir kamen bald auf prominente in der gemeinde wohlen zu sprechen, die er, als früherer zivilstandsbeamter, natürlich gut kannte. illustrativ für den sozialen wandel von wohlens bevölkerung war die geschichte über die erste heirat nach neuem eherecht 1988, die er mir erzählte. am ersten arbeitstag nach inkraft setzung kam punkt 8 uhr das bisher unverheiratete elternpaar samt kindern und trauzeugen vorbei, das unbedingt als erstes unter der rechtlichen neuerung in wohlen, vielleicht auch in der schweiz getraut werden wollte: nicht wenig “schweizer illustrierte” war da in der kleinen runde: franziska rogger, die uniarchivarin, beat kappeler, der bekannte publizist, kamen, um den bund fürs leben zu schliessen, und alfred defago, radiochefredaktor und später schweizer botschafter in washington, sowie gret haller, berner gemeinderätin und spätere nationalratspräsidentin, waren die trauzeugen! unter altem eherecht wäre das nicht möglich gewesen, wusste der zivilstandsbeamte mit etwas stolz über die erlebte modernisierung des gemeindelebens “in seiner zeit” beizufügen!

stadtwanderer

thomas brodbeck, andrea schüpbach: wohlen bei bern im 19. und 20. jahrhundert – eine gemeinde zwischen stadt und land, bern 2006