sternstunde philosophie: die schweiz – ein projekt…

das gab es noch nie! bei keinem meiner bisherigen medienauftritte hatte ich so viele (und so positive) echos. selbst die blogosphäre beteiligte sich in form einer selbst live-verarbeitung. und das zurecht: denn die entstehung der jüngsten „sternstunden philosophie“ zu “die schweiz – ein projekt” ist in ihr minutiös dokumentiert.


“sternstunde philosophie” vom 14. januar 2007: der stadtwanderer, befragt von roger de weck (quelle: rebell.tv)

der anlass zur sendung

moderator während der einstündigen sendung zum thema: „wie sind die politischen institutionen der schweiz entstanden, und welchen philosophischen grundlagen folgen sie?“ war roger de weck; bestritten wurde die antwortsuche vom stadtwanderer.

animiert zu dieser sendung wurde de weck im mai des vergangenen jahres. der abstimmungssonntag zum bildungsartikel im jahre 2006 war eher flau verlaufen. so bin ich nach der sendung nach horgen gegangen, wo das „initiative und referendum institut“ einer delegation des deutschen bundestages das soeben geschehene erklärte und so eine studienwoche zur direkten demokratie der schweiz vorbereitete. das referat zur abstimmung hielt meine mitstreiterin bianca, danach kam ich und habe das grundsätzliche der entscheidung erläutert, und schliesslich sprach roger de weck zu „was hält die schweiz zusammen, was trennt sie?“.

die runde verlief sehr animiert, und das publikum beteiligte sich sofort. bald sprach man von den grundlagen der direkten demokratie, und schnell rasch stellten sich die bekannten vorurteile ein: qualifizierte form der zukunftsdemokratie auf der einen seite, spezialform der demokratie, die nur vor dem hintergrund der schweizerischen politischen kultur der schweiz funktioniert, auf der anderen seite.

doch da habe ich die runde auf dem gegenfuss erwischt: die schweiz ist nicht seit 700 jahren eine direktdemokratie. ihre institutionen dervolksrechte sind viel jünger: 1831 führte man in den regenerierten kantonen die volksrechte ein; 1874 kam gesamtschweizerisch das referendum hinzu, und 1891 rundete die volksinitiative die instrumente der direkten demokratie ab. mehr noch: der erste theoretiker der direkten demokratie war weder wilhelm tell, noch sonst ein urschweizer. vielmehr war es ein flüchtling, der 1827 in die schweiz kam und in küsnacht am rigi und in burgdorf politisches asyl bekam. der theologe ludwig snell war damals wegen den demagogen-gesetzen aus deutschland ausgewiesen worden, und beteiligte sich sofort an der liberalen bewegung in der schweiz. er kritisierte sie aber auch. es brauche nicht nur eine liberale elite gegen die traditionelle, argumentierte er. es brauche auch selbstentscheidungsrecht der bürger und bauern in form von wahlen – und volksrechten. schnell wurde er mit dieser forderung professor für staatsrecht an der berner universität, schrieb das damalige standardwerk zum demokratischen, föderalistischen staatsaufbau der schweiz und prägte so sowohl die zürcher verfassung von 1831, die berner von 1846 wie auch jene des bundesstaates von 1848 massgeblich mit.

dieser ludwig snell, sein revolutionärer hintergrund und auch seine deutsche herkunft sind bald in vergessenheit geraten. Selbst in der wissenschaft begann man, die direkte demokratie durch schweizerische protagonisten zu begründen. erst in den 90er jahren des 20. jahrhunderts ist snell von den bernern staatsrechtsgelehrten wieder entdeckt und gebührend gewürdigt worden. mich hat das sofort begeistert, und ich habe ihn in meiner demokratietour durch bern integriert.

auch an diesem sonntagabend entstand eine spannende diskussion mit der vertretung des deutschen budnestages, denn diese war sich nicht so bewusst, dass ausgerechnet einer ihrer landsleute den funken in der schweiz gezündet hatte. der bundestagsabgeordnete schily, bruder des ehemaligen innenministers und fdp abgeordneter, ein bekannter der nachfahren von ludwig snell, nahm das zum anlass, das feuer,das der funke entfacht hatte, intellektuell zu verarbeiten und über die folgen für deutschland von heute nachzudenken. da waren wir dann alle, insbesondere aber roger de weck, im element!

die sendung und ihre thesen

vor einigen tagen fragte mit roger de weck an, ob wir diesen gedankengang noch einmal aufnehmen und danach fragen wollten, was aus dem wagnis der direkten demokratie, wie die deutschen sagten, in der schweiz geworden sei: welches die träger der verschiedenen institutionellen vorstellungen waren, wie das referendum und die verbände, wie die initiative und die politischen parteien zusammengehören, und ob daraus ein stabiles politischen system werden kann? denn im ausland sei man meist der meinung, das gehe nicht; und in der schweiz ist man überwiegend anderer auffassung. die gründe hierfür zu erkunden, war denn auch das eigentliche ziel der sendung.

die eigentliche these, die ich vertrat und begründete war: ausgebaute direkte demokratie wie in der schweiz verlangt ein auf konkordanz ausgerichtetes regierungssystem. das ist zwar kein zwang, denn es sind verschiedene kombinationen möglich. es ist aber ein vorteil für die politische stabilität.

es sollte auch noch um mehr gehen: um die reformmöglichkeit resp. um den reformwillen in der schweiz, um die frage, ob direkte demokratie einmal initiiert, wieder reduziert werden kann. sollte man das negieren, würde auch erörtert werden, was die auswirkungen der volksrechte auf das politische system und die politischen kulturen sind. das wiederum sollte zu einem exkurs über die stadt/land-beziehungen in der antike, in frühmittelalter, in der lateinischen und in der deutschsprachigen schweiz führen.

die these, die ich hier, gegen die intentionen des gesprächsleiters vertrat, lautete: die politische konkordanz zwischen den parteien ist nicht zwingend; aktuell bewegt sie sich auch in richtung aufweichung. damit nicht verwechselt werden darf aber die konkordanz zwischen den politischen kulturen, die in erster linie sprachregional bestimmt ist. sie in der direkten demokratie zu wahren, ist eine zwingende aufgabe der frielichen konflitktregelung in der plurikulturellen schweiz.

die ersten reaktionen auf die sendung

ob wir all die ziele beantwortet haben, weiss ich nicht! ich sehe nur die zahlreichen reaktionen. und die sind meist überschwänglich.

merci vielmals für das breit geteilte lob und den dank, eine sternstunde der politischen philosophie erlebt zu haben, sage ich da. und ich danke auch für die einwände, die ergänzungen, und die hilfen beim verständnis und ihrer übersetzung in andere kontexte. merci sag ich all jenen, die sich direkt an mich gewendet haben, oder auch über dritte mir ihre reaktionen haben zukommen lassen. besonders herzlich bedanken will ich mich aber beim rebell.tv, das die sendung schon im voraus mit der werbetrommel bekannt gemacht und sie dann auch live protokolliert – und kommentiert hat.

selbst auf den stadtwanderer hatte die sendung auswirkungen: die nutzung meines blogs war am sonntag hoch, – insbesondere drei beiträge wurden überdurchschnittlich genutzt:

• das programm über die berner stadtwanderung zur demokratiegeschichte,
• den beitrag zum abstimmungssonntag vom 21. mai 2006, und
• die biografie von kaiserin adelheid, dem gegenstück zum heidi, und die beide, gerade im ausland je für eine ganz anderes schweizbild stehen.

wenn ich meinen blog selbstkritisch ansehe, merke ich auch, dass ich zu ludwig snell nie ausführlich berichtet habe. Ich werde das nachholen, – aus dem blickwinkel der archive für staatsrecht, für liberale gesinnung in burgdorf und für asylunterkünfte auf der rigi.

ich sehe, ich werde noch weit ausholen müssen, mit meinen wanderungen.

stadtwanderer

sendung ansehen