wörter sterben (linguistik für stadtwanderer, 3. teil/schluss)

wörter werden (teil 1 der serie “linguistik für stadtwanderer”)
wörter wandern (teil 2 der serie “linguistik für stadtwanderer”)

wörter sterben, doch spricht niemand darüber. der stadtwanderer bricht jetzt das schweigen!


quelle: flickr_futurowoman

der lebenszyklus von wörtern

wer in alten schriften stöbert, merkt es schnell: wörter werden geboren, blühen, wandern, welken und sterben. mit ihnen ist es wie mit pflanzen, ausser dass der lebenszyklus meist länger ist.

vertraut sind uns noch der missbrauch, der misstritt und der missgriff. doch das missmaul, der misslauf oder der misskram sind uns fremd geworden. und bei misswahl denkt heute niemand mehr an die falsche wahl, sondern an die schöne!

die heutige sprache ist miss-bildungen gegenüber skeptisch geworden, – ganz anders noch als die des 18. jahrhunderts. da verwendete man die vorsilbe noch ohne bedenken, nicht aber ohne probleme.

denn sie kann miss-verständlich wirken!
oder konjugieren sie mal misspreisen!
und sprechen sie alle ihre miss-wörter ohne missbetonung aus!

man hat deshalb die vorsilbe miss- vielerorts verdrängt. fehltritt ist einfach klarer der misstritt, und für fehlschlag gilt dasselbe im vergleich zum missschlag. hand aufs herz: wenn ihre mail falsch ankommt, sagen sie dann missverbunden oder fehlverbunden?

ziel der kommunikation ist es, missverständnisse zu vermeiden. und da sind veraltete worte wie missverstand einfach missverständlich.

die hauptschuldigen der wörtersterbens

schuld am wörtersterben sind drei: luther, der bürokrat und der germanist. luther standardisierte die regionalsprache. kein katholisches worte mehr sollte über seine lippe gehen. sein bischof hätte noch über seine lefze gesagt und damit gleich ein glaubensbekenntnis abgegeben. luther mochte den umkreis nicht, er machte ihn zur grenze, rund um den hügel, auf dem er stand, nicht um den bühel.

die bürokraten haben von amtes wegen wörter vernichtet. der rechtsanwalt verdrängte den sachführer, verbannte der rechtsbeistand, und bedrängt heute noch den fürsprecher. und die germanisten haben immer wieder deutschwellen lanciert, dabei jedoch nicht immer viel gesckick bewiesen: spitzsäule hat sich nicht durchgesetzt, der obelisk ist geblieben. stachelschrift ist übel, fast schon satire in eigener sache! und grammatik freut einen nicht mehr als sonst, wenn man sagt: “der gebefall ist dem zeugefall sein tod!”

vor- und nachteile der neuen sprache

die reformierte, gesittete und verstaatlichte sprache der neuzeit vermeidet auch das körperliche. euphemismus nennt man das, womit man die wortverdrängung selber geschickt verdrängt. doch auch sie war nicht immer erfolgreich: die neuzeitiche erkenntnis bringt nicht mehr als die mittelalterliche begattung. und das gemächt macht kaum einen mann stolzer als den schwanz. kammerlauge schliesslich ist elegant fliessen, aber riecht nicht anders als seich.

eine unbewusst höhere stufe des wortsterbens brachte die zivilisation mit sich: “je reifer die kultur, desto geordneter die sprache”, lehren die linguisten. und sie huldigen der sprachökonomie, die der endung ein ende setzte, dafür mit erweiterungen ungelenkige wörter gemeidig machte: aus fahr wurde so gefahr und aus trug betrug. ordnungspolitisch beliebt ist bei den sprachwächtern jeder zeit der sogenannte präfix- oder suffixtausch: aufhüllen ist heute enthüllen, wohingegen das entküssen zum abküssen geworden ist.

doch ich will nicht klagen: vieles hat sich auch gebessert! die tändelwoche ist verschwunden. die ehehaft auch, und mit ihr der einzögling. flitterwochen feiern wird dafür, ehegemeinschaften haben wir, und einzelkinder ziehen wir auf. diesen ziehen wir kein bruch mehr an, sondern hosen, und wenn die jünglinge durstig sind, meint man nicht mehr, dass sie kühn seien, sondern einen schluck bier brauchen. abgeschafft haben wir schliesslich nur die monarchie. und das synonym eigenwille hier ist gleichzeitig verschwunden, selbst wenn es in der postmoderne als bestandteil der individualisierung wieder auftaucht …

exkurs: wörtersterben in bern

speziell ist das wörtersterben natürlich in bern. viele übersetzungen vom französischen ins deutsche haben den transfer nicht überlebt. der gorumand wurde berndeutsch zu schnäderfräs, und wer das fast verblichene wort als adjektiv, schäderfräsig, braucht, meint heute eher das gegenteil. und s’köch aus dem 18. jahrhundert war der jardinage nachgebildet worden, womit man das beigemüse auf dem teller meinte. schliesslich wurde das fleisch nicht grilliert; man hat es gebräglet, gebraten.

doch nicht nur die kulti- auch die zivilisierung der berner sprache wird im zeitvergleich ersichtlich. was hat man da nicht alles für begriffe gehabt, um andere menschen zu betitel. e dotsch war ein plumer kerl, es baby ein weibischer jünglich, und dr ful war der listiger mann. de klöty wiederum war ein grobian und de leutsch ein liederlicher mensch. lätschmul schliesslich war ein schimpfname für alle und alles! verschwunden sind gottseidank auch tschampel für dumme frau, käschy für bösartige frau, während das fägnescht noch für kinder gebraucht wird, die nicht ruhig einschlafen wollen, nicht mehr aber für frauen, die kein festes bett haben!

folgerungen für den stadtwanderer

man sieht es, der stadtwanderer hat einen grossen friedhof voll von verstorbenen wörter eröffnet. manchmal trauert er den kräftigen unter ihnen wegen ihrer emotionalen stärke nach, dann findet er die verdeutlichungen klar sinnvoll, und schliesslich hat er freude, ist einiges an germanistischem sprachunsinn beseitigt worden.

versagen sie mal holz, wenn sie keine säge haben, sondern nur einen fuchschwanz. ehrlich, verfuchsschwanzen gab es schon mal!

selbst hat der stadtwanderer jedoch ein ähnliches problem. denn seine lieblingstätigkeit ist das stadtwandern. er stadtwandert also, und sollte er dabei einmal eine frau treffen, die auch stadtwandert, möchte er sie gerne willkommen heissen. doch wie nur soll er sie begrüssen: “hallo, stadtwanderin oder stadtwandererin”. und wenns dann gar ein postmodernes paar aus der alternativszene sein sollte, heisst es dann: “hej, stadtwandererInnen, machen sie jetzt auch stadtwandererungen?”

so jetzt ist aber fertig mit dem makaberen thema. ich sag echt kein sterbenswort mehr,

stadtwanderer

wörter wandern (linguistik für stadtwanderer, 2. teil)

wörter werden (teil 1 der serie “linguistik für stadtwanderer”)

wandert nicht nur der stadtwanderer, sondern wandern auch wörter durch die gegend? sicher, zwei beine haben sie nicht! aber sie bewegen sich dennoch in raum und zeit. nur ist uns das meist nicht bewusst! deshalb halte ich dagegen, mit meinem zweiten crash-kurs in semiotik für stadtwanderer.

sprechen verändert die sprache meist unbewusst

sprache dient der verständigung. dafür muss sie fixiert sein, denn verständigung zwischen individuen entsteht nur dann zweifelsfrei, wenn bedeutungszuschreibungen eindeutig sind und sinnzusammenhänge intersubjektiv nachvollzogen werden können. das leistet unser aktuelles sprachbewusstsein, das durch die schriftlichkeit geprägt wird.

wie alles soziale ändern sich aber auch sprachbewusstseine durch die regelmässige nutzung. das geschieht konitnuierlich, aber nur langsam, und vor allem beim sprechen. deshalb bewegen sind kontexte und vorstellungen von wörtern und texten nur unscheinbar, aber unaufhaltsam. historikerInnen, die grosse zeiträume vor augen haben, wissen darum.


obwohl am ende des 13. jahrhundert als gothische kirche gebaut, verzichtete man auf pomp, da das gotteshaus an der predigergasse zum kloster des bettelordens der dominikaner gehörte (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

worthülsen bleiben, der sinn verschwindet

in bern gibt es beispielsweise eine franzosen-kirche. das ist die an der predigergasse. ursprünglich war sie die kirche des dominikanerordens, der seit mitte des 13. jahrhundert in der savoyisch gewordenen stadt bern ein kloster unterhielt. den heutigen namen hat die kirche aber nicht deswegen.

zur franzosen-kirche wurde das gotteshaus, als die reformierten bedrohten glaubensflüchtlinge 1685 unter anderem in die schweiz und nach bern kamen, um bei den glaubensbrüdern um asyl zu bitten. erhalten haben die hugenotten, wie man sie nannte, das gesuchte. die ehemalige dominikanerkirche – seit der reformation nicht mehr benutzt – stellte man ihnen zur verfügung.

das galt bis mitte des 19. jahrhunderts. heut ist davon nur der name übrig geblieben, auch wenn es kaum mehr hugenotten in bern gibt. franzosen-kirche ist demnach die kirche der französischen glaubensflüchtling in bern, die aus frankreich flüchten mussten. da man keine katholiken in bern von damals hatte, stellte man nicht auf die kleine differenz zwischen französischen und bernischen reformierten ab, sondern – vereinfachend – auf die herkunft der menschen, – und gab ihnen so einen namen franzosen, der sich auch auf “ihre” orte in bern übertrug.


vom ende des 17. bis mitte des 19. jahrhunderts die kirche der hugenottischen flüchtlinge aus frankreich; heute l’öglise protestante de la paroisse française (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

das exempel: “hugenotten” und “eidgenossen” meint das gleiche!

und “hugenotten”? was eigentlich meint das?

“eidgenossen”, schlage ich vor! die franzosenkirche würde viel besser eidgenossen-kirche heissen!

hää? – ja, eben weil wörter wandern, und, mit verändertem sinn, sogar an den ursprungsort zurückkommen!

die “eidgenossen” entstehen

eidgenossen waren im 13. jahrhundert verschworene, die sich zusammenschlossen, um auch ohne adeligen schutz rechtssicherheit zu gewähren. solche entwicklungen entstand an verschiedenen orten fast gleichzeitig.

“1291” hat sich in unser gedächtnis eingebrannt, – als datum, an dem die drei eidgenossen auf der rütli ihren schur taten und sich gegenseitig unterstützung gegen die habsburger herzöge zusicherten. “1239” müsste man historisch wohl eher sagen, als sich bern und murten zu einem bündnis zusammenschlossen. 1218 waren sie, als die zähringer ausstarben, zu freien reichsstädten geworden und unterstanden dem kaiser direkt.

doch friedrich lebte meist in italien, und focht dort einen epochalen streit mit dem papst aus. er verlor ihn schliesslich. 1245 wurde er als ketzer aus der katholischen kirche ausgeschlossen. spätestens damit zerfiel der einfluss des kaisers auf die rechtssicherheit. und genau diese versuchte man mit bündnissen zwischen orten zu sichern, die gemeinsamen handelt betrieben.

als “eydgenossen” nahmen die städte und länder, die sich verschworen (“coniuratio” war die bezeichnung aus sich der herrschenden) eine alemannische tradition der lokalen selbstverwaltung auf, die zum grundgedanken des werdenden bündnissystems zwischen aare, reuss und limmat wurde. nach den militärischen siegen von 1386 in sempach resp. 1388 in näfels gegen die habsburger war man nicht nur die dominierende kraft im mittelland. im sempacherbrief von 1393 trat man erstmals auch als einheitliche ordnungsmacht für fragen der kirche und des militärs auf, und sprach, obwohl unverändert ein teil des kaiserreiches, keck von einer “eidgenossenschaft”.

zu dieser eidgenossenschaft, die 1499 einen teilautonomen status im neugeordneten erzwang (tschetschenie lässt grüssen!), tendierte zu beginn des 16. jahrhunderts das bürgertum wichtiger städte in der heutigen romandie. bedrohlich wirkte für sie zunächst die katholische kirche; mit ihren wachsenden ansprüchen an kirchensteuern für militärische feldzüge in italien und palastbauten in rom wurde sie für das städtische handwerk mehr zu last als zur stütze. bedrohlich waren aber auch die herzöge von savoyen, in turin residierend, die direkten anspruch auf die städte erhoben am lac léman erhoben.

die “hugenotten” entstehen

namentlich im französischsprachigen genf nannte man ab 1520 die partei, die anti-savoyisch und pro-eidgenössisch war, folgerichtig “eidgenossen”, leidlich ins französische übersetzt “eydgenots”. daraus entwickelte sich nach und nach die wörter “eig(u)enots”, “aig(u)enots und ähnliches. alle waren sie eine fremdbezeichnung für die bewegung, die aus dem eidgenössisch geprägten mittelland kam, und sich über genf hinaus ins rhonetal und auf halb südfrankreich auszudehnen drohte, einer der freiheitskämpfer gegen die alte herrschaft war besanzon hugue, und es liegt auf der hand, dass sein name die begonnene verballhornung von eidgenossen zu aig(u)enots schliesslich als hug(u)enots vollendete.

die calvinisten, die sich nach 1536 zu einer religiösen kraft in der gesellschaft, aber auch zu einer politische bewegung im werdenden französischen staat darstellten, wurden seit mitte des 16. jahrhunderts verallgemeinernd hugenotten. selbst hatten sie zahlreiche andere namen, doch ihr auftreten wurde durch das katholischen königshaus überall unter diesem sammelschimpfnamen zumsammengefasst.

1598 erhielten diese hugenots den charakter einer staatlich geschützten christlichen minderheit, ohne je zur staatsreligion zu werden, wie das die lutheraner im 1555 im augsburger religionsfrieden schafften. 1685, mit der aufhebung des friedensichernden edikts von nantes durch louis XIV., entstand die erste grosse flüchtlingsbewegung. diese suchte den schutz unter anderem in der eidgenossenschaft, – seit 1648 ein vom reich unabhängiger staat mit starken affinitäten zu frankreich.

als die flüchtlinge nach bern kamen, nannte man sie franzosen, hugenotten, statt sie mit eidgenossen, reformierten zu begrüssen.

zur fluktuanz der sprache, ein merksatz zu und für wanderungen

vergessen gegangen war ende des 17. jahrhunderts der bedeutungszusammen von eidgenossen, eydgenots, aigenots und hugenots der in der beginnenden neuzeit vor allem in genf entstanden und durch die übersetzung eines begriffes aus der alemannischen tradition ins französische ein erstes mal gebrochen worden war. mit der rückübersetzung vom französischen hugenots ins deutsche hugenotten passierte gleiches gleich noch einmal. vergessen ging diesmal die bedeutungszuschreibung, die durch den kampf der royalistischen katholiken gegen die reformbewegung entstanden war, die im 16. jahrhundert unter den adeligen des süden frankreichs rasch an unterstützung gewonnen hatte.

etymologisch haben “eidgenossen” und “hugenotten” jedoch die gleiche wurzel. die begriffe sind aber zu verschiedenen zeiten und verschiedenen räumen geprägt worden. ihre entstehungskontexte sind verschieden, und ihre kulturellen bedeutungszuschreibungen sind es auch. deshalb können wir den vergleichbaren ursprung mit unserem heutigen sprachbewusstsein gar nicht mehr vorstellen.

sprachgeschichtlich und kulturhistorisch ist der zusammenhang aber evident. und das passt gut zu meiner semiotische absicht, die ich zur weiterbildung von stadtwandererInnen verfolge: nämlich zu zeigen, dass auch wörter wandern, im raum und zeit, und dabei fluktuieren. wie hiess es meiner einleitung so schön:

fluktuanz ist die uns meist unbewusste, nicht seiende, aber werdende substanz der wörter!

semiotisch
angehauchter
stadtwanderer

wörter sterben (teil 3 der serie “linguistik für stadtwanderer”)