unipress pusht “stadtwanderer”

soweit sind wir nun: wenn in bern grossanlässe für historikerInnen wie die museumsnacht (ich berichtete) oder der historikertag (ich berichtete ebenfalls) stattfinden, fragt unipress, das magazin der uni bern, den stadtwanderer an, sich weiterführende gedanken im hoforgan der alma mater zu machen.

klar, dass ich da zugesagt habe …

was dabei herausgekommen gekommen ist folgt nachstehend für meine geneigte leserschaft im ungekürzten original!

stadtwanderer

ps: die majuskeln waren der kompromiss mit der redaktion, ich entschuldige ich für die ganz unübliche schreibweise!


der stadtwanderer, mit etwas schalkhaftem blick (foto: anclickbar)

Geschichtsvermittlung muss der Geschichtsproduktion folgen!

Bern hatte jüngst zwei Grossanlässe, die sich mit Geschichte befassten. Doch blieben der erste Schweizer Geschichtstag und die Museumsnacht unverbunden. “Leider!”, sag ich, denn in der Vermittlung könnte mehr entstehen.

Historikertage hat die Schweiz schon lange. Seit diesem Jahr hat sie auch einen Schweizer Geschichtstag. Die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte und das Historische Institut der Universität Bern veranstalteten ihn gemeinsam. Er ging gleich mehrere Tage, und es nahmen rund 500 Historiker und Historikerinnen teil, – ein Drittel davon als Vortragende. An der Museumsnacht nur eine Woche später präsentierte die Stadt Bern ihre zahlreichen Museen, Ausstellungen und Bibliotheken. Keinen Tag dauerte die Veranstaltung. Aber eine lange Nacht. Und es kamen rekordverdächtige 100’000 Geschichtsinteressierte.

Auch wenn es nur eine “Milchbüchli”-Rechnung ist: Auf jede(n) aktive HistorikerIn am Geschichtstag gäbe es nur schon in Bern 200 Geschichtsinteressierte! Man stelle sich nur vor, was das für eine Chance der Inspiration das wäre!

Die Gründe für die enorme Nachfrage analysiert am Schweizer Geschichtstag Hermann Lübbe. Heute würden im Verlaufe eines Jahres mehr Menschen einmal in ein Musuem als zu einem Fussballspiel gehen. Jedes 8. Haus in einer Stadt steht unter Denkmalschutz. Und die Bestsellerlisten der Magazine sind gespickt mit historischen Werken. Geschichte boomt also, fasste der emeritierte Philosophie-Professor den Stand der Dinge zusammen. Das sei so, weil sich die Gegenwart so schnell ändere. Je rascher sie das tue, desto geschwinder werde man selbst der eigenen Gegenwart fremd. Und je schneller diese geschehe, umso mehr brauche es Geschichte, die kompensiere.

Das war hart. In der Analyse, – und in der Provokation. Die Profi-HistorikerInnen liessen denn auch den Nachsatz nicht gelten. Sie seien keine Psychotherapeuten einer neurotischen Gesellschaft. Valentin Gröbner, der junge Mediävist aus Luzern, konterte behände. Geschichte sei nicht da, um Abstammungslehren zu breiten. Es brauche sie auch nicht, um verschüttete Identitäten zu pflegen. Sie haben vielmehr die Aufgabe, sich dem Fremden zuzuwenden, das in der Vergangenheit stecke. Das interessiere per se, weshalb die Geschichte keine Mission, aber eine Aufgabe habe: Sie soll prüfen, was an den vielfach kuriosen Geschichten zur Vergangenheit stimme und was nicht.

Genau das machte am Historikertag ein bemerkenswerter Workshop zur Nationalgeschichtsschreibung. Keiner zitierte da noch “1291” oder was danach kam. Und niemand mehr bezog sich auf das liberale Selbstverständnis der Schweizer Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Vielmehr debattierten zahlreiche Männer und Frauen, linke wie rechte, SchweizerInnen wie EuropäerInnen munter über den Gebrauch der Geschichte. Nationalgeschichte, von der eigenen Nation für die eigene Nation geschrieben, sei mehrheitlich missbraucht werden. Die Wissenschaft habe das schon längst durchschaut, und sie ist deshalb auch auf Distanz gegangen. Nationalgeschichten interessierten heute vor allem im Vergleich. Was Gemeinsames in Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft hat die Nationen erst hervorgebracht? Was sind die Muster, auf die man sich bezieht, um das Eigene darzustellen? Und was für ein Verständnis vom Fremden wird dabei entwickelt? Was da diskutierte wurde, war fruchtbarer als alles, was ich hierzu im Geschichtsstudium gehört hatte.

Die Geschichtsproduktion, die so seit den 80er Jahren gerade in der Schweizer Geschichtsschreibung entstanden ist, lässt sich sehen: Das “Historische Lexikon” ist weit fortgeschritten; es ist jetzt schon eine Fundgrube geprüfter Information zum Vergangenen geworden. Vorbildliche Gesamtdarstellungen der Schweizer Geschichte gibt es zwischenzeitlich nicht nur in jeder Sprache, sondern auch in jedem Format. Und die zahllosen Kantons-, Stadt- und Dorfgeschichten, die überall aus der Hand gut geschulter HistorikerInnen entstehen, sind ein eigentliches Kaleidoskop der Entwicklungswege des Lokalen im Nationalen.

Doch stellte sich die bange Frage: Hat die Geschichtsvermittlung mit der Geschichtsproduktion Schritt gehalten? Ich habe vom ersten Schweizer Historikertag mehr als nur eine Show der zahlreichen Arbeiten in und über die Schweiz erwartet. So gut dies gelungen ist, so wenig überzeugt hat mich die Art und Weise, wie die Forschung vermittelt wurde. Geschichtsdidaktik wurde flugs an die Mittelschullehrer delegiert; sie wäre aber gerade in jedem anderen Forum nötig gewesen. Zu vieles war introvertiert und für Aussenstehende unerheblich. Zu wenig war auf Kommunikation ausgerichtet und nicht nur am Kollegen/Konkurrentin ausgerichtet. Da ist man noch wenig weit vom traditionellen Historikertag entfernt.

Vom zweiten Schweiz Geschichtstag erwarte ich gerade in der Geschichtsvermittlung mehr. Eigentlich sollte jeder Referent, jede Referentin meine “Milchbüchli”-Rechnung in der Ausschreibung gestellt bekommen. Auf einen Geschichtsprofi in der Schweiz gibt es in einer schweizerischen Grossstadt 200 Geschichtsinteressierte in jeder Stadt, die eine Uni hat! Nur wer auf die Frage, wie man dieses enorme Geschichtsinteresse zum wirklichen Geschichtsboom anleiten kann, sollte referieren dürfen.

Qualitätsprüfung nach Innen ist für die Geschichtswissenschaft essenziell. Reflektierte Inspiration des Geschichtsbewusstseins in der Gesellschaft wäre für Geschichtstage ebenso wichtig!

Claude Longchamp
Politikwissenschafter und Umfrageforscher, Leiter des Forschuntsintituts gfs.bern am Berner Hirschengraben 5. Er hat in Zürich und Bern Geschichte studiert und betätigt sich seit zwei Jahren als Stadtwanderer von Bern.

www.stadtwanderer.net/blog.

toll, das man den stadtwanderer so unterstützt!
ich sage danke an marcus und astrid, beide ehemalige studi von mir, aus meiner zeit als lehrbeauftragter für politikwissenschaft an der uni bern!

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