falsche geburtstage der schweiz

es ist der 8. november 2007. vor 100 jahren feierte man das datum als den 600. geburtstag der schweiz. nicht nur als folklore. sondern in anwesenheit einer dreier-delegation des bundesrates. demnach wäre heute der wirkliche 700. geburtstag der schweiz. doch am 1. august 1991 haben wir schon einmal pompös eben diesen geburtstag gefeiert. deshalb rührt sich heute kaum mehr jemand, gleiches nochmals zu tun. ob das eine datum falsch und das andere richtig ist, kann sogar bezweifelt werden. für den stadtwanderer sind es, einer neuen tradition der schweizer geschichte folgend, beides vor allem politisch motivierte, nachträgliche vorstellungen der vergangenheit mit geringen realitätsgehalt. ein konstruktivistischer aufklärungsversuch!

die 1291er tradition

der 1. august geht auf eine entscheidung des bundesrates zurück, die er anfangs der 1890er jahre fällte. zwischen dem staatsführenden freisinn und der katholisch konservativen opposition sollte ein burgfriede geschlossen werden. die landesregierung sollte umgebildet werden. die partialrevision der bundesverfassung sollte zugelassen werden. und der bürgerlichen schweiz sollte gezeigt werden, dass man einen schlussstrich ziehen will unter die konfessionell-räumliche spaltung der schweiz, die mit der reformation begonnen hatte, und das land, das leben und die politik in hohem masse dominiert hatte.


der bundesbrief in schwyz, von 1291, gilt den einen als gründungsdokument der schweizerischen eidgenossenschaft (foto: anclickbar)

damals erklärte man den 1. august 1291 per dekret zum gründungstag der schweiz. man stützte sich darauf, dass der deutsche könig rudolf I. von habsburg, mitte juli 1291 verstorben war. in den ersten tagen danach wurden alte bündnisse beschworen, die zur selbstregelung der verhältnisse bei abwesenheit des königs galten. das führte zum bundesbrief von 1291, den uri, schwyz und unterwalden (nicht aber obwalden) beschworen. uri und schwyz berief sich darauf, vom kaiser 1231 resp 1240 entsprechende priviligen erworben zu haben, während unterwalden damals noch keine solche vorweisen konnte.

bis 1760 war der heutige bundesbrief jedoch gar keine thema. weil er keine bedeutung hatte, galt er nicht einmal als verschollen. es war der basler historiker heinrich gleser, der ihn mit einer speziellen edition eerst bekannt machte. in historikerkreisen, genauso wie in der politik fand er seine voll anerkennung erst gegen ende des 19. jahrhunderts, als man, für die patriotische festbewegung, ein einigendes symbol brauchte.

die 1307er tradition

bis ins 20. jahrhundert galt das datum 1307 als gründung der schweiz, selbst wenn es im wissenschaftlichen sinne hierfür keinen beleg gab.


das tell-denkmal in altdorf memoriert immer noch 1307 als jahr des aufstands (foto: anclickbar)

aufgebracht wurde das 1307er datum vom glaner politiker aegidius tschudi, der 1534-6 seine geschichte der schweiz verfasste. ausgangspunkt war die reformation gewesen, samt den reaktionen hierzu, die in glarus, das gemischt-konfessionell blieb, zu einer besonderen spaltung führte. tschudi versuchte mit der erstmaligen stilisierung einer staatsgründung ein einigendes band zu weben.

tschudi schrieb sein monumentales werk, das chronicon helveticon, im geistes des humanismus, und prägte dabei, ohne beleg, die vorstellung, die schweiz sei am mittwoch vor martini 1307 gegründet worden. damals habe der rütlischwur stattgefunden, hielt er fest, und der berühmte burgenbruch sei dann am 1. januar 1308 erfolgt.

auslösenden moment der staatsgründung in der innerschweiz wäre nach tschudi nicht der tod von könig rudolf, sondern die probleme seines sohnes, könig albrecht I. gewesen, der einmal auf dem weg war, kaiser zu werden. 1307 sank jedoch sein stern zusehends. er kämpfte wenig erfolgreich gegen die kurfürsten, verlor im osten seines reiches grosse schlachten, drehte verzweifelt an der steuerschraube, und er musste grössere aufstände in schwaben hinnehmen. diese wirkten auch auf das gebiet der schweiz aus, wo es zum schwur der innerschweizer eidgenossen kam. nur ein jahr später wurde übrigens albrecht bei königsfelden von einem verwandten ermordet.

am anfang einer neuen tradition?

was nun gilt? – die politik anerkennt heute nur den 1. august 1291 als geburtstag der schweiz. der 8. november 1307 ist fast ganz in vergessenheit geraten. nur randnotizen in der tagespresse erinnern heute daran.


die entstehung der schweiz vom 13.-15. jahrhundert als teil des heiligen römischen reiches.
quelle: roger diener et al.: die schweiz. ein städtebauliches portrait, basel 2006 (foto: anclickbar)

die geschichtswissenschaft ihrerseits ist gespalten. sie neigt immer mehr dazu, keine der beiden daten anzuerkennen, ja, gar die idee zu verwerfen, die schweiz sei im eigentlichen sinn gegründet worden. sie vertritt vielmehr eine neue these: vorstellungen einer staatsgründung seien national- oder bundesstaatliche projektionen in die vergangenheit, die seit dem 16. jahrhundert im schwange waren. sie würden besser durch die umstände ihrer entstehung erklärt als durch durch die ereignisse, auf die sie sich stützen.

genau diese vorstellung hat die publizistik der jüngsten jahre aufgegriffen. die aussagekräftigste vorstellung hierzu hat eine gruppe von architekten, raumplanern, philosophen und soziologen in einem bericht für den nationalfonds skizziert. demnach hat sich die schweiz in der krise des heiligen römischen reiches mitte des 13. jahrhunderts als bündnissystem zu entwickeln begonnen. die imperiale macht im mittelland verschwand, und es wurde sowohl durch das adelige prinzip der habsburger, als auch das eidgenössische der stadt- und landbünde ersetzt. dieser prozess hat in den 1380er jahren mit den schlachten von sempach und näfels eine erste konsolidierung erreicht, bis hierher zählt man 86 verschiedene bündnissysteme mit unterschiedlichen teilnehmern und von unterschiedlicher dauer.

der verfassungsrechtliche einschnitt war 1393 mit dem sempacher-brief. von da an kann man nicht nur von eidgenossen, sondern von einer eidgenossenschaft sprechen. der brief regelt die oberhoheit eben dieser eidgenossenschaft in kirchlichen fragen, und bezeugt den willen, eine gemeinsame passpolitik am gotthard zu betreiben. der verfassungsrechtliche prozess hat nach den schlachten von grandson und murten in das stanser verkommnis von 1481 gemündet, dem ersten dokument, das alle stände der eidgenossenschaft gemeinsam unterzeichneten. bis 1513 entwickelte sich daraus die 13örtige eidgenossenschaft.

stationen der staatswerdungen waren 1499 (der schwabenkrieg mit dem frieden von basel), 1648 (westfälischer friede mit der ausnahme der schweiz aus dem heiligen römischen reich deutscher nation durch frankreich und schweden), 1798 (helvetische republik, mit dem vasallenstaat napoléons), 1815 (wiener kongress mit der erstmaligen garantie der grenzen und der aussenpolitischen neutralisierung) und 1848 mit der gründung des bundesstaates. nur letzteres entspricht dem ideal einer souveränen staatsgründung, die, zu ihrer festigung, auf den patriotischen mythos von geformt habe.

statt der vorstellung eines staatsgründungsakts im spätmittelalter sollte man sich besser ein anderes bild memorieren: eine frisch geschossene foto der heutigen schweiz, nochunerkenntlich, sei in einer dunkelkammmer in ein bad gelegt worden, um es zu entwickeln. nach und nach seien die konturen entstanden, die dann zum fertigen bild geführt haben.

einen bestimmten geburtstag braucht es für diese fotogenese nicht!

prost schweiz, sag ich heute, auch wenns gar kein geburtstag ist …

stadtwanderer