warum tell keine mutter und töchter hat

historiker, politiker und andere geschichtenerzähler greifen bis heute gerne auf “wilhelm tell” zurück. doch was halten historikerinnen, politikerinnen und geschichtenerzählerinnen von nationalhelden von friedrich von schillers gnaden? -“nichts!”, könnte man meinen. denn es fällt auf, dass “wilhelm tell” viele söhne und väter hat. doch von töchtern weiss man eigentlich nur wenig. und von seiner mutter schon gar nichts.


geistiger vater der tellengeschichte: der glarner humanist, gegenreformator und kämpfender landammann aegidius tschudi (1505-1572)

das allein nährt die vermutung, tells geburt sei nach seinem tod erfolgt. mehr noch: tell sei leiblich nie gestorben, und er habe nur einen geistigen vater!

der glarner politiker aegidius tschudi aus dem 16. jahrhundert

in der tat: erst aegidius tschudi, der glarner gelehrte, politiker und historiker, der von 1505 bis 1572 lebte, hielt tell für die schweizer literatur fest.

seinen zeitgenossen war tschudi nicht als historischer schriftsteller bekannt. während der reformation vermittelte er vorerst noch zwischen beiden lagern in glarus. später schloss er sich der gegenreformation an. der krieg zwischen der katholischen und der reformierten partei im glanerland ist nach ihm, dem siegreichen landammann der katholiken, benannt. dazwischen amtete tschudi als landvogt in sargans, rorschach und baden, bevor er, von rapperswil und glarus aus, seine historischen studien in eine fertige, aber unveröffentlichte form goss. seine monumentalen geschichten im schweizer raum wurden alle erst im 18. jahrhundert verlegt, rezipiert und kritisiert.

die verknüpfung verschiedener traditionen aus dem 15. jahrhundert

tschudi goss seine tellgeschichte um 1570 in eine form, die bis zur wende vom 18. ins 19. jahrhundert vorbildcharakter behalten sollte. er griff dabei auf verschiedenen traditionen zurück, die er miteinander verknüpfte:

einmal bezog sich tschudi auf das tellenlied, das die söldner 1499 auf ihren zügen gegen die heere von könig maximilian sangen. erkannte auch das urner tellenspiel, 1512 von valentin compar im auftrag der regierung geschrieben. beides wurde im 16. jahrhundert schriftlich festgehalten, und diente dem historiker als volkstümliches quellenmaterial. das war noch nicht auf den bund der eidgenossen ausgerichtet, eher auf den kampf gegen habsburg.


die älteste darstellung des apfelschusses von tell aus der luzerner chronik des petermann etterlin von 1513

sodann griff der glarner gelehrte auf das weisse buch von sarnen zurück, einer gesetzessammlung der innerschweizer aus dem jahre 1470, das, bezugnehmend auf die berner chronik von conrad justinger, in der einleitung die tellgeschichte schriftlich festgehalten hatte. diese herrschaftstradition sah in tell den ursprünglichen stifter des bundes der eidgenossen, der stets gegen die habsburger gerichtet gewesen sei,

die rückdatierung tells ins 14. jahrhundert

tschudi widerum datierte tells referierte taten, ohne auch nur einen schriftlichen beleg zu haben, in die zeit zwischen 1307 und 1308. diese war durch den sturz von papst bonifatius viii. im jahre 1303 gekennzeichnet, in dessen folge sich das papstum nach frankreich ausrichtete und der papst selber nach avignon ging. mit bonifatius hatte könig albrecht i., römisch-deutscher könig aus dem hause habsburg, einen vertrag auf die kaiserkrone abgeschlossen, den er aber juristisch nicht einlösen könnte, sodass er vor allem zu militärischen machtmitteln griff. 1308 fiel er einem attentat durch verwandte und schwäbische kleinadelige zum opfer.

der sturz der beiden wichtigsten repräsentanten der macht im heiligen römischen reich bildete für tschudi nachträglich den idealen hintergrund, um den aufstand der innerschweizer, geführt von tell, als gerechte sache erscheinen zu lassen. so wurde der rütlichschwur auf den 8. november 1307 terminiert, tells auftritt in altdorf auf den 18. november desselben jahres, gesslers tod auf den 20. november 1307 und den burgenbruch auf den 1. januar des neuen jahres 1308.

mehr noch: albrechts nachfolger, graf heinrich von luxemburg, 1309 von den kurfürsten zum römisch-deutschen könig gewählt, 1312 von kardinälen in rom zum kaiser erhoben, versuchte die gespannte lage zu beruhigen. er regelte durch die anerkennung und erweiterung der innerschweizer freiheitsbriefe aus der zeit des staufer-kaiser friedrich ii. die wirren verhältnisse in uri, schwyz und unterwalden anfangs des 14. jahrhundert neu und begründete so die nähe der innerschweizer zum kaiser, nicht aber zum hause habsburg.


ganz seltenes bild aus der werbewelt der gegenwartig: die tellin begleitet ihre tochter zum brotaufstrich cenovis (foto: stadtwanderer)

durch tschudis trick waren tells taten nicht nur legitim, sondern auch legalisiert. falls sie mehr als reichlich angeheizte männerfantasien sind …

stadtwanderer