mit euren favoriten unterwegs (dezember 2007)

ihr seid mein spiegel!

ich überlege, wähle aus uns schreibe, was ich als stadtwanderer erlebe, recherchiere und beoachte.
ihr wiederum schlagt nach, lest und kommentiert.

das ist bloggen. an sich.


des stadtwanderers berühmter spiegel: nur bei genauem hinschauer erkennt man den stadtwanderer wirklich (foto: stadtwanderer, anclickbar)

mein bloggen ist der stadtwanderer. er hat mir eröffnet, was bloggen überhaupt ist. denn vor zwei jahren hatte ich noch keine ahnung von blogs. hätte man mich gefragt, ich hätte nichts geantwortet, oder “sms mit mehr platz”. da ich kein mobile habe, wäre das eine gehobene disqualifizierung gewesen.

heute lob’ ich mir das bloggen. es ist eine neue form der kommunikation. keine individualkommunikation und auch keine massenkommunikation. vielmehr eine individualisierte form der anonymen kommunikation.

noch ist vieles einwegkommunikation. doch das tritt immer mehr in den hintergrund. denn auf dem stadtwanderer seit neuesten intensiv diskutiert. mal unterstützend, mal harsch. mal zu mir, mal zu sich selber und mal zu anderen.

es freut mich, dass meine mehrere hundert beiträge ebenso viele kommentare bekommen haben. einige kenne ich, bei anderen ahne ich was. dritte wiederum habe ich noch nie gesehen, und werde mich wohl auch nicht face-to-face mit ihnen unterhalten.

und dennoch gehört ihr alle zur wachsenden stadtwanderer-gemeinde. 88000 seiten wurden diesen monat aufgerufen. am zweitmeisten innert 30 tagen, seit es diesen blog gibt. bezogen auf besuche sind es rund 45000, einzelne besucher hat mein zählwerk rund 25000 registriert.

damit gehört der stadtwanderer zu den a-blogs. in der schweizer blogger-hitparade ist er, von tagesschwankungen abgesehen, an 150. stelle. und weltweit kann er gerade unter 200’000 am meisten verlinkten mithalten.

eine grosse tat, die mich am meisten freut, hat der stadtwanderer vollbracht: “kaiserin adelheid” wäre vor zwei jahren wohl selbst den meisten historikern kein begriff mehr gewesen. “der spiegel” vergass die begründerin des mittelalterlichen römischen reiches 2006 schlicht, als man 200 jahre untergang des von ihr geschaffenen werkes gedachte.

doch ihr habt mir tatkräftig geholfen, gegensteuer zu geben!

meine beiträge zur bemerkenswerten frau aus bümpliz habt ihr schrittweise, aber kontinuierlich zunehmend aufgerufen, bis google den stadtwanderer bei diesem stichwort für die ganze internetwelt vor allem anderen listet. das heisst nicht anderes, als man sich hier über die gründerin des mittelalterlichen kaisertums informiert!

der berner spiegel, der so übers stadtwandern, über mich und meine fans entstanden ist, macht mir unverändert freude. er regt mich meisten an, selten auf. er fordert mich, stets für neues ein waches auge zu haben, und er hilft mir, erfahrenes zu verarbeiten, zu memorieren und zu verarbeiten.

das hält mich (gelegentlich im wahrsten sinne des wortes) wach.

wohl auch über silvester hinaus:

prosit neujahr!

und nun spiegle ich euch zurück. hier noch, was diesen monat am meisten beachtet wurde:

1. (vormals 1)
körpersprache des bundesrates
zirka 1050 direktviews
neujahrsfoto 2007, bundesrat, politik

2. (vormals 2)
auch aristoteles wäre für den baldachin gewesen
zirka 1030 direktviews
bern stadt, bahnhofumbau, griechisches philosophie

3. (vormals 5)
meinstein (3): was während einsteins berner jahre in der stadt geschah
zirka 560 direktviews
albert einstein, stadt bern, geschichte

4. (neu)
als ich ein schwarzes schaf war
zirka 420 direktviews
mein leben, wahlkampfstimmung, alltag

5. (erneut)
räume sehen und lesen lernen
zirka 410 direktviews
geschichte, raum und zeit, bilder lesen lernen

6. (erneut)
das leben der kaiserin adelheid
zirka 390 direktviews
burgunder, kaiserin, bümpliz

7. (neu)
12. dezember: bern bundesplatz
zirka 380 direktviews
bern stadt, politik, alltag

8. (neu)
die rebellion des bedrohten wortes
zirka 375 direktviews
buchbesprechung, kulturkritik, politische philosophie

9. (neu)
was eigentlich ist opposition im konkordanzsystem
zirka 370 direktviews
politik, svp-opposition, schweiz

10. (neu)
die befreiung
zirka 360 direktviews
bern stadt, alltag, politik nach blocher

stadtwanderer

ps:
was in diesem jahr am meisten beachtet wurde, findet sich unverändert in der spalte links (top 50)

bern verärgert new bern verärgert bern

ich war geneigt, eine wohlwollende ausstellungskritik zu schreiben. das thema interessierte mich, den fotografen kenne ich. und der ausstellungsort ist mir nicht unsympartisch. doch dann geriet ich mit der aufsicht unverhofft ins gespräch und verliess nach einem ernsthaften konflikt die exposition wieder.


fotos, die im öffentlich subventionierten kornhausforum erlaubt sind: die new berner bären und der old berner bär. alles andere ist während der fotoausstellung verboten (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

michael von graffenried fotografiert, was aus der gründung seiner vorfahren geworden ist

“bern verärgert new bern”, titelte “das magazin” des tages-anzeigers und der berner-zeitung vor kurzen. berichtet wurde über michael von graffenrieds fotoreportage, die er im amerikanischen north carolina über die provinzstadt mit schweizerisch anmutendem namen gemacht hatte.

angefangen hatte alles in minne. denn ein vorfahre des bekannten fotografen aus bern, christoph von graffenried, war vor 297 jahren der gründer von new bern gewesen. und das weiss man heute noch in der stadt. genauso, wie man sich der erfindung von pepsi-cola in einer apotheke new berns gerne erinnert. das verschaffte dem exilierten michael, der heute in paris lebt, vorschusslorbeeren. “das magazin” berichtete, dass sich alle in new bern ablichten lassen wollten, – am liebsten jedoch mit dem fotografen von rang und namen, nicht durch ihn.

doch dann begann der ärger. michael von graffenried jedoch nahm sich die freiheit heraus, ohne vorschriften in new bern zu arbeiten. von der auftragsarbeit als pressefotograf hat er sich angewidert abgewendet. pr-fritzen würden bestimmen, was man zeigen darf und was nicht. das vermiese die gute laune im geschäft, weshalb er es vorzieht, als freischaffender künstler zu agieren.

und so machte er bilder von dem, was ihn interessierte:

zum beispiel wie der hobbyjäger, der einen bär erlegte, voller stolz seine schweizerisch-amerikanischen waffensammlung präsentiert.
oder wie das marine corps in vollmontur im hallenbad das entrinnen vor dem ertrinken übt.
oder wie muslimische flüchtlinge aus der ex-sowjetunion in einer der 135 ortskirchen aufgenommen werden.
oder wie das baseball-team unsportlich rumhängt, statt siege zu erringen.
oder wie polizei einen irak-helden verhaftet, weil er an eine hausecke gepinkelt hatte.
oder wie sich die starke schwarze minderheit in new bern stolz zeigt, dass sie sich trotz schlechter lebensbedingungen stärker vermehrt als die weisse mehrheit.
oder, oder, oder.


das plakat zur kritisierten fotoausstellung “our town”, die bestaunt, aber nicht hinterfragt werden darf, – fotografiert auf öffentlichem grund und boden (foto: stadtwanderer, anclickbar)

das fotografierte gefällt den fotografierten nicht …

nach der ersten ausstellung in new bern hagelte es denn auch proteste in der lokalen presse, weiss “das magazin” für ihre story aufmerksam erheischend zu berichten.

die bilder seien rassistisch …
sie würden einseitig die dunkeln seiten der stadt zeigen …
sie seien wenig schmeichelhaft …
und sie würden keinen goodwill für new bern in der welt schaffen …

habe man dem eindringling aus der alten welt entgegengehalten.

michael von graffenried wiederum bekümmerte das nicht. den bürgermeister der stadt, an verbindungen mit old bern interessiert, liess er verteidigend ausrichten: “man kann einem künstler nicht vorschreiben, was er darstellen soll.”

… und das fotografieren des fotografierten gefällt dem fotografen nicht

aber man kann dem stadtwanderer vorschreiben, wie er darüber zu berichten hat!

als ich nämlich, wie bei einem veranstaltungsbesuch üblich, meine fotokamera zückte, um meine impressionen festzuhalten, wurde ich gleich zurecht gewiesen:

“das fotografieren ist verboten”, sagte die dame an der kasse.

“wie bitte?”, gab ich erstaunt zurück. und:

“soll das fotografieren ausgerechnet in einer fotografie-ausstellung verboten sein?”

“ja, das sei vorschrift”, wurde ich zurechtgewiesen.

nur den berner bär und new berner bärin im wappen der beiden städte liess man mich ungehindert ablichten.

als ich mich von dieser höchst unerfreulichen überraschung erholt hatte und nochmals das gespräch mit der dame suchte, wurde man noch deutlicher: die werke seien privat. sie seien im eigentum des künstlers. und dieses eigentum sei geschützt.

die freiheit des künstlers und ihr gründlicher schutz

ich fragte mich: was eigentlich wird hier geschützt?

– das leben von menschen, die so sind, wie sie sein wollen, und nicht so, wie sie sein sollen?

– die freiheit des fotografen, der sich berufen fühlt, eben dieses leben so zu zeigen, wie es ist, und nicht so, wie man es sich wünscht?

– oder die diskussion dieses spannungsfeldes, das argumente des exil-berns in paris wie auch der nachfahren der exil-berner in new bern unvoreingenommen abwägen will?

nach kurzer überlegung ist mir klar: michael von graffenried is the winner.

die verlierer sind die ungefragten fotografierten. und würde das wiederum fotografiert, könnte auch er ein verlieren werden.

das jedoch ist nicht gefragt: kunst ist kunst. diskussion brauchte sie hierzu nicht wirklich. staunen genügt.

so verlasse ich ohne eigentliche eindrücke von der ausstellung das öffentlich kornhausforum und sage mir: “bern verärgert new bern verärgert bern.”

stadtwanderer

den täuschenden bildgebrauch entlarven

nur wenige tage nach dem anschlag vom 11. september 2001 tauchte im internet das “letzte Touristenfoto vom Dach des World Trade Centers” auf. peter guzli aus budapest stand dabei hoch über der stadt, – und von hinten näherte sich das berühmte flugzeug, das bald darauf den tower 1 rammen wird. eine digitale zeitangabe auf dem bild unten rechts bürgte für authentizität.

oder auch nicht!

denn das originalbild entstand vier jahre vorher auf einer ferienreise guzlis. selbstredend hatte es damals kein flugzeug im anflug auf das wtc. dieses wurde erst nachträglich hinein montiert. es ist, genauso wie die zeitangabe, eine fälschung.


mehr oder weniger offensichtlicher fake: peter guzli auf dem dach des wtc 1999 und 2001 in manipulierter form

eigentlich war es auch nur ein privater joke. doch in september-tagen des jahres 2001 wurde ein solcher, auf internet publiziert, zur globalen berühmtheit. obwohl das, oder besser noch: gerade weil es lügt.

das ist kein einzelfall. computerprogrogramme wie photoshop machen das bearbeiten von bildern zum alltagsgeschehen eines jeden mehr oder minder ambitionierten hobby-fotografen. meist geht es nur ums scharfstellen oder aufhellen imperfekter bilder. das ist denn auch harmlos. die grenzen zur bewussten manipulation ist aber fliessend geworden, seit die gleichen oder vergleichbaren programme auch dafür benutzt werden.

die ausstellung “bilder, die lügen”

die ausstellung “bilder, die lügen” im berner museum für kommunikation nimmt sich genau dieser unsicher gewordenen grenzziehung zwischen wahrheit und lüge an. sie erinnert gleich am eingang, dass in der heutigen zeit die wahrheit nur noch einen mausclick neben der fälschung liegt.

gezeigt werden im “lügen abc” vorwiegend fotografien aus dem 20. jahrhundert, aber auch einige videos aus dem 21. das material der 300 ausgestellten fälle reicht von “a” wie “aktuell” bis “z” wie “zukunft”. zur sprache comics, satire, werbung und die yellow press, weil sie für bildmanipulationen am anfälligsten sind. gezeigt wird aber auch der visuelle beitrag zur entstehung des führermythos vor dem zweiten weltkrieg, der entnazifizierung nach 1945 und der legendenbildung seither. doch ist das thema nicht auf den nationalsozialismus beschränkt. so werden auch berühmte fälschungen wie die ufologie werden unter dem aspekt des bildes, das etwas beweist, was nicht ist, behandelt.


schandfleck der amerikanischen aussenpolitik: breifing des un-sicherheitsrates zu den massenvernichtungswaffen im irak, das als legitimation für den krieg diente

konzipiert und kommentiert worden ist die ausstellung von hisgtorikern der stiftung “haus der geschichte der bundesrepublik deutschland”. das merkt man der bildauswahl auch an. deshalb greift man gerne nebst dem ausstellungsführer zum magazin “objektiv”. denn da geht es dann mehr um die gegenwart: colin powells “rede” und “zeige” vor dem un-sicherheitsrat, welche den irak-krieg mit beweisen zu massenvernichtungswaffen im irak legitimierte, eröffnet den reigen. zwischenzeitlich wissen wir es: bewiesen war nicht, vielmehr hatte der geheimdienst manipuliert, und powell bezeichnete seinen auftritt vor den völkern der erde im nachhinein als schandfleck in seiner amtszeit.

gezeigt wird im “objektiv” aber auch, wie das belgische fernsehen türkte, indem es mit einer reportage im nachrichtenstil das ende belgiens durch den austritt flanderns verkündete. erst nach rasch anschwellenden, empörten reklamationen deklarierte man den beitrag als fiktion, welche das tief zerstrittene land aufrütteln sollte. das ganze wirkt wie eine etwas gekünstelte rechtfertigung nach einem jux mit einer öffentlich vorgetragenen lüge, den sich die staatlichen medien leisteten.


plumpe täuschung durch den sgb: monitierter bundesratskopf mit behindertenkörper, ohne zustimmung bei beiden beteiligten entstanden

die aufgelisteten fälle in der grossen wanderausstellung machen aber auch vor der schweiz nicht halt: die fotomontage des schweizerischen gewerkschaftsbundes mit bundesräten als invalide wird genauso kritisiert wie das wahlkampf-video der svp, das zwischen himmel und hölle unterschied, je nachdem, ob die svp oder rotgrün die parlamentswahlen 2007 gewinnen werde. das ein gilt als plumpe eingriff ins bild und das rechts dazu, das andere als übertreibung im schwarz-weiss stil, ganz in den farbe der nationalkonservativen rechten vorgetragen.


raffinierte täuschung durch die svp: gestellte gewaltszene im wahlvideo, die unter anderen vorzeichen entstanden ist

die menge der kritisierten beispiele aus 100 jahren, die man auf engem raum im museum für kommunikation in einem rundgang von vielleicht einer stunde dargeboten bekommt, ist für den besucher und die besucherin beinahe erdrückend. totalitäre verständnisse von öffentlichkeit reihen sich nahtlos an spektakuläre medienskandale der gegenwart. manipulationstechniken in kinderbücher stehen just nebst jenen der werbung, die auch die erwachsenenwelt lenken sollen. alles mit einem ziel: das denkende subjekt auszuschalten.

eine kritik des verständnisses hinter der ausstellung

es macht aber sinn, beim thema bild nicht einfach manipulation mit nach hause zu nehmen. dafür kann man an der bar einen caffee trinken gehen, und das gehörte, gesehene und gelesene nochmals revue passieren lassen.

der raum und die zeit öffnen einem dabei den blick für ungereimtheiten in der ausstellung. zum beispiel in den die übersetzungen: auf deutsch steht da plakativ: “werbung lügt”; im französischen heisst es dann “la publicité trompe.”

das ist der feine unterschied, der mir wichtig ist. ich ziehe die französische der deutschen fassung klar vor.

natürlich gibt es die offensichtliche fälschung am bild. man erinnere sich an den wasserstreifen vor dem tempel in luxor, der von einem schweizer boulevardmedium rot eingefärbt wurde, um als angebliche blutlache nach dem terroranschlag zu erscheinen. und es kommen einem unweigerlich die bilder von djamile rowe, die als thomas borer geliebte, angeblich nächte- und tagelang in der schweizer botschaft in berlin sex mit dem gesandten aus der schweiz gehaben soll.

doch ist das nicht die ganze enttäuschung, die wir lernen müssen, wenn wir bilder betrachten. das wichtigste ist, sich vom bild als abbild zu verabschieden.


der berühmte sturz der saddam statue in bagdad, milionenfach als spontaner akt der befreiten bevölkerung verfilmt, wurde von amerikanischen soldaten vorbereitet. die us-flagge wurde erst entfernt, als die menge sich gegen die befreier zu wenden drohte.

die eine ent-täuschung, an der wir arbeiten müssen, besteht aus der bildproduktion. diese bietet bilder auf nachfrage an. und diese nachfrage besteht aus thesen, was publikationen aussagen sollen. bilder abeer verstärken thesen genauso, ob sie stimmen wie wenn sie nicht stimmen. das wissen zwischenzeitlich feldherren, staatsmänner, chefredaktoren, imagegestalter, historiker und kampagnenleiter im in- und ausland.


der wunsch des publikums nach helden wird durch inszenierungen im wahlkampf gang bewusst erfüllt (quelle: reuters)

die andere ent-täuschung ist bei der bildrezeption angesagt. wir alle sind nicht unvoreingenommene bildbetrachterInnen. wir registrieren und lesen sie als subjekte, die dazu neigen, reflexartig auf das reagieren, was das auge sehen will, spontan das wahrnehmen, was unsere gemütslage für bedürfnisse erzeugt, und bewusst nach dem suchen, was in unsere alltagsdeutungen von weltpolitik, kulturkonflikt und gesellschaftsklatsch passt.

beides macht das bild und seine verwendung in der massenkommunikation für täuschungen anfällig. wir lullen uns mit vorgefertigten bildern so weit in vorgeformten und selbstgemachten larven ein, das es ein vornehme aufgabe einer ausstellung in einem museum für kommunikation wäre, das nicht nur in seinen plakativen auswüchsen, sondern auch in seinen feinheiten ausdrücklich zu ent-larven.

stadtwanderer

Das „Lügen-ABC“ der Ausstellung

A wie Aktuelles
B wie Born, Michael
C wie Comic
D wie „Damnatio memoriae“
E wie „Entnazifizierung“
F wie Führermythos
G wie Golfkrieg
H wie Hitler-Tagebücher
I wie Ikone
J wie Jugendfrei
K wie Kalter Krieg
L wie Legendenbildung
M wie Morphing
N wie Nazikult und Nazierbe
O wie Optische Täuschung
P wie Paragraph
Q wie Querschläger
R wie Rufmord
S wie Satire
T wie Text und Bild
U wie Ufologie
V wie Volksaufstand
W wie Werbung
X wie Xenophobie
Y wie Yellow press
Z wie Zukunft

mehr zur wanderausstellung in bern

berner eindrücke 2007

das sind sie, meine bewegendsten eindrücke des jahres 2007, die ich in bern fotografisch festgehalten habe:


1. mein erster arbeitstag, 2. berner fasnacht, 3. austellung “lebendig”


4. rassismus abschaffen, 5. eu-botschaft, 6. überschwemmung, 7. neues bundeshaus vom 12. dezember 2007


8. krawalle am svp-umzug, 9. stadtpräsident, 10. gut gelaunte cvp


11. museumsnacht, 12. warten auf euro 08, 13. million für die katze, 14. clien d’oeil auf die politik


15. berner medienvielfalt, 16. ganz schlauer fuchs, 17. radiowerbung


18. sog.hauptstadtfrage, 19. stairways to heaven, 20. der halbierte hügli, 21. rot-grüne planspiele


22. grosses bahnhofsfest, 23. streik gegen die stadt, 24. erster teil des baldachins


25. hop fdp, 26. schülerInnen-parlament, 27. wahlherbst, 28. sp-scherben


29. barfüsser, 30. drei eidgenossen, 31. stadtwanderung im bundesratszimmer

alle bilder anclickbar und selbstverständlich vom

stadtwanderer

mehr dazu in meinem flickr-album

das www des kommunikationsministers

das freut den stadtwanderer: denn der bloggende kommunikationsminister der schweiz schreibt ihm sein “www”:

“wacker weiter wandern,
wünscht moritz 2007 / 2008”.


die guten neujahrswünsche von bundesrat moritz leuenberger, bloggerkollege, an den stadtwanderer (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

ich kann mich dem nur anschliessen: auch ich wünsche dir, werter moritz, dass du das nächste jahr behende bleibend bloggst und deine alten und neuen kollegInnen in der schweizer regierung bald für die blogosphäre gewinnst.

und sollte der neue oppositionssturm aus herrliberg im kommenden jahr sand ins getriebe der regierung winden, bis dass es kracht, lade ich dich auf eine meiner reellen stadtwanderungen in ein. ich verspreche dir, sie beruhigen und öffnen einen die augen für das nur wenig bekannte bundesbern!

stadtwanderer

ps:
sollten noch weitere gratulanten moritz leuenberger folgen, kann man sich liebend gerne unter den comments eintragen. selber werde ich in den nächsten tagen irgendwo wandernd unterwegs sein und nicht jeden tag zugang zum www haben. es sind also auch tage der (funk)stille meinerseits angesagt.

wie mir in albanien klar wurde, weshalb die schweiz ein konkordanzsystem hat

zwischen 1993 und 1995 war ich fünf mal in albanien: am häufigsten in tirana, der hauptstadt, aber auch in shkodra, dem zentrum des nordens, in gjirokastra, dem pendant des südens, sowie in durres und vlora, den hafenstädten an der adria.


typische erinnerung an albanien in der ersten hälfte der 90er jahre: nichts klappte mehr nach dem übergang von der diktatur zur demokratie

politische entwicklungshilfe

in den harten zeiten des umbruchs von der kommunistischen diktatur zur demokratie nach europäischem vorbild wäre es kaum jemanden in den sinn gekommen, ferienhalber nach albanien zu reisen. zu kaputt war die wirtschaft, zu hart war die gesellschaftliche polarisierung und zu unversönlichen die politischen gegensätzen zwischen den anhängern des alten und des neuen systems.

auch ich war nicht ferienhalber in albanien. ich war im auftrag des eda in der jungen demokratie, – aufbauhilfe war das stichwort. und ich war in dieser mission nicht allein: marie-angela wallimann, die scheidende generalsekretärin der bundesversammlung, war dabei, genauso wie marco albisetti, der frühere berner gemeinderat, und michael bader, der berner anwalt und präsident einer stiftung für osteuropa-hilfe. wir alle waren mit der absicht in albanien unterwegs, einen kleinen beitrag zum aufbau demokratischer strukturen zu leisten.

der aufenthalt war für uns alle eine grosse herausforderung. denn albanien kannte vor allem unterdrückung. die sicherte zwar stabilität, aber kein demokratisches gedankengut. ersteres war angesichts der ethnischen minderheiten und der menschen mit verschiedener herkunft im norden und im süden des landes durchaus von vorteil. denn mit dem wegfall der diktatur kamen fragen der möglichkeit von koexistenz unterschiedlicher kulturen im gesellschaftlichen und politischen sinne wieder virulent auf. und sie wurden politisch ausgenutzt: der norden galt als hochburg der rechten, der süden als bastion des südens. diese kombination war nicht nur ideologischer sprengsatz, sondern auch sozialer und räumlicher.

mein kristallisationserlebnis zur konkordanz

in den vielen gesprächen, die ich in albanien führen konnte, habe ich eines gelernt: was der vorteil der konkordanz ist. ich habe mich in meinen vorträgen, unter anderem vor parlamentskommissionen, aber auch für das albanische fernsehen, immer wieder für diesen gedanken eingesetzt, denn er erschien mir nicht nur eine antwort auf die probleme mit der politischen polarisierung zu sein, sondern auch eine notwenigkeit angesichts der gesellschaftlichen voraussetzungen.

im nu haben ich im arg zerstrittenen, wirtschaftlich darnieder liegenden albanien begriffen, was ich jahre zuvor in den seminaren zur politikwissenschaftlich gelernt hatte: denn seit der niederländische politologe arend lijphart 1968 die moderne konkordanztheorie begründet hatte, gilt eine seiner annahmen ziemlich unverrückt: konkordanz sichert gerade in heterogenen gesellschaften politische stabilität. die theorie postulliert, es sei möglich, destabilisierende effekte in einer von subkulturen geteilten gesellschaft ausgleichen zu können. das wichtigste ist dabei, auf konfliktlösungsmuster zu verzichten, die sich nach dem angelsächsischen vorbild an der mehrheitsregel ausrichten. denn diese, so viele vorteile sie für die demokratie hat, wird zum problem, wenn sich die mehrheit gesellschaftlich aus den immer gleichen kulturellen gruppen produziert.

albanien und die schweiz im rückspiegel

ich weiss nicht, ob die vermittlung dieses gedankens in albanien wirklich früchte getragen hat. die politische polarisierung nach den ersten jahren der unterdrückung mit einigen schweizern polithelfern moderieren zu wollen, war sicher eine grosse hoffnung. in der kurzen zeit, in der wir präsent sein durften, entwickelte sich albanien auf keinen fall in diese genannte richtung.

wahlen galten den albanischen eliten hüben und drüben als demokratisches ritual, das man manipulativ durchbrechen durfte: die rechte, mit amerikanischem kapital ausgestaltet, holte sich konservative berater ins land, die das einfach volk verführten, und die linke, die sich immer noch auf teile des kommunistischen machtapparates stützen konnte, mobilisierte ihre erfahrungen in der herrschaftsausübung auf diese art und weise.

vielleicht haben wir aber einen gedanken vermittelt: kulturelle segmentierte gesellschaften können sowohl diktatorisch wie demokratisch koexistieren. wenn sie es demokratisch tun wollen, ist aber nicht der wettbewerbsgedanke, sondern jener der konkordanz empfehlenswert.

warum mir ausgerechnet heute das wieder in den sinn kommt? meine erlebnisse in albanien haben mir meinen blick auf die schweiz geschärft. mir wurde damals klar, was für einen weg die schweiz beschritten hatte, als sie, vor allem nach dem generalstreik von 1918, den klassenkampf und den mit ihm verbundenen politischen konflikt entschärfte und damit schritte zur konkordanzdemokratie entwickelte. das ging in der schweiz auch nicht ein oder zwei jahre. es brauchte ein ganze generation, welche diese lernschritte machen musste, bis sie getragen wurden. institutionell musste man begreifen, die politische vertretung aller sozialer segmente durchzusetzen, denn nur das sichert verhandlungs- anstatt machtlösungen.

konstante und variable voraussetzungen der konkordanz in der schweiz

lijphart favorisierte solche verhandlungsmuster nicht generell, aber unter vier bedingungen. drei wären wie in der schweiz auch in albanien erfüllt gewesen: das kleine land mit der geringen bevölkerungszahl, die starke geografische resp. damit verbundene kulturelle aufteilung der regionen, der sprachen und der konfessionen und das gefühl der äusseren bedrohung.

das gleichgewicht der kräfte, das lijphart als viertes kriterium erwähnt, ist in albanien bis heute nicht erfüllt. demokraten und sozialisten können sich nebst ihrer hausmacht nicht dauerhaft auf politische stabile wählergruppen stützen. mal siegt die eine seite klar, mal die andere.

ein gleichgewicht der kräfte gab es nach 1919 auch in der schweiz nicht. die konkordanz entstand, weil die bürgerlichen mehrheitsregierung an den inneren widersprüchen zerfiel. mit der herausbildung des vierparteiensystems in der zweiten hälfte der 30er jahre ergab sich in der schweiz diese voraussetzung für konkordanz.

wenn die konkordanz heute angesichts veränderten parteistärken für klinisch tot erklärt wird, sollte man eines nicht vergessen: die gesellschaftlichen voraussetzung der konkordanz in der schweiz sind auch nach den wahlen vom 12. dezember 2007 die gleichen geblieben: die kleinheit der verhältnisse, die räumlich bestimmten sprach- und konfessionskulturen, der gegensatz von stadt-und-land bzw. von berg-und-tal sind noch genau die gleichen. und sie lassen es, wie die lehre von lijphart nahelegt, weiterhin ratsam erscheinen, unverändert nach dem schweizer und nicht nach dem albanischen muster konfliktregelungen zu suchen.

stadtwanderer

mehr zur konkordanztheorie für gespaltene gesellschaften:
jürg steiner über arend lijphart

wie die zauberformel entstand

darin sind sich die politologInnen der schweiz einig: ein konkordanzsystem ist das gegenteil eines konkurrenzsystems. letzteres stellt der regelfall dar: parlamentarische demokratien sind auf mehrheitsbildung ausgerichtet, wobei sich regierung und opposition gegenüber stehen. die regierung vertritt die minimal nötige koalition, die aus wahlen hervorgeht. sie entscheiden, wer die mehrheit alleine oder in verbindung mit anderen bekommt und wer sie bis zu den nächsten wahlen auch ausüben darf.

weniger einig sind sich die politologInnen hierzulande in der frage, ob die erweiterung einer parlamentarischen demokratie durch direktdemokratische institutionen mit einem konkurrenzsystem in verbindung gebracht werden kann oder zwangsläufig in ein konkordanzsystem mündet. hauptgrund: die vielzahl der thematischen konfliktlinien, die sich bei regelmässigen volksabstimmungen ergeben, kann mit einer 51 prozent koalition nicht erfolgreich bewältigt werden. das führt letztlich dazu, dass reine mehrheitsregierungen nicht unmöglich sind, sich aber auf die dauern nicht halten können.


vereidigung des ersten bundesrates, der 1959 nach der zauberformel gewählt worden war, am 17.dezember

die geschichte des schweizerischen bundesstaates zwischen 1874 und 1959 ist ein beredetes beispiel für den umbau einer parlamentarischen demokratie auf der basis des konkurrenzsystems zur direkten demokratie mit dem konkordanzsystem.

das konkurrenzsystem von 1919

1848 folgte man in der schweiz institutionell dem französischen und amerikanischen vorbild. der bundesrat wurde durch einen bundespräsidenten geführt, der gleichzeitig die schweiz nach aussen vertrat. er war aber kein richtiger präsident, sondern nur einer auf zeit, der primus inter pares in einer regierung war. diese wiederum hing von der mehrheit im parlament ab, das aus zwei kammern bestand: der volks- und der kantonsvertretung. beide wurde nach dem majorzverfahren gewählt, was die zahl der relevanten parteien verringerte. faktisch kannte man eine konfliktlinie: die sonderbundessieger aus dem liberal-radikalen lager gegen die verlierer aus dem katholisch-konservativen.

von einem reinen konkurrenzsystem kann man in dieser zeit noch nicht sprechen. bis 1919 regierte auf dieser basis der freisinn aufgrund der parlamentszusammensetzung weitgehend hegemonial. demokratisierungsbestrebungen dieser elitendemokratie von 1848 führten 1874 zur einführung des gesetzesreferendum und 1891 zur volksinitiative für parzielle verfassungsänderungen. die vorherrschaft des freisinns blieb jedoch, wen auch eingeschränkt. 1891 bereinigte man den konflikt mit den anfänglichen gegnern des bundesstaates. die kathololisch konservativen wurden unter aufgabe ihrer opposition schrittweise integriert. weitere zugeständnisse, vor allem an die politisch und gewerkschaftlich aufstrebende arbeiterschaft machte man indessen nicht. so tarierte der freisinn die macht aus, die es ihm erlaubt, stets in der regierung zu sein.

1918 wurde daus ausbalancierte, bürgerlich geprägte politische system durch den generalstreik erschüttert. nur ein jahr später wurde der nationalrat erstmals auf der basis des proporzwahlrechtes gewählt. die auswirkungen waren beträchtlich. der freisinn des 19. jahrhunderts verschwand. verschiedene parteien machten sich jetzt breit, so die fdp, so die lp, so die bgb und so die sp. ihnen stand, in den katholischen landesteilen die KK gegenüber, die nur beschränkt parteispaltungen kannte.

die landesregierung setzte sich hinfort aus fdp, kk und bgb zusammen, vorübergehend auch aus einem vertreter der lp. mit der bgb zusammen behielt die fdp die mehrheit im bundesrat. zusammengehalten wurde die sehr ungleichen koalitionspartner durch den antikommunismus. aussenpolitische war die sowjetunion der feind, innenpolitisch die linke.

eine wirkliche koalition war das jedoch nicht. vor allem die wirtschaftsinteressen zwischen den aussen- und binnenorientierten ökonomie erschwerten eine einheitliche, kohärente politik. den minderheiten kam eine hohe taktische bedeutung zu, die sie mit referendumsdrohungen ausnutzten. volksabstimmungen wurden zur regelmässigen nagelprobe für die bürgerliche regierung. unheilige allianzen wurden möglich. die leistungsfähigkeit des systems stockte. genau diese situation war es, welche die grenze der beiden institutionen, parlamentarische und direkte demokratie, aufzeigte.

das konkordanzsystem von 1959

in den 30er jahren des 20. jahrhunderts setzte ein fundamentaler umbau des regierungssystems der schweiz ein. die aussenpolitische bedrohung, namentlich der aufstieg des nationalsozialismus nach 1933 beförderte ihn. innenpolitisch reduzierte die linke ihre opposition. 1935 anerkannte sie grundsätzlich die militärische landesverteidigung. 1937 kam es im wirtschaftsbereich zur sozialpartnerschaft in der lebenswichtigen metallindustrie, mit welche der klassenkampf von 1918 überwunden wurde.

die linke strebte in dieser situation eine mitte-links-regierung an, die ihre sozialpolitischen forderungen unterstützen sollte. durchsetzen konnte sie das aber nicht. 1938 kam es bei der bundesfinanzreform zum grossen kompromiss: die rechte konnte die aufrüstung finanzieren, die linke erhielt die ahv. und die parteien gingen zu einem system der mässigung in ihrem konflikt untereinander über, um gemeinsam, konkordant! regieren zu können.

zur direkten regierungsbeteiligung der sp kam es jedoch nicht sofort. 1939 wurden die parlamentswahlen des krieges wegen ausgesetzt. erst 1943 wurde wieder gewählt. die siegreiche sp wurde darauf hin in den bundesrat aufgenommen. sie verblieb dort aber nur auf zusehen hin. 1953, nach einer gescheiterten volksabstimmung zerbrach das vier-parteien-bündnis, indem die sp in die selbstgewählte opposition ging. 1959 sollte sie allerdings gestärkt, und mit der unterstützung der kk, wieder dorthin zurückkehren. jetzt hatten fdp, kk und sp je 2, die bgb einen sitz. die kk war damit gestärkt worden: sie konnte rechte wirtschaftspolitik und linke sozialpolitik betreiben, und sie gab den ausschlag, was galt!

bilanz: neuer wahlmodus mit geburtsfehler

am 17. dezember 1959 (heute vor 48 jahren!) wurden vier neue bundesräte (jean bourgknecht (kk), willy spühler (sps), ludwig von moos (kk) und hans-peter tschudi (sps)) sowie drei bisherige paul chaudet und max petitpierre (beide fdp) und friedrich traugott wahlen (bgb) gewählt. geboren war damit die “zauberformel” für die regierungsbildung im bundesstaat. die grossen parteien sollten proportional zu ihrer stärke im bundesrat vertreten sein. dieser arbeitete in den kerngeschäften finanzen, wirtschaft, soziales und landesverteidigung lösungen auf der basis eines gemeinsamen willens aus und vertrat diesen nach aussen als kollegium. abstimmungssiege gehörten nicht einer partei, abstimmungsniederlagen führten aber auch nicht mehr zu rücktritten in der landesregierung. direkte demokratie und wechselnde mehrheiten im bundesrat vertrugen sich hinfort.

entstanden war so die konkordanz. parteienwettbewerb, direkte demokratie und regierungszusammensetzung waren nun wieder so in übereinstimmung, dass eine stabile regierungstätigkeit entstand. deshalb war die zusammensetzung der bundesrates das kernstück für das entstehen der konkordanz, nicht aber das einzige element des neuen systems.

gerade der modus für die zusammensetzung des bundesrates zeigte aber von beginn weg, dass die konkordanz für die teilnehmenden nicht nur vor- sondern auchnachteile haben konnte. denn das neue system entstand mit einem bleibenden geburtsfehler: die mehrheit des parlamentes, die zwei sozialdemokraten in die landesregierung wählte, verhinderte des einzug von walther bringolf, dem sp-präsidenten, in den bundesrat. er galt als zu wenig konsensfähig. und er wurde durch hanspeter tschudi verdrängt, der dann erfolgreich die ahv in der schweiz einführte.

was die konkordanz nach 1959 und sie in die krise geriet, schreibe ich im nächsten beitrag, von irgendwo auf der welt, in der ich momentan umherwandere …

stadtwanderer

filmwochenschau der bundesratswahlen vom 17. dezember 1959
die ereignisse des jahres 1959 (wenn auch ein wenig deutschland-lastig)

bestimmen sie 10 momente des politkulturellen wandels der schweiz!

ich wollte einen beitrag schreiben, quasi als zeitgeschichtliches dokument, für die kommenden historikerInnen, für die bewusstseinsarbeiterInnen, und für alle die sich mit der gegenwart respektive mit unserer politischen kultur beschäftigen. basismaterial sollten die reden sein, die ruth metzler-arnold und christoph blocher bei ihrer verabschiedung vor der bundesversammlung hielten.

doch dann kam der auswanderer aus der gascogne. in der blogosphäre gibt es keinen distanzschutz mehr. die kleinbauern wissen, dass das zunehmend auch ausserhalb der virtualität gilt!

und so war der auswanderer schneller als der stadtwanderer: “chapeau, mon cher!” ich erlaube mir dennoch, mit “seinem” material “meine” idee zu realisieren.

***

“bestimmen sie 10 unterschiede in den beiden nachstehenden bundesratsreden!
versuchen sie genau herauszufinden, was vor vier jahren war und was heute ist.
machen sie auf dieser basis aussagen zum wandel der politischen kultur in der schweiz der gegenwart!”

das wäre meine fragestellung gewesen. und das bleibt sie, vorerst für sie, liebe leserInnen des stadt- und/oder auswanderers.


Metzler-Arnold Ruth, Bundesrätin:

“Herr Nationalratspräsident, Herr Ständeratspräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren National- und Ständeräte, Sie haben im Sinne der Konkordanz entschieden, anstelle von zwei CVP-Vertretern zwei SVP-Vertreter in den Bundesrat zu wählen. Die CVP soll weiterhin mit Herrn Bundesrat Joseph Deiss vertreten sein. Ich akzeptiere diesen demokratischen Entscheid und stehe für weitere Wahlgänge nicht mehr zur Verfügung.

Vor fast fünf Jahren haben Sie mir die Chance gegeben, eine der höchsten Aufgaben in unserem Staat wahrzunehmen. Diese Aufgabe war faszinierend, und ich habe mich voller Elan und voller Freude dafür eingesetzt. Sie haben mir die Möglichkeit gegeben, bereits im jungen Alter wichtige und anspruchsvolle Herausforderungen in unserem Staat anzugehen. Dazu gehörte auch die Befriedigung, zahlreiche Volksabstimmungen zu gewinnen. Es schmerzt mich, dass dies nun nach fast fünf Jahren zu Ende geht; allzu gerne hätte ich meine Aufgabe weiter wahrgenommen, und ich wäre auch allzu gerne bereit gewesen, das Präsidialjahr zu erfüllen.

Sie haben heute anders entschieden. Nach wochenlangen öffentlichen Diskussionen und Konfrontationen wünsche ich, dass der Weg frei ist für eine konstruktive Zusammenarbeit in der Bundesversammlung und mit dem neuen Bundesrat. Der Geist der Konkordanz, der in den vergangenen Wochen arg strapaziert worden ist, soll neu aufleben und für die Lösung der schwierigen Fragen der Zukunft wegweisend sein.

Ich gehe ohne Verbitterung, mit einer reichen Erfahrung, die mich auch in Zukunft begleiten wird. Ich habe immer gewusst: Es gibt ein Leben nach dem Bundesrat. Dass es bereits jetzt beginnt, hätte ich mir nicht gewünscht.

Ich möchte noch danken, allen voran meinem Mann Lukas, meiner Familie und meinen Freunden, vor allem aber auch meinen politischen Wegbegleitern, die mich insbesondere in den letzten Wochen begleitet haben. Ich danke der Bundesversammlung, die mir ermöglicht hat, während fast fünf Jahren in dieser Funktion zu wirken.” (Stehende Ovation)


Blocher Christoph, Bundesrat:

“Vor vier Jahren wurde ich von diesem Parlament zum Bundesrat gewählt. Ich habe die damalige Wahl als Auftrag angenommen und mich mit ganzer Kraft und nach bestem Wissen und Gewissen in den Dienst für unser Land und unser Volk gestellt. Die Bilanz meines Schaffens lege ich nicht hier vor; ich werde es dann am 28. Dezember tun. Heute haben Sie mich wieder aus diesem Amt entfernt – durch eine Wahl und vor allem durch eine Nichtwahl, ohne eigentlich zu sagen, was der Hintergrund ist.

Für mich ist klar – und das ist das Schöne in diesem Land -: Das Parlament kann zwar Leute aus der Regierung entfernen, aber nicht aus der Politik und nicht aus dem politischen Schaffen im Lande. (Teilweiser Beifall)

Ich schwanke zwischen Erleichterung und Enttäuschung und Empörung; das werden Sie verstehen. Warum Empörung? Eigentlich weniger, weil Sie einen anderen Bundesrat gewählt haben, als darüber, wie Sie es getan haben. Erleichterung, weil ich von jetzt an – ich muss es zuerst noch etwas lernen – wieder sagen kann, was ich denke, und weil ich in Zukunft über Dinge reden kann, die mir eigentlich unter den an sich guten Titeln wie Kollegialität, Konkordanz usw. verboten wurden, auch wenn sie eigentlich nicht hätten verboten werden sollen. Das ist der Vorteil, dass jetzt über alles gesprochen werden kann. Der gestrige Tag hat mir die Notwendigkeit gezeigt, dass es so sein muss.

Was habe ich in den letzten Monaten nicht alles gehört – ich spreche hier vor allem die CVP an: Konkordanz – fast ein heiliger Tempel; Toleranz – die grösste Tugend; Kollegialität – bis zur Selbstverleugnung; Amtsgeheimnis – sehr oft, um viel Dreck und Dinge zuzudecken, die niemand sehen durfte. All das aufzudecken ist in der Opposition – “Opposition” kommt ja von “opponere”, “ponere” heisst “legen”, “ob” heisst “entgegen”, “opponere” bedeutet also “entgegenlegen” – jetzt möglich, sofern es nach dem gestrigen Tag noch nötig ist.

Leistungsausweis, Volkswillen, Volkswohl – das war auf keinen Fall das Motiv dieser Wahl, sondern es sollte etwas unterdrückt werden.

So scheide ich hier aus dieser Regierung aus, aber nicht aus der Politik. All die besorgten Briefe, die ich gestern und in dieser Nacht bekommen habe und in denen befürchtet wurde, ich verlasse jetzt die Politik und ziehe mich irgendwo an die Riviera zurück – da macht man die Rechnung mit dem Falschen! Ich werde mich voll und ganz in den Dienst der Politik stellen – ausserhalb der Regierung. (Teilweiser Beifall)

Was daraus wird, werden wir sehen. Vielleicht wird es ja dazu führen, dass die Regierung und, möchte ich sagen, vor allem auch das Parlament das Richtige tun, weil sie Angst haben, es würde sonst durch eine gute Opposition aufgedeckt. Das wäre ja das Allerbeste.

Sie begnügen sich heute mit einer Regierung aus drei Parteien und mit zwei Vertretern, die nicht mehr Mitglied einer Fraktion sind. Ich wünsche Ihnen dabei sehr viel Glück, und ich kann diejenigen, die Angst haben, ich scheide aus, beruhigen – ich scheide nicht aus -, aber meine Gegner auch entsprechend beunruhigen!” (Stehende Ovation der SVP-Fraktion)

***

warum ich das mache? auf eine wesentliche veränderung im verhalten von alt-bundesräten hat bisher niemand hingewiesen: bisher galt es als stille, aber verbindliche regel, das man sich nach dem rücktritt aus dem bundesrat nicht mehr zur politik äussert. die landesväter und -mütter durften bleiben, solange sie wollten. sie hatten ihr amt quasi auf lebzeiten bekommen. wer es früher aufgabe, hatte die vornehme pflicht die rolle nicht zu wechseln. das hat sich in jüngster zeit immer mehr geändert: vor allem bundesräte, die mit druck aus dem amt wichen, deren leistung nicht gewürdigt worden waren oder die mit sich resp. bei denen das parlament mit ihnen nicht im reinen waren, mochten nicht einfach schweigen.

auch ruth metzler-arnold schrieb nach ihrem ausscheiden in der landesregierung ein buch. als sie einmal das parlament in bern besuchte, stieg der puls bei verschiedenen politikerInnen merklich. doch das alles ist passé. christoph blocher denkt nicht im traum daran zu schweigen. er wird reden, und der puls wird steigen, gerade weil er nicht ins parlament kommen will!

stadtwanderer

bild- und wort-legenden zur wahlwoche

bundesrat blocher nannte in seiner medienkonferenz nach der abwahl sein büro als möglichen grund für die abwahl. er zitierte seinen weibel, wonach schon friedrich, kopp und metzler, die alle vom gleichen ort aus regierten, nicht lange im amt gewesen seien.

ist das nicht ein witz? –

ein spässchen, könnte man sagen, das sogar agenturen gerne kolportierten.


quelle: lupe

eine weitere wort-geschichte, wie es zur abwahl von bundesrat christoph blocher gekommen sei, präsentierte diese woche der blick. die crew im bundeshaus hatte recherchiert, und dabei zwei aktive geheim-zellen ausfindig gemacht: eine schwarze und eine rote. beiden zellen gemeinsam: sie kommen aus dem kanton freiburg – und wollten christoph blocher aus der regierung kippen. einen gemeinsamen weg beschritten sie aber erst in den letzten tagen, und hatten mit ihrem husarenritt, wie es der blick nennt, erfolg.

o-ton des boulevardblattes zum effektiven komplott:

“Zelle 1: Der Freiburger CVP-Fraktionschef Urs Schwaller, sekundiert vom Walliser Parteichef Christophe Darbellay. Ausgangslage: Nach den Wahlen vom 21. Oktober jubelte die SVP, der Rest der Schweizer Politik schien in Lethargie zu fallen. Ein Angriff auf Blocher sei definitiv erledigt, tönte es landauf landab. Noch in der gleichen Woche stemmte sich Schwaller gegen diesen Defätismus: “Ich kann niemanden wählen, der für Sippenhaft eintritt”, erklärte er im BLICK und im Westschweizer “l¹Hebdo”. So packte er seine CVPler bei ihrem christlichen Gewissen. Auch ein Bekenntnis zur Konkordanz und den EU-Verträgen forderte Schwaller ein. Bedingungen, die Blocher nicht erfüllen konnte.


quelle: unbekannt

Doch vorerst wurde es ruhig um den Schwaller-Plan. Interne Einzelgespräche begannen. Bis zum letzten Wochenende. Schwaller schloss öffentlich eine Kandidatur gegen Blocher nicht aus. Darbellay leistete in Interviews Sukkurs. Die beiden wussten bereits, dass mittlerweile die Mehrheit der Fraktion bei einer Abwahl Blochers mitmachen würde.

Zelle 2: Der designierte SP-Chef Christian Levrat und SP-Ständerat Alain Berset. Nachdem die SP im Wahlkampf verkündet hatte, Blocher nicht zu wählen, machten die Freiburger nun Nägel mit Köpfen. Seit Mitte November testen sie im Parlament verschiedene Namen. Nach und nach wurden weitere Verbündete eingebunden: Fraktionschefin Ursula Wyss, Noch-Präsident Hans-Jürg Fehr. Zuerst setzen sie auf Bruno Zuppiger, einen SVP-Mann auf Blocher-Linie. Dann wird über SVP-Chef Ueli Maurer diskutiert. Ergebnisse werden zwischen SP- und CVP-Zelle ausgetauscht.”


quelle: unbekannt

als verbindungsleute zwischen den beiden keimzellen figurierten, wiederum gemäss “blick”, zwei andere freiburger: sp-neo-nationalrat jean-françois teiert und die ehemalige nationalratspräsidentin, die cvp-frau thérèse meyer.

eveline widmer-schlumpf, die bündnerin, die schliesslich das rennen machte, sei erst gegen schluss ins spiel gebracht worden. als man sich geeinigt habe, habe der bünder andrea hämmerle die sondierungsgesprächge geführt und als resultat herausgeholt, die bündner regierungsrätin werde eine kandidatur nicht im vornherein ablehnen. in dieser phase seien nun auch die grünen involviert worden, mit dem ziel, einen rückzug ihrer bewerbung recordon zu erreichen. man sei sich da schnell einig gewesen.

bilanz “blick” zum putsch: “Noch in der Nacht auf Mittwoch wurde Überzeugungsarbeit geleistet. Am Schluss hatte die Freiburg-Connection 125 Stimmen zusammen, Blocher war abgewählt.”

nun wissen wir natürlich auch nicht, ob das stimmt oder nicht. sicher ist nichts, unsicher wohl auch nicht alles.

also noch ein witz? –


quelle: tagi

die zeit des umbruchs, die wir diese woche erlebten, war für viel ein witz: ein schlechter, ein lustiger, ein unerwarteter, ein noch absolut nie gehörter.

es überrascht denn auch nicht, dass es nicht nur tage der wort-, sondern auch der bild-legenden war. zahlreiche neue karikaturen, die vor drei tagen teilweise noch undenkbar gewesen wären, machten die runden. es ist die zeit des bitterbösen sarkasmus’, der realen satire, der feinen ironie.

eine kleine sammlung von eindrücken, die mich diese woche mehr oder weniger unaufgefordert in dieser hinsicht per e-mail erreicht haben, bebildern denn auch den bericht, der später einmal fast sicher teil der grossen legenden-bildung zum 12. 12. 2007 werden wird!

stadtwanderer

ps:
“operation hannibal”: wie christoph blocher bundesrat wurde.
meine demokratiegeschichte mit den ausführungen zur entstehung der zauberformel 1959 durch die cvp und die sp (punkt 11).

was eigentlich ist opposition im konkordanzsystem?

ohne zweifel, die schweiz mit ihrem politischen system der konkordanz, mit ihrer politischen kultur, die auf integration ausgerichtet ist, hat weder in der theorie noch in der praxis der opposition viel uebung.

natürlich, die schweiz weiss um ihre ausserparlamentarische oppositionen, die zyklisch zu politischen instabilitäten, revolutionären umstürzen und bürgerkriegsähnlichen auseinandersetzungen geführt haben. natürlich, sie weiss um ihre volksrechte, die initiative und das referendum, die als instrumente der sach- wie auch der systemopposition dienen können.

doch parlamentarische opposition war in den letzten 70 Jahren wirklich nicht mehr ihr ding!


das schweizerische parlament (hier der nationalrat) auf der suche nach seiner rolle als ordnungsmacht, kritikerin, mehrheitsbeschafferin und opposition gleichzeitig (foto: sf.tv.)

genau das merkt man der beginnenden diskussion über die opposition einer regierungspartei an: die svp verzichtet in ihrem gang in die opposition nicht als erstes auf das parlamentspräsidium. sie geht in opposition zum fernsehen. sie protestierte am mittwoch gegen die nichtwahl von christoph blocher mit der oppositionsdrohung, bewarb sich aber gleichzeitig für den posten der bundeskanzlerin. noch ist die partei nicht bereit auf aemter, die der opposition nicht zustehen, zu verzichten. dafür verlangt sie, dass sie, die alleinige opposition 50 prozent redezeit in sendungen bekommt, damit sie sich genauso wie die regierung äussern könne.

um es klar zu sagen: weder das verharren an der macht noch die erpressung des diskurses nach eigenen regeln ist opposition.

opposition und volksrechte

opposition ist zunächst das wesentliche gegenstück zur regierung. es ist der widerspruch der minderheit in sachfragen, indem sie auf übersehene schwächen vorgeschlagener oder realisierter lösungen von problemen aufmerksam macht. die kontrolle ist die sinnvollste form der opposition in der demokratie. auch in der schweizerischen.

opposition ist aber auch die freiheit, etwas kritisieren zu dürfen, weil man keine verantwortung in der regierung trägt. kritik schadet nicht, doch ist sie auch nicht grenzenlos. die opposition muss sich gerade deswegen auch gefallen lassen, von bereichen der einflussnahme auf die regierung ausgeschlossen zu sein oder zu werden.

opposition ist schliesslich die bändigung der politischen macht durch die möglichkeit, das die mächtigen selber durch die opposition abgelöst wird. sei es im oder ausserhalb des bestehnden verfassungsrahmens.

in der schweiz ist die parlamentarische mit der ausserparlamentarischen opposition verbunden. nicht in dem sinne, dass die apo eine ausserinstitutionelle form der politik wäre. aber so, dass die opposition im parlament die opposition im volk mobilisieren kann, um sich in sachfragen auch parlamentarischen minderheiten zum durchbruch zu verhelfen. das ist die klassische referendumstradition der schweiz. und es gibt die verbindung auch, um themenbereiche, die tabuisiert werden, wirksam aufs tapet bringen zu können. das ist die etwas jüngere initiativtradition in unserem lande.

deshalb brauchen thematische oppositionsgruppen auch nicht auf die nächsten wahlen zu warten, um dann vielleicht die mehrheit zu erringen und so an die macht zu kommen. sie können sich, vor allem über erfolgreiche referendumsabstimmungen selber ins machtzentrum einbringen.

das ist denn auch die unbestreitbare stärke der volksrechte in der schweizerischen demokratie. und genau deshalb gelten sie mitunter auch als instrumente der opposition: das referendum etwas mehr, weil es eine fehlentwicklung in einem politikbereich auf gesetzesebene wirksam stoppen kann; die initiative etwas weniger, weil sie eher geeignet ist, neue ideen aus einer gesellschaftsschicht längerfristig in den politischen diskurs, allenfalls auch in die politische entscheidung einzufügen.

doch kennt man die schwäche der volksrechte ebenso. ihr systematischer gebrauch kann zur blockade der politischen entscheidungsfähigkeit führen. es geht dann nicht mehr um die themenopposition, sondern darum, mit den volksrechten den stier bei den hörnern packen zu wollen. die gleichzeitige opposition im parlament, verbunden mit der, die sich der volksrechte bedient, kann deshalb das funktionieren der institutionen als basis geregelter willensbildung erschweren oder auch verhindern. das selber kann zu politischen oder gesellschaftlichen konflikten führen.

volksrechte und konkordanz

die politologie hat in den letzten 40 jahren den zusammenhang zwischen opposition und volksrechte aufgenommen. es geht nicht um die kontroll- und kritikfunktion. es geht um die blockierung der politischen willensbildung.

die opposition, die systematisch betrieben wird und schädlich sein kann, wird, so die lehre dadurch gemildert, vielleicht auch verhindert, dass die regierung auf einen teil der macht verzichtet. sie nimmt verweigerungsfähige, aber auch kooperationswillige minderheiten nicht erst dann auf, wenn sie eine mehrheit bei wahlen gewonnen haben. sie werden nicht nur dann berücksichtigt, wenn sie genau in ein koalitionsprogramm passen.

vielmehr haben solche minderheiten das recht, ihren anspruch zur beteiligung an der regierung anzumelden, wenn sie eine gewisse stärke bei wahlen erreicht haben, und vor allem, wenn sie effektiv mit dem referendum, vielleicht auch mit der initiative drohen können. lange galten zwei kriterien als entscheidend, um im bundesrat berücksichtigt zu werden: 10 prozent wähleranteil und bewiesen referendumsfähigkeit.

das ziel der beteiligung ist es, das obstruktionspotenial der oppositionen zu mässigen, indem ihr einfluss in der regierung gestärkt wird. verbunden wird diese form der partizipation von minderheiten aber auch mit der forderung, den gebrauch der volksrechte zu verringern.

es ist keine aufgabe der regierung, aber eine voraussetzung ihres funktionierens in einem konkordanten politischen system, dass sie selber dafür sorgt, dass nicht immer die gleiche verbindung von minderheiten die mehrheit bestimmen können. denn dann wird die konkordanz nur zum deckmantel einer versteckten mehrheitskoalition. konkordanz funktioniert dann am besten, wenn macht geteilt wird und sich mehrheiten aus verschiedenen minderheiten bilden können.

meine philosophie

die angenehme seite dieser berücksichtigung in der regierung ist die integration in die politische macht, auch wenn man nur eine minderheit ist. das ziel ist das aber nicht. das ziel ist es, respektable minderheiten zur beteiligung an einem verbund verschiedener politischer kräfte zu bewegen. das war seit jeher das verhalten der fdp, und es zeigte sich beschränkt auch 2003, als sie sich für die aufnahme der svp à la blocher in die regierung stark machte.

die vielleicht weniger angenehme seite der machtbeteiigung vor allem für oppositionelle aus fleisch und blut ist es, dass man die integration nur dann erreicht, wenn man sich auch einbinden will. sie ist dann sinnvoll, wenn man auf immer wiederkehrende machtfragen verzichtet. denn die beteiligung in der konkordanz ist die beteiligung an der sache. den griff nach der macht ist sie nicht. genau das war wiederum die schwäche der svp à la blocher. personell und institutionell verhielt sie sich nicht, wie man es von einer starken partei in der konkordanz erwartet.

die lehre aus dem politischen system der schweiz mit repräsentativen und direktdemokratischen elemente gleichzeitig ist: wer sich an der macht verhält wie in einem reinen regierungs/oppositionssystem, der scheitert an den wirksamen volksrechten. und wer sich in der regierung befindet, ohne seine oppositionshaltung zurückgedrängt zu haben, der scheitert in wahlen an parlamentarischen mehrheiten. das wiederum war die zielsetzung der allianz, die christoph blocher nun gestürzt hat.

stadtwanderer,

auf dem weg vom fernsehen (arena) vorbei am computer (bloggen) ins bett (gute nacht!)

12. dezember 2007: bern bundesplatz

pascal couchepin, der designierte bundespräsident, verliess das bundeshaus freudenstrahlend. er wandte sich an die menge auf dem bundesplatz, schwenkte den arm wie ein sieger nach einem boxkampf und sprach ein paar worte zu den leuten, die ganz vorne standen. es war sein moment. dann wandte er sich nach links ab, richtung bellevue, die schönen aussichten erwartend. die spitze seiner fraktion, die unmittelbar vorher aus dem bundeshaus getreten war, hatte sich mit unbekanntem ziel nach rechts verabschiedet gehabt.


bern bundesplatz nach der bundesratswahl: luc recordon, der grüne ständerat, der das abwahl-procedere von christoph blocher ins rollen gebracht hatte, fühlt sich bei den meisten manifestanten des heutigen tages wohl (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

die vielleicht 300 oder 400 menschen auf dem bundesplatz nahmen die richtungsfragen in der fdp gelassen hin. die meisten waren wohl blocher-kritisch und freuten sich ganz einfach. “das ist der schönste tag in meinem leben”, hörte man ebenso oft wie: “und es bewegt sich doch nich etwas”. ganz egal, was man zur politik von christoph blocher dachte; man hatte einfach genug von seinen auftritten als oppositionsführer in der ministerpräsidentenrolle, von der permanenten gratwanderung zwischen drinnen sein und ausreizen. der krug geht zum brunnen, bis er bricht!

“heute ist der mythos blocher entzaubert worden”, sagt mir eine ältere frau treffend. “der tausendsassa der schweizer politik” wurde aus der regierung abgewählt. “der grosse medienzampanu hat sich mit seiner alles-oder-nichts politik selber ins abseits manövriert”. das sind die kernsätze aus dem gespräch, die ich mir merken kann. doch dann wird die utnerhaltung jäh unterbrochen.

ein paar offensichtliche blocher-fans mischen sich ein: “sie werden noch auf die welt kommen, was jetzt passiert. wir sind stolz, schweizer und svp zu sein. und wir werden es euch linken allen zeigen.” die krawatte mit den weissen schafen und dem einen schwarzen habe schon einmal gesehen, am svp-umzug vom 6. oktober 2007. wer nicht zu uns gehört, wird ausgegrenzt, war seither das motto.

meine gesprächspartnerin widerspricht den drei mannen heftig, die gleich aufbrausen. “wir haben nicht auf ihre meinung gewartet. wir brauchen sie nicht, genauso wenig wie diese bündnerin, die jetzt svp-bundesrätin sein soll.”

die stimmung auf dem bundesplatz ist angeheizt, bis über sms und radio die meldung durchsickert, dass sich eveline widmer-schlumpf in bern bedenkzeit ausbedungen und von der svp-fraktion auch erhalten habe. anders, als man es am morgen aus svp-sekretariatskreisen hörte, hat sie nicht einfach verzichtet. aber auch anders als es sich die wählenden im nationalratssaal erhoffte hatten, hat sie nicht einfach zugesagt. wie es weiter geht, weiss auf dem bundesplatz niemand.

auf dem weg ins büro werde ich so häufig wie nie angesprochen. es besteht ein bedürfnis, sich zu dem, was heute mittag um 10 uhr 40 geschehen ist, mitzueteilen. doch die reaktionen, die ich heute aus der bevölkerung erhalte, sind geteilt. der blumenhändler bedauert die abwahl und ist sicher, “die juristen” hätten das gemacht, welche den bauernsohn blocher nie ertragen hätten. ein älterer herr wiederum stellt sich mir vor. er sei politologe aus genf, aus den 60er jahren. er sei heute morgen im emmental gewesen und habe nur bruchstücke mitbekommen, was geschehen sei. doch jetzt sei er hier in bern. und er könne es noch fast nicht fassen. alles käme so überraschend!

am abend sehe ich nochmals vor dem bundeshaus den weihnachtsbaum an. ich mache ein paar bilder. es huscht eine gruppe, die eben das bundeshaus verlassen hat, an mir vorbei. ich erkenne ueli maurer und caspar baader. “was machen sie jetzt?”, frage ich. “was wir immer gesagt haben. wir gehen in die opposition!”, tönt es, wie wenn es nur aus einem mund käme.


bern bundesplatz nach der svp-fraktionssitzung: partei und fraktionsspitze verlassen das bundeshaus eilenden schrittes in richtung opposition (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

ich lass es noch offen, ob es für die schweiz die grosse beschereung war oder das grosse weihnachtsgeschenk für alle, die ein anderen land wollen.

stadtwanderer

gratulation, corina casanova!

tarasp war herrlich. anfangs september ’07 war ich da. ich berichtete. mit meinem geheimplan-beitrag. ich sagte niemandem, wo ich war, stellte aber ein rätsel. das haben dann die knobelfreunde unter meinen leserInnen auch prompt herausgefunden.

doch haben sie nicht herausgefunden, beim wem ich war.


schloss tarasp, an dessen fuss die geschwister casanova aufgewachsen sind, und wo die neue bundeskanzlerin am wochenende lebt

es waren die geschwister casanova. der bruder, christian, organisierte einen ärztekongress, wo ich die einleitung über geschichte und gegenwart des bünderlandes sprach und über die rolle der bündnerInnen in der politik. das ganze endete in einem appell an konkordanz. an zusammenarbeit. und an mässigung.

im saal war auch die schwester. corina. und das ist typisch für sie. sie kam von bern. sie hörte aufmerksam zu. sie sass in der hintersten reihe. vom redner verlangte sie, dass man nicht auf sie aufmerksam mache. und schon gar nicht von den absichten, bundeskanzlerin zu werden. sie war der inbegriff der mässigung und der zusammenarbeit.

merci, den geschwistern casanova für die wudnerbare geheim-einladung nach tarasp. merci auch corina, der neuen, viersprachigen bundeskanzlerin, die mich als dank in ihre wahlheimat eingeladen hatte. denn sie war der erste promi, der mit mir stadtwanderer kam, als sie zur vizebundeskanzlerin gewählt worden war!

wünsche gutes gelingen der anspruchsvollen arbeit, frau bundeskanzlerin!

stadtwanderer

mehr zum thema:
christoph blocher und die politische kultur
kein 1. april scherz

glokal

nein, das ist kein tippfehler. ich schreibe bewusst: “glokal”. und ich meine damit: “sowohl global als auch lokal”.

wenn ich den sitemeter zum stadtwanderer konsultiere, fallen mir regelmässig zwei sachen auf: ich habe sowohl im engeren raum viel publikum, als auch im weiten.

pully, bern, aarau, luzern, bülach, carouge. das kenne ich persönlich. und das ist das schweizerische umfeld meiner leserInnen. die machen etwas die hälfte aus.

doch die andere hälfte stammt aus zittau, lengerich, berlin, münchen, wien, brüssel, ludwigshafen, lyon und moskau. da weiss ich zum teil nicht einmal, wo das liegt. aber es ist der weitere teil meines publikums, das sich für den stadtwanderer interessiert.


so sieht die erste seite der übersicht auf dem sitemeter zur frage “who ist on?” aus. man kann so sehen, von wo was angesehen wird. und so das glokale am stadtwanderer erkennen (grafik anclickbar, links gehen aber nicht!)

man kann es auch so sagen: die einen kommen aus dem lokalen, die anderen als dem globalen raum. zusammen ist die kundschaft glokal.

auf dem stadtwanderer treffen sich mehrere welten. nicht nur politische oder soziale. auch kulturelle und eben räumliche.

restriktionen ergeben sich heute noch vor allem wegen der sprache. ich schreibe meist deutsch. und wer hier etwas lesen will, muss das beherrschen. wenn ich selber einen beitrag verfasse und das lokale idiom einfliessen lasse, dann übersetze ich es höflich in die standardsprache deutsch. nur bei der kleinschreibung bin ich hart!

den zugang zum berner stadtwanderer, zum burgunder historiker, zum politisch interessierten zeitgenossen, zum journalistischen porträtschreiber und zum buchkritiker longchamp wird heute darüber vor allem durch die kommunikationstechnologie kontrolliert.

den begriff “glokalisierung” selber kannte ich schon länger. er kam parallel zu “globalisierung”, ohne je so populär zu werden. er gehört aber seit mehr als 10 jahren zu den wortneuschöpfungen der sozialwissenschaften.

ernsthaft wieder begegnet bin ich ihm an diesem wochenende, als ich
jan schmids buch “weblogs” las. da steht: “Es lässt sich beobachten, dass computervermittelte kommunikation eine Vielzahl von Varianten glokalisierter Netzwerke ermöglicht, die in unterschiedlichem Masse an konkrete Orte rückgebunden sind. Ueber das Internet können sich also community networks, die Partizipation in ihrer region fördern, genaus organisieren wie eine interessenbzogenen und weltumspannende Kommunikation von Gleichgesinnten zubestimmten Themen möglich ist.”

klar, mein “judihui” beitrag von gestern interessiert vor allem die lokalen stadtwandererInnen. und sie tummeln sich, wenn ich hier bekannte grössen auf die schippe nehme. die globalen stadtwandererInnen wiederum sind gerne bei persönlichkeiten wie einstein, aber auch bei themen der europäischen geschichte im mittelalter.

wenn sie dabei etwas über meinen lebensraum erfahren, freut es mich.
zu gerne wüsste ich jedoch auch, wie ich mehr über den lebensraum meiner globalen stadtwandererinnen erfahren würde.

dann würde nicht nur der stadtwanderer, sondern auch ich glokal.

stadtwanderer

judihui

ich habe es vermisst, das schrille kringeln der berner tram am bahnhofplatz. das quitschen der räder, wenn es in die kurve geht. das nervöse geläut des kondukteures, wenn er einen passanten von der schiene haben muss.

jetzt wird alles anders: judihui!

ich habe mich dieses jahr oft geärgert, wenn ich über den bahnhofplatz musste. der umbau versperrte den kürzesten weg mit sicherheit. alles andere war weiter, umständlicher, und jeden tag anders. bisweilen war es zum verweifeln.


das wartende tram während der neueröffnungsfeier der linien über den bahnhofplatz vom 8. dezember 2007 (foto: stadtwanderer, anclickbar)

denn seit gestern ist der bahnhofplatz für den tramverkehr wieder offen. bern-west und bern-ost sind wieder miteinander verbunden. selbst der baldachin ist in seinen ersten ansätzen sichtbar.

regula rytz, die federführende, grüne gemeinderätin beim bahnhofplatzumbau, war denn auch überschwänglich bei der eröffnung. sie dankte, lobte und strahlte. auf ende april 2008 soll alles fertig sein. ausser den nachbesserungen, die sie jetzt schon ankündigt.

die zahlreichen gäste unter dem baldachin-gerüst applaudierten erfreut. andere fanden eine feier in den sowieso engen verhältnissen weniger erfreut. doch um 15 uhr war alles vorbei.

der menschenpulk löste sich auf. die ersten trams, die die ganze zeit gewartet hatten, wurden in bewegung gesetzt. und schon bald kriegelte, quitschte und läutete es wie vermisst.

judihui, es ist wieder alles beim alten!

stadtwanderer

philosophischebetrachtungen zum baldachin-entscheid

die kristallisationserlebnisse unserer politikerInnen

“was war das erste politische erlebnis, an das sie sich erinnern können”, fragte urs leuthard, noch-moderator der arena, seine seine heutige diskussionsrunde in der nicht öffentlichen aufwärmphase vor der sendung. und er hatte erfolg damit: die fünf spitzenpolitikerInnen, die fraktionspräsidentInnen von svp, sp, cvp, fdp und grünen outeten ihre kindheits- oder jugenderlebnisse, die sie politisch geprägt haben.


ursula wyss, felix gutzwiller, therese frösch, urs schwaller, caspar baader, die fraktionspräsidentInnen unter der bundeskuppel in bern (quelle: parlamentsdienste)

meine vermutung: je bedeutsamer die familie für das kristallisationserlebnis war, desto traditioneller war die sozialisation. und je traditioneller sie war, desto eher strebt mann oder frau eine karriere an, die im bundesrat enden könnte. je wichtiger indessen die massenmedien für die politische sozialisation war, desto moderner ist sie geprägt, und desto undeutender ist ein karrierenende in der landesregierung!

die befunde

und hier, was unsere gewährspersonen unter den schweizer spitzenpolitikerinnen offenbarten:


gamal abdel nasser,ägyptischer staatspräsident, prägte felix guttwiller negativ

felix gutzwiller, jahrgang 1948, bald schon ex-chef der fdp-fraktion, und auch auch schon zürcher ständerat, machte den anfang. er erinnerte sich an den sommer 1956. damals brach die krise rund um den suezkanal aus. ägyptens staatspräsident, gamal abdel nasser, verstaatlichte vor ablauf der konzession den wichtigen durchgang zwischen mittelmeer und pazifik. israel, grossbritannien und frankreich erklärten ihm und seinem land darauf hin den krieg, den sie militärisch auch zu gewinnen schienen. doch griffen die uno, die usa und die udssr in ägypten ein, und sie beendeten innert kürzester zeit den krieg. nasser galt als politischer sieger, doch er war in den basler schulen der bösewicht. und so schrieb ihm klein-felix einen brief. der anfang fiel ihm besonders schwer, denn er habe gelernt, ein schreiben stets mit “lieber …” anzufangen. so habe er sich entschieden an den “lieben bösen nasser” zu wenden. “feindbilder in watte gepackt” könnte man den früh erlernten, galanten umgang mit dem gegner nennen.


der entscheidende ahmed ben bella, erster algerischer staatspräsident, wurde therese frösch durch flüchlingskinder in der schweiz positiv vermittelt

therese frösch, 1951 geboren, vormals revolutionär-marxistisch, heute fraktionspräsidentin der grünen, knüpfte fast nahtlos daran an, doch vermittelte sie eine ganz andere optik. ihre familie, die im aargauischen zofingen wohnte und zur methodistenkirche gehörte, half, flüchtlinge aus dem algerischen unabhängigkeitskrieg (1954-1962) aufzunehmen. die kinder aus nordafrika, mit denen klein-therese so in verbindung kam, hatten ein idol: ahmed ben bella, den früheren mittelfeldspieler von olympique marseille, den begründer des kämpferischen algerischen fln und dem ersten präsidenten des unabhängigen algeriens. sie habe, gestand die ehrlich frösch, als kind nicht richtig verstanden, um wen und was es da gegangen sei. erst gespräch mit ihren eltern sei ihr bewusst geworden, was unterdrückung und freiheit ausserhalb der schweiz bedeutet hätten. doch die aufklärung durch ihre eltern habe geholfen.


der zerstörte atommeiler tschernobyl drang früh und nachhaltig negativ ins bewusstsein von ursula wyss ein

ursula wyss, die fraktionspräsidentin der sozialdemokratInnen in bern, 1973, also lang nach alledem, in davos geboren, war zuerst zögerlich. es gäbe bei ihr keine briefe wie bei gutzwiller, sagte sie. und sie wisse nicht so recht, ob sich ihre nachträglichen erinnerungen nicht täuschtne. sie habe aber den medien erzählt, dass es schliesslich “tschernobyl” gewesen sei. jetzt glaube sie auch, dass 1986 sie politisch aufgeweckt habe. die katastrophe im atomreaktor löste nicht nur eine unglaubliche tragödie in der näheren und weiteren umgebung aus, berichtete die linke politikerin empört. sie weckte bei ihr auch das bewusstsein, dass es weltweit und in der schweiz ein andere energiepolitik brauche. das hat sie denn auch beruflich und politisch nachhaltig geprägt: die promovierte ökonomin und ökologin setzt sich an vorderster politischer front für den ausstieg aus der atomtechnologie ein. so könne man auch sagen, sie erwache politisch immer noch ein wenig.


die arbeit in der steuerkommission brachte caspar baader erst spät die politik in positiver form nahe

caspar baader, 1953 geboren, heute fraktionschef der svp im bundeshaus, stammt aus einer basler fdp-familie. politisiert hat ihn nach eigenen angaben aber weder das elternhaus, noch die grosse weltpolitik. eigentlich sei er lange ein unpolitischer mensch gewesen. erst als er mit seiner frau in eine kleine gemeinde in den kanton bern gezogen sei, habe er begonnen, sich für politik zu interessieren. man habe ihn für die gemeine steuerkommission angefragt, und er habe zugesagt. es habe zwei parteien im dorf gegeben: die sp und svp. und es sei für ihn von beginn an klar gewesen, dass er sich nur der svp anschliessen könne. selbst wenn es eine fdp gegeben hätte, er wäre zur svp gegangen. denn die sei sauber. und da ist er als saubermann ganz hoch aufgestiegen.


die wahl von urs schwallers vater in den gemeinderat von tafers formte den baldigen bundesratsanwärter aus eben dieser gemeide positiv

schliesslich outete sich auch der freiburger ständterat urs schwaller, oberstes mitglied der cvp-fraktion in bern. er hatte am längsten zeit, sich die eigene geschichte zu überlegen. und sie kam dann so raus: 1952 in freiburg geboren, lebte seine familie 1966 im deutschsprachigen tafers. und da sei auch er durch die lokalpolitik politisiert worden. man habe einen gemeinderat gesucht. urs schwaller, 14jährig, habe natürlich noch nicht kandidieren können. er habe gewartet, denn sein vater sein kandidat für die cvp gewesen! dessen wahl in ein exekutivamt habe ihn beeindruckt, sei zum vorbild geworden. sie habe ihn in die politik gebracht, und sie führte ihr schon in verschiedene exekutivämter. ob sich der mechanismus heute noch fortsetze, wisse er aber nicht, sagte schwaller, fast schon den sozialen wandel beschreibend: der jüngste sohn sei 14 und politisch noch wenig festgelegt. die tochter, 17, sei sehr kritisch, und der älteste sohn, 21, sage ihm regelmässig, was er in bern alles falsch mache. immerhin, er ist fraktionschef der cvp geworden, die unter dem freiburger wieder einiges richtig macht, füge ich bei.

die interpretation

warum ich das beschreibe? weil die heutigen arena-teilnehmerInnen in der ersten reihe ihre geschichte so freimütig erzählten wie sonst kaum je. gutzwiller war selbstironisch, frösch ehrlich, wyss selbstzweifelnd, baader demi-sec und schwaller ausgewogen. ihr stil war nicht unabhängig zu sein, von ihren kristallisationserlebnissen. denn sie sind jene momente in einer biografie, die prägend wirken. das kann man auch später noch nachvollziehen. denn die kristallisationserlebnisse spuren die (politische) persönlichkeit typischerweise vor, und dieser spur folgen die politikerInnen, wenn sie ihre (politische) identitäten ausbilden.

die heutigen fraktionspräsidentInnen der fdp, der sp und der grünen sind durch aussenpolitische ereignisse geprägt worden. obwohl alle in der schweiz aufgewachsen sind, ist ihre politische identität durch den bezug nach aussen entstanden. in allen drei fällen waren es ereignisse mit ausgeprochen hohem medienwert. zweimal waren es militärische auseinandersetzungen, die ihren ursprung in freiheitsbewegungen in afrika hatten. einmal führten sie zu einer identifizierung mit den unterdrückten, einmal eher mit den weltweiten ordnungsmächten. und in einem fall war es eine technische katastrophe, welche das politische licht anmachte. der unterschied hängt mit den generationen zusammen: wer heute um die 60 ist, hat den aufbruch der unterdrückten nach dem 2. weltkrieg erlebt und das verarbeitet. wer heute 35 ist, kann damit nicht mehr viel anfangen, wohl aber mit den auswirkungen der technikentwicklung. dennoch sind nicht alle drei gleich geprägt worden: bei gutzwiller und wyss ist die aussenorientierung der prägung klar. bei frösch entstand sie zwar auch so, wurde aber durch kirche und familie als erhellendes umfeld vermittelt. wyss und gutzwiller sind als die politikerInnen mit einer modern geprägten sozialisation, frösch teilweise auch, teilweise nicht.

bei den beiden traditionell sozialisierten, schwaller und baader, stand nicht die tagesschau des fernsehens im vordergrund, sondern die tagesschau auf dem dorfplatz, im sitzungszimmer und in der gastwirtschaft, die sie in die unmittelbare politik einführte. einmal waren, wohl typisch für die katholische variante des tradition, die eltern die vorbilder; das andere mal war es, vielleicht auch typisch für die reformierte ausprägung der sozialisation, die geschichte des eigenen ichs, die politisierend wirkte. von globalen einflüssen merkt man da nicht, von lokalen indessen viel.

der ausblick

und wie haben die fünf auf die frage reagiert, ob bundesrat zu werden, für sie ein karrierenziel sei. der “modernist” gutzwiller winkte ab, zu alt und zu gut ins berufsleben integriert, um einen sitz im bundesrat anzustreben. bei der “modernistin” wyss, deutlich jünger als gutzwiller, stellt sich die frage noch nicht: sie habe noch viel zeit zum überlegen. die hypothese ist also erfüllt. für modernisten ist bundesrat werden kein vorrangiges ziel mehr. die modern-konservative frösch wiederum war da – erwartungsgemäss – schon offener. sie träume nicht nur in ihren schlechtesten träumen davon, bundesrätin zu sein, gab sie von sich. kirche und familie haben sie geprägt, wenn auch im zusammenhang mit der flüchtlingshilfe. der reformierte traditionalist baader wiederum ging da, wenn auch etwas versteckt, noch etwas weiter: die frage stelle sich “noch” nicht, liess er die anderen wissen. das hiesst fast ja. und beim katholischen traditionalist? schwaller hätte sie am liebsten positiv beantwortet. aber er getraute sich dann doch nicht. in seiner deutschfreiburger sprache sagte er: er habe seinen platz in bern gefunden, und er denke gerne an die 14 jahre in der freiburger regierung zurück.

urs leuthard übersetzte das mit: eigentlich wollen sie! und genau das sagt auch meine theorie der kristallisationserlebnisse.

stadtwanderer

brrr, das wird kalt

reprise

eigentlich glaubte ich, die stadtwanderer-saison 2007 sei schon abgeschlossen. doch jetzt gibt es eine unerwartete fortsetzung.


ich komme mir fast ein wenig wie general dufour vor, damals 1847/8 im sonderbundeskrieg, nur viel kälter wird es bei meiner stadtwanderung wohl sein, als das bild suggeriert (foto: swissworld, anclickbar)

die logistikbasis der schweizer armee kommt mit mir auf tour(en)! unter der leitung von divisonär werner bläuenstein werde ich am 5. dezember 2007 werden mich zahlreiche verantwortlich für die infrastruktur der armee auf meiner demokratie-tour begleiten.

das wird sicher höchst spannend, so kurz vor den bundesratswahlen 2007!

ich freue mich, auch wenn’s an diesem datum reichlich kalt werden dürfte. winterwanderungen sind für mich etwas neues. werde schauen, ob ich meinen “kaput 57” aus den dienstzeiten noch finde!

doch bin ich in anderer sache zuversichtlich: für eine warme verpflegungsstation unterwegs werden meine teilnehmer sicher sorgen können!

sodann, guten umzug durch bern

stadtwanderer

ps:
kurzfristig wurde erwogen, das ganze am 11.12.2007 zu machen. ich hab dann aber abgewunken. das wäre ja die nacht vor den bundesratswahlen gewesen. – man stelle sich das vor: am ende hätte man noch darüber spekuliert, ob ich einen putsch der armee vor den wahlen anführe … ich bezeuge: wir haben ganz friedlich-didaktische absichten!

escher, seine person, aber auch unsere kultur

er war mächtig. und er stieg bis an die spitzen der politischen und wirtschaftliche macht im jungen bundesstaat auf. doch er veranwortete beim bau des ersten gotthard-tunnels auch ein riesiges defizit. das leitete seinen ebenso tiefen fall aus politik und wirtschaft ein. deshalb gehört alfred escher bis heute nicht nur zu den umstrittensten personen der zürcher, sondern auch der schweizer geschichte.


denkmal an der zürcher bahnhofstrasse: alfred escher und seine stadt (foto: stadtwanderer,anclickbar)

die biografie

zunächst staunt man. das curriculum vitae von alfred escher ist bis heute beeindruckend: er war zürcher kantonsrat, zürcher regierungsrat und schweizerischer nationalrat. doch er war auch an der spitze der nordostbahn, des polytechnikums (der heutigen eth zürich), der schweizerischen kreditanstalt und der rentenanstalt. schliesslich wurde er direktionspräsident der neu gegründeten gotthardbahn.

es war dieser posten, der die wende in der grossen karriere einleitete. denn die projektvergabe ging an den günstigsten anbieter, der sich dabei massiv verkalkuliert hatte. aufgrund des öffentlichen druckes, der später entstand, trat escher zunächst als verwaltungsratspräsident der ska zurück. doch auch der bundesrat, vor allem eschers freund emil welti, liess ihn in der folge fallen. schliesslich musste er gar bei der gotthardbahn demissionieren.

das “system escher”, das politik, wissenschaft, technik und finanzen in einer bisher beispielslosen art und weise umfasst hatte, war damit gescheitert: nicht zuletzt aufgrund einer demokratischen und sozialen bewegung, als deren ausfluss die sozialdemokratische partei zürichs rund um karl bürkli entstand.

demonstriert wurde die tragik eschers, als er, der in seinem leben so viel unternommen und gesehen hatte, zur offiziellen eröffnung des gotthardtunnels am 24. mai 1882 gar nicht mehr eingeladen wurde. gut ein halbes jahr später, am 6. dezember, verstarb er einsam.


das neue buch zu alfred escher, dem fliegenträger des 19. jahrhunderts, rechtzeitig zum 125. todestag von heute erschienen

der biograf

joseph jung, professor für wirtschaftsgeschichte an der universität in freiburg, gleichzeitig chefhistoriker der credit suisse und neuer direktor alfred-escher-stiftung hat, rechtzeitig zum heutigen 125. todestag von alfred escher eine populär aufgemachte biografie eschers herausgegeben. darin urteilt er vorsichtig optimistisch: ohne die ausserordentliche tatkraft eschers hätte die schweiz den anschluss an die industrialisierung durch eben diese fortbewegungstechnologie verpasst, fasst er seine studie zusammen.

gründe hierfür sieht jung im rückstand, den sich die förderalistische schweiz in den 1830er jahren gegenüber der eisenbahnindustrialisierung in grossbritannien, den vereinigten staaten oder frankreich eingehandelt hatte. die bis heute populäre einweihung der “spanisch brötli” bahn 1847 sei keine herausragende tat, sondern ausdruck der verspätung gegenüber den neuen industriestaaten gewesen, kritisiert jung.

der historiker zeigt auch das netzwerk auf, das an den liberal und radikal gesinnten universitäten entstand und sich in der studentenverbindung zofingia verfestigte. es eignete sich zur führung von entscheidungen in verschiedenen spähren während der einzigen phase des wirklichen wirtschaftsliberalismus’ in der schweiz ausgesprochen gut.

und jung verschweigt das politische und private scheiterns eschers nicht, der die welt als liberaler verstand und auch so handelte, der aber feststellen musste, wie öffentliche meinung und opposition einen überspannten bogen auch zum bersten bringen können. escher hält er dabei zu gute, nicht an sich, sondern an die schweiz und zürich, gedacht zu haben.


an der bahnhofstrasse 46 in zürich, dem alten standort der gotthard-bahndirektion feiert man alfred escher unverändert als wirtschaftspionier und staatsmann (foto: stadtwanderer, anclickbar)$

die kulturell bleibende wirkung

aufstieg und fall alfred eschers haben die politische kultur der schweiz nachhaltig geprägt: da ist die weitgehend ungebrochene bewunderung für wirtschaftliche prioniertaten, seien es nun neue eisenbahntunnels, schnellstzugverbindungen oder swissairhöhenflüge. da ist aber auch die abgrundtiefe skepsis gegenüber machtballungen, vor allem in form von politischen anführern. es zählt auch die immer wiederkehrende hoffnung hinzu, dass private initiative bessere leistungen erbringe als staatliche. selbst wenn man weiss, dass die günstigste offerte eigentlich nie die sicherste ist. und da ist das liberale selbstverständnis, dass stets offen für grossartige zukunftsprojekte ist, aber nicht versteht, wenn sich mit gleicher regelmässigkeit öffentliche opposition gegen solche einschätzungen äussert.

auch wenn man weniger biografisch, mehr politkulturell ausgerichtet über escher nachdenkt: es lohnt sich, das neue buch zu seinem leben zu lesen, um sich der aktualität der reaktionen gegenüber figuren von eschers schlag zu vergegenwärtigen. übereinstimmungen mit jenen zu lebenden personen, die uns tagtäglich in zürich und anderswo begegnen, sind durchaus beabsichtigt.

stadtwanderer

zur urteilskraft der berner medien heute

zugegeben: es stürmte diese nacht. der wald wogte, die bäume krachten. ich konnte kaum mehr schlafen. so war ich am morgen müde. meine urteilskraft (hannah arendt) war klar reduziert.


die schlagzeilen zum sessionsauftakt am 3. dezember 2007 – gleichzeitig mit dem rückblick auf die auslosung der gruppen für die euro 08 (foto: stadtwanderer, anclickbar)

was ich da aber zu lesen bekam, fiel jedoch sogar mir in meinem morgenschlaf auf: “schweiz im losglück”, schrieb die berner zeitung. und der bund setzte dagegen: “hartes los für die schweiz”. doch beide handelten vom gleichen.

echt!

und das auf der frontseite meiner beiden morgenblätter. “in der mediendemokratie ist alles gleich-gültig”, würde das meine kollegin regula stämpfli kommentieren. und wie sie nur recht hätte! mit der unterscheidungsfähigkeit der medien sind wir nahe beim null punkt. die erziehungsarbeit muss deshalb stets von neuem beginnen. denn gegen den vorherrschenden zwang zur zuspitzung führt uns ins absurde. “anything goes!”, hätte paul feyerabend, der verstorbene philosoph nachgeschoben.

“doch es sind nicht die fotos, die unsere welt zersetzen”, würde ich entgegnen. es sind die titel über den artikeln. sie bestimmen den geschmack, den wir beim lesen bekommen sollen, wenn wir noch lesen. und sie sind die quintessenz, die uns bleiben soll, wenn wir nicht mehr lesen. ja wird werden manipuliert. in alle richtungen, bis wir nicht mehr wissen, was alpha und omega ist!

sie machen das gekonnt, aber ohne jeden wert, würde da dem/der unbefangenen zeitgenossIn noch als comment bleiben. wie sie oder er nur recht hätte, wenn er oder sie überhaupt noch zu wort käme …

wirklich!

nein, es war nicht der nächtliche sturm, der mich heute morgen durcheinander brachte. es war nicht die natur, die mich traumatisierte. es ist der morgendliche unsinn der frontseiten, der mir den letzten sinn raubt!

bitte, ihr chefredaktoren, überdenkt euer zwangshandeln. sonst bin auch ich bald der meinung, es sei besser, nur noch einen zu haben, – in zürich!

stadtwanderer

die rebellion des bedrohten wortes

weihnachtsessen bei den fdp-frauen des kantons bern. keinen kuscheliger jahresausklang versprechen die organisatorinnen. denn sie haben jene referentin ausgewählt, die mit sicherheit im betuchten saal des äusseren standes in bern für einen grossen wirbel sorgt.

es spricht regula stämpfli: die “lara croft der schweizer politologie”. die “nervensäge aus brüssel”. die “virtuosin des punktes”. das alles gehört zu ihrem ruf, den ihr die medien, gewollt oder ungewollt, zugeschrieben haben. doch das kümmert sie wenig: sie kennt den mechanismus, macht ihn selber zum thema und trägt lob und tadel gleich selber vor.


das ereignis, das zum schweizer foto des jahres 2007 geführt hat: der nackte stein unter dem schwindenden gletscher, mit wortlosen, aber nackten körpern gegen den klimawandel und seine folgen in der schweiz inszeniert (quelle: greenpeace)

die verschmelzung von privatem und öffentlichem

eigentlich soll sie über “leben, freiheit und eigentum” reden. doch daraus wird nur wenig: regula stämpfli, eine woche in der schweiz, um die premiere ihres neuesten buches vorzubereiten, hat vor allem die premiere im kopf. also redet sie an diesem abend nicht von freiheit, wie die fdp-frauen hoffen. dafür vom leben, von ihrem leben und ihrer lebensphilosophie. und vor allem vom eigentum.

“das eigentum entsteht aus der trennung von öffentlichem und privatem”, lehrt die dozentin in politik, geschichte, medien und design. doch genau diese trennung wird heute vielfach bedroht. angesichts der privatisierung der öffentlichkeit und der veröffentlichung vom privatem weiss niemand mehr, was sein wirklich eigen ist.

schuld daran sind, so stämpflis zeitdiagnose, die massenmedien, die der gegenwärtigen bilderflut erlegen sind: “die eroberung der welt durch das bild”, ist an diesem abend einer der kernsätze, den die buchautorin in anlehnung an martin heidegger prägt. mit dem deutschen philosophen der nazis widerlegt sie auch gleich karl marx, den deutschen philosophen der arbeiterschaft, dialektisch:

heute prägt nicht mehr das sein unser bewusstsein.
das sein der kapitalistischen warenwelt prägt nur noch das bewusstsein der unterhaltungsindustrie.
die aber prägt unser ganzes leben!

voilà! hollywood und cannes, bilderdatenbanken und designerschule, aber auch inserate mit kinderwerbung und migros-plakate mit halbnackten nationalratskandidatInnen sind die heutigen tatorte gegen die menschwerdung, vor allem die der frauen.

das bild – die neue form des totalitarismus

stämpflis angriff auf den “pictorial turn”, wie die fachleute die dominanz zum bild beschreiben, ist knallhart. ganz bestimmt durch hannah arendt wittert sie darin eine neue form des totalitarismus:

wir hören politikerInnen nicht mehr zu; wir mustern sie nur noch nach dem schauwert, rüttelt stämpfli uns auf.

wir fragen nicht mehr nach dem besten argument; wir laden uns nur noch den clip mit dem flappsigsten versprecher in der sache runter, diagnostiziert die buchautorin.

und wir alle googeln uns nur noch durch die bildergalerien, statt selber politisch zu handeln, weiss die zeitkritikerin.

die tendenz ist klar; wir alle erliegen der macht des bild: fotos aus der schweizer illustrierten, gadjets aus eu-kampagnen und sequenzen aus porno-videos. sie alle verdichtet die referentin in ihrem vortrag zu einer eigentlichen präsentation gegen das zeigen! und es wirkt, denn die botschaft kommt an: wir sind gegenwärtig dabei, einen kulturelle schwelle zu überschreiten, die nichts gutes verspricht!


das buch zu medien und bildern: die diagnose der zeitkritikerin regula stämpfli gibt nach 4 jahren arbeit auch in buchform.

geballte ladung – aber kein raum zum verhandeln

doch da möchte man dazwischen rufen: ist das schlecht? oder gut? – ich würde nicht so schnell urteilen. und, meine meinung neigt in die andere richtung als die der referentin. ich bin eher opitmist.

klar, wir sind die ersten menschen, die mit 9/11 live erlebt haben, wie eine neue epoche anbricht. europa brauchte dreihundert jahre, um die entdeckung der neuen welt zu verdauen. wir begriffen in drei sekunden, dass dies ein einschnitt war.

doch sind wir des medienkonsums wegen alle verblödet? wir wissen doch genau, dass weder die uno, noch der kreml oder das bundeshaus die entscheidenden arenen der gegewartspolitik sind. vielmehr haben wir schritt für schritt gelernt, via internet, fernsehen und kino politik zu verfolgen, zu rekonstruieren, und uns eine meinung zu bilden, ohne in die arena zu gehen, ohne im säli des bären zu hocken und ohne dem bundeshaus einen obligaten besuch abzustatten.

denn wir haben die sprengkraft der mohammed-karikaturen erlebt, auch wenn wir die dänische zeitung jyllands posten nie in unserem leben in den händen gehalten haben. und wir wissen längst, dass der zorn der zeit medial entfacht, emotional angeheizt zur kollektiven hype führt.

doch für den aufgestauten zwischenruf ist an diesem abend kein platz. die referentin ist zu schnell und zu absolut: sie kritisiert das generelle fehlen der urteilskraft in der heutigen zeit. und dann haut sie noch einen drauf: die menschen sind überhaupt nicht mehr in der lage zu denken!, spitze ich das zu: selbst wer denkt, er oder sie denke, erliegt der verführung durch das bild. rené descartes “cogito, ergo sum” verkomme zum generellen “in media, ergo sum.” – bum!

das geschriebene zum gesprochene wort

die schnelle diagnose der postmodernen krise hat regula stämpfli bewogen, selber nicht mehr nur auf das gesprochene wort zu setzen. sondern auch gleich ein buch darüber zu schreiben. das jedoch ging einiges länger. vier jahre hat sie “die macht des richtigen friseurs. über bilder, medien und frauen” gearbeitet und dabei ein ziel verfolgt: die zurückgebliebene alphabetisierung unseres blicks voranzutreiben. gefragt sei mehr urteilskraft, um sich bewusst zu werden, was man sehe. denn das was ist, sei einem angesichts der vielen welten, in den wir lebten, nicht mehr klar. und mit der welt verschwinde das wort. es zu stärken, sei der sinn ihres ganzen schaffens.

in sieben kapiteln erörtert stämpfli deshalb wie immer geistreich und unterhaltsam, weshalb jahreszahlen zu geburt und tod kein leben erzählen würden, weshalb mit dem szientismus der neuzeit das denken verloren gehe, weshalb der mensch zum sprechenden tier verkomme, weshalb man im zeitalter des live-fetischismus’ für nichts berühmt werde, weshalb man im zeitalter der grausamkeit dennoch lieben solle, und weshalb die blindspirale durchbrochen werden muss.

das ist dann auch ein ganzes philosophisches programm, gespickt mit einsichten aus geschichte, politik und medien, die zur handlungsanweisung werden sollen. ob das alles schon gelingt, weiss man jedoch noch nicht: gut ding will weile haben – gerade in der philosophie!

würdigung nicht als schnellschuss sinnvoll


an diesem abend wäre ich auch nicht mehr in der lage gewesen, das geschenkte buch zu lesen. mit den fdp-frauen assen wir noch etwas feines (“pouletschenkel”), sprachen wir noch über kindererziehung (“sex mit sechs”), und musste ich, beim gang an die frische luft, fdp-männern an der bar berichten, was ihre frauen besprochen hätten (“kommt nach dem versagen des patriarchates das matriarchat”).

ich hätte es aber auch anderntags nicht geschafft, das buch zu lesen. denn regula stämpfli war trotz heiserkeit laut und deutlich, wegen des bildeinsatzes mit powerpoint-unterstützung heftig und deftig, und sie war kreativ und chaotisch. sie hat uns ihren geistigen zettelkasten der vierjährigen recherche an ihrem buch in weniger als zwei stunden ausgeleert und wie schneeflocken von ihrem himmel fallen lassen.

der abend war beeindruckend, aber auch erschwerend. er war aufregend, aber auch blockierend. er war unterhaltsam, – aber noch nicht wirklich erhellend!

um diese sich ausbreitende rebellion des bedrohten wortes wirklich zu verstehen, werde ich mehr als diesen abend brauchen. das buch steht mir ja noch bevor!

stadtwanderer