die kristallisationserlebnisse unserer politikerInnen

“was war das erste politische erlebnis, an das sie sich erinnern können”, fragte urs leuthard, noch-moderator der arena, seine seine heutige diskussionsrunde in der nicht öffentlichen aufwärmphase vor der sendung. und er hatte erfolg damit: die fünf spitzenpolitikerInnen, die fraktionspräsidentInnen von svp, sp, cvp, fdp und grünen outeten ihre kindheits- oder jugenderlebnisse, die sie politisch geprägt haben.


ursula wyss, felix gutzwiller, therese frösch, urs schwaller, caspar baader, die fraktionspräsidentInnen unter der bundeskuppel in bern (quelle: parlamentsdienste)

meine vermutung: je bedeutsamer die familie für das kristallisationserlebnis war, desto traditioneller war die sozialisation. und je traditioneller sie war, desto eher strebt mann oder frau eine karriere an, die im bundesrat enden könnte. je wichtiger indessen die massenmedien für die politische sozialisation war, desto moderner ist sie geprägt, und desto undeutender ist ein karrierenende in der landesregierung!

die befunde

und hier, was unsere gewährspersonen unter den schweizer spitzenpolitikerinnen offenbarten:


gamal abdel nasser,ägyptischer staatspräsident, prägte felix guttwiller negativ

felix gutzwiller, jahrgang 1948, bald schon ex-chef der fdp-fraktion, und auch auch schon zürcher ständerat, machte den anfang. er erinnerte sich an den sommer 1956. damals brach die krise rund um den suezkanal aus. ägyptens staatspräsident, gamal abdel nasser, verstaatlichte vor ablauf der konzession den wichtigen durchgang zwischen mittelmeer und pazifik. israel, grossbritannien und frankreich erklärten ihm und seinem land darauf hin den krieg, den sie militärisch auch zu gewinnen schienen. doch griffen die uno, die usa und die udssr in ägypten ein, und sie beendeten innert kürzester zeit den krieg. nasser galt als politischer sieger, doch er war in den basler schulen der bösewicht. und so schrieb ihm klein-felix einen brief. der anfang fiel ihm besonders schwer, denn er habe gelernt, ein schreiben stets mit “lieber …” anzufangen. so habe er sich entschieden an den “lieben bösen nasser” zu wenden. “feindbilder in watte gepackt” könnte man den früh erlernten, galanten umgang mit dem gegner nennen.


der entscheidende ahmed ben bella, erster algerischer staatspräsident, wurde therese frösch durch flüchlingskinder in der schweiz positiv vermittelt

therese frösch, 1951 geboren, vormals revolutionär-marxistisch, heute fraktionspräsidentin der grünen, knüpfte fast nahtlos daran an, doch vermittelte sie eine ganz andere optik. ihre familie, die im aargauischen zofingen wohnte und zur methodistenkirche gehörte, half, flüchtlinge aus dem algerischen unabhängigkeitskrieg (1954-1962) aufzunehmen. die kinder aus nordafrika, mit denen klein-therese so in verbindung kam, hatten ein idol: ahmed ben bella, den früheren mittelfeldspieler von olympique marseille, den begründer des kämpferischen algerischen fln und dem ersten präsidenten des unabhängigen algeriens. sie habe, gestand die ehrlich frösch, als kind nicht richtig verstanden, um wen und was es da gegangen sei. erst gespräch mit ihren eltern sei ihr bewusst geworden, was unterdrückung und freiheit ausserhalb der schweiz bedeutet hätten. doch die aufklärung durch ihre eltern habe geholfen.


der zerstörte atommeiler tschernobyl drang früh und nachhaltig negativ ins bewusstsein von ursula wyss ein

ursula wyss, die fraktionspräsidentin der sozialdemokratInnen in bern, 1973, also lang nach alledem, in davos geboren, war zuerst zögerlich. es gäbe bei ihr keine briefe wie bei gutzwiller, sagte sie. und sie wisse nicht so recht, ob sich ihre nachträglichen erinnerungen nicht täuschtne. sie habe aber den medien erzählt, dass es schliesslich “tschernobyl” gewesen sei. jetzt glaube sie auch, dass 1986 sie politisch aufgeweckt habe. die katastrophe im atomreaktor löste nicht nur eine unglaubliche tragödie in der näheren und weiteren umgebung aus, berichtete die linke politikerin empört. sie weckte bei ihr auch das bewusstsein, dass es weltweit und in der schweiz ein andere energiepolitik brauche. das hat sie denn auch beruflich und politisch nachhaltig geprägt: die promovierte ökonomin und ökologin setzt sich an vorderster politischer front für den ausstieg aus der atomtechnologie ein. so könne man auch sagen, sie erwache politisch immer noch ein wenig.


die arbeit in der steuerkommission brachte caspar baader erst spät die politik in positiver form nahe

caspar baader, 1953 geboren, heute fraktionschef der svp im bundeshaus, stammt aus einer basler fdp-familie. politisiert hat ihn nach eigenen angaben aber weder das elternhaus, noch die grosse weltpolitik. eigentlich sei er lange ein unpolitischer mensch gewesen. erst als er mit seiner frau in eine kleine gemeinde in den kanton bern gezogen sei, habe er begonnen, sich für politik zu interessieren. man habe ihn für die gemeine steuerkommission angefragt, und er habe zugesagt. es habe zwei parteien im dorf gegeben: die sp und svp. und es sei für ihn von beginn an klar gewesen, dass er sich nur der svp anschliessen könne. selbst wenn es eine fdp gegeben hätte, er wäre zur svp gegangen. denn die sei sauber. und da ist er als saubermann ganz hoch aufgestiegen.


die wahl von urs schwallers vater in den gemeinderat von tafers formte den baldigen bundesratsanwärter aus eben dieser gemeide positiv

schliesslich outete sich auch der freiburger ständterat urs schwaller, oberstes mitglied der cvp-fraktion in bern. er hatte am längsten zeit, sich die eigene geschichte zu überlegen. und sie kam dann so raus: 1952 in freiburg geboren, lebte seine familie 1966 im deutschsprachigen tafers. und da sei auch er durch die lokalpolitik politisiert worden. man habe einen gemeinderat gesucht. urs schwaller, 14jährig, habe natürlich noch nicht kandidieren können. er habe gewartet, denn sein vater sein kandidat für die cvp gewesen! dessen wahl in ein exekutivamt habe ihn beeindruckt, sei zum vorbild geworden. sie habe ihn in die politik gebracht, und sie führte ihr schon in verschiedene exekutivämter. ob sich der mechanismus heute noch fortsetze, wisse er aber nicht, sagte schwaller, fast schon den sozialen wandel beschreibend: der jüngste sohn sei 14 und politisch noch wenig festgelegt. die tochter, 17, sei sehr kritisch, und der älteste sohn, 21, sage ihm regelmässig, was er in bern alles falsch mache. immerhin, er ist fraktionschef der cvp geworden, die unter dem freiburger wieder einiges richtig macht, füge ich bei.

die interpretation

warum ich das beschreibe? weil die heutigen arena-teilnehmerInnen in der ersten reihe ihre geschichte so freimütig erzählten wie sonst kaum je. gutzwiller war selbstironisch, frösch ehrlich, wyss selbstzweifelnd, baader demi-sec und schwaller ausgewogen. ihr stil war nicht unabhängig zu sein, von ihren kristallisationserlebnissen. denn sie sind jene momente in einer biografie, die prägend wirken. das kann man auch später noch nachvollziehen. denn die kristallisationserlebnisse spuren die (politische) persönlichkeit typischerweise vor, und dieser spur folgen die politikerInnen, wenn sie ihre (politische) identitäten ausbilden.

die heutigen fraktionspräsidentInnen der fdp, der sp und der grünen sind durch aussenpolitische ereignisse geprägt worden. obwohl alle in der schweiz aufgewachsen sind, ist ihre politische identität durch den bezug nach aussen entstanden. in allen drei fällen waren es ereignisse mit ausgeprochen hohem medienwert. zweimal waren es militärische auseinandersetzungen, die ihren ursprung in freiheitsbewegungen in afrika hatten. einmal führten sie zu einer identifizierung mit den unterdrückten, einmal eher mit den weltweiten ordnungsmächten. und in einem fall war es eine technische katastrophe, welche das politische licht anmachte. der unterschied hängt mit den generationen zusammen: wer heute um die 60 ist, hat den aufbruch der unterdrückten nach dem 2. weltkrieg erlebt und das verarbeitet. wer heute 35 ist, kann damit nicht mehr viel anfangen, wohl aber mit den auswirkungen der technikentwicklung. dennoch sind nicht alle drei gleich geprägt worden: bei gutzwiller und wyss ist die aussenorientierung der prägung klar. bei frösch entstand sie zwar auch so, wurde aber durch kirche und familie als erhellendes umfeld vermittelt. wyss und gutzwiller sind als die politikerInnen mit einer modern geprägten sozialisation, frösch teilweise auch, teilweise nicht.

bei den beiden traditionell sozialisierten, schwaller und baader, stand nicht die tagesschau des fernsehens im vordergrund, sondern die tagesschau auf dem dorfplatz, im sitzungszimmer und in der gastwirtschaft, die sie in die unmittelbare politik einführte. einmal waren, wohl typisch für die katholische variante des tradition, die eltern die vorbilder; das andere mal war es, vielleicht auch typisch für die reformierte ausprägung der sozialisation, die geschichte des eigenen ichs, die politisierend wirkte. von globalen einflüssen merkt man da nicht, von lokalen indessen viel.

der ausblick

und wie haben die fünf auf die frage reagiert, ob bundesrat zu werden, für sie ein karrierenziel sei. der “modernist” gutzwiller winkte ab, zu alt und zu gut ins berufsleben integriert, um einen sitz im bundesrat anzustreben. bei der “modernistin” wyss, deutlich jünger als gutzwiller, stellt sich die frage noch nicht: sie habe noch viel zeit zum überlegen. die hypothese ist also erfüllt. für modernisten ist bundesrat werden kein vorrangiges ziel mehr. die modern-konservative frösch wiederum war da – erwartungsgemäss – schon offener. sie träume nicht nur in ihren schlechtesten träumen davon, bundesrätin zu sein, gab sie von sich. kirche und familie haben sie geprägt, wenn auch im zusammenhang mit der flüchtlingshilfe. der reformierte traditionalist baader wiederum ging da, wenn auch etwas versteckt, noch etwas weiter: die frage stelle sich “noch” nicht, liess er die anderen wissen. das hiesst fast ja. und beim katholischen traditionalist? schwaller hätte sie am liebsten positiv beantwortet. aber er getraute sich dann doch nicht. in seiner deutschfreiburger sprache sagte er: er habe seinen platz in bern gefunden, und er denke gerne an die 14 jahre in der freiburger regierung zurück.

urs leuthard übersetzte das mit: eigentlich wollen sie! und genau das sagt auch meine theorie der kristallisationserlebnisse.

stadtwanderer

brrr, das wird kalt

reprise

eigentlich glaubte ich, die stadtwanderer-saison 2007 sei schon abgeschlossen. doch jetzt gibt es eine unerwartete fortsetzung.


ich komme mir fast ein wenig wie general dufour vor, damals 1847/8 im sonderbundeskrieg, nur viel kälter wird es bei meiner stadtwanderung wohl sein, als das bild suggeriert (foto: swissworld, anclickbar)

die logistikbasis der schweizer armee kommt mit mir auf tour(en)! unter der leitung von divisonär werner bläuenstein werde ich am 5. dezember 2007 werden mich zahlreiche verantwortlich für die infrastruktur der armee auf meiner demokratie-tour begleiten.

das wird sicher höchst spannend, so kurz vor den bundesratswahlen 2007!

ich freue mich, auch wenn’s an diesem datum reichlich kalt werden dürfte. winterwanderungen sind für mich etwas neues. werde schauen, ob ich meinen “kaput 57” aus den dienstzeiten noch finde!

doch bin ich in anderer sache zuversichtlich: für eine warme verpflegungsstation unterwegs werden meine teilnehmer sicher sorgen können!

sodann, guten umzug durch bern

stadtwanderer

ps:
kurzfristig wurde erwogen, das ganze am 11.12.2007 zu machen. ich hab dann aber abgewunken. das wäre ja die nacht vor den bundesratswahlen gewesen. – man stelle sich das vor: am ende hätte man noch darüber spekuliert, ob ich einen putsch der armee vor den wahlen anführe … ich bezeuge: wir haben ganz friedlich-didaktische absichten!