bestimmen sie 10 momente des politkulturellen wandels der schweiz!

ich wollte einen beitrag schreiben, quasi als zeitgeschichtliches dokument, für die kommenden historikerInnen, für die bewusstseinsarbeiterInnen, und für alle die sich mit der gegenwart respektive mit unserer politischen kultur beschäftigen. basismaterial sollten die reden sein, die ruth metzler-arnold und christoph blocher bei ihrer verabschiedung vor der bundesversammlung hielten.

doch dann kam der auswanderer aus der gascogne. in der blogosphäre gibt es keinen distanzschutz mehr. die kleinbauern wissen, dass das zunehmend auch ausserhalb der virtualität gilt!

und so war der auswanderer schneller als der stadtwanderer: “chapeau, mon cher!” ich erlaube mir dennoch, mit “seinem” material “meine” idee zu realisieren.

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“bestimmen sie 10 unterschiede in den beiden nachstehenden bundesratsreden!
versuchen sie genau herauszufinden, was vor vier jahren war und was heute ist.
machen sie auf dieser basis aussagen zum wandel der politischen kultur in der schweiz der gegenwart!”

das wäre meine fragestellung gewesen. und das bleibt sie, vorerst für sie, liebe leserInnen des stadt- und/oder auswanderers.


Metzler-Arnold Ruth, Bundesrätin:

“Herr Nationalratspräsident, Herr Ständeratspräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren National- und Ständeräte, Sie haben im Sinne der Konkordanz entschieden, anstelle von zwei CVP-Vertretern zwei SVP-Vertreter in den Bundesrat zu wählen. Die CVP soll weiterhin mit Herrn Bundesrat Joseph Deiss vertreten sein. Ich akzeptiere diesen demokratischen Entscheid und stehe für weitere Wahlgänge nicht mehr zur Verfügung.

Vor fast fünf Jahren haben Sie mir die Chance gegeben, eine der höchsten Aufgaben in unserem Staat wahrzunehmen. Diese Aufgabe war faszinierend, und ich habe mich voller Elan und voller Freude dafür eingesetzt. Sie haben mir die Möglichkeit gegeben, bereits im jungen Alter wichtige und anspruchsvolle Herausforderungen in unserem Staat anzugehen. Dazu gehörte auch die Befriedigung, zahlreiche Volksabstimmungen zu gewinnen. Es schmerzt mich, dass dies nun nach fast fünf Jahren zu Ende geht; allzu gerne hätte ich meine Aufgabe weiter wahrgenommen, und ich wäre auch allzu gerne bereit gewesen, das Präsidialjahr zu erfüllen.

Sie haben heute anders entschieden. Nach wochenlangen öffentlichen Diskussionen und Konfrontationen wünsche ich, dass der Weg frei ist für eine konstruktive Zusammenarbeit in der Bundesversammlung und mit dem neuen Bundesrat. Der Geist der Konkordanz, der in den vergangenen Wochen arg strapaziert worden ist, soll neu aufleben und für die Lösung der schwierigen Fragen der Zukunft wegweisend sein.

Ich gehe ohne Verbitterung, mit einer reichen Erfahrung, die mich auch in Zukunft begleiten wird. Ich habe immer gewusst: Es gibt ein Leben nach dem Bundesrat. Dass es bereits jetzt beginnt, hätte ich mir nicht gewünscht.

Ich möchte noch danken, allen voran meinem Mann Lukas, meiner Familie und meinen Freunden, vor allem aber auch meinen politischen Wegbegleitern, die mich insbesondere in den letzten Wochen begleitet haben. Ich danke der Bundesversammlung, die mir ermöglicht hat, während fast fünf Jahren in dieser Funktion zu wirken.” (Stehende Ovation)


Blocher Christoph, Bundesrat:

“Vor vier Jahren wurde ich von diesem Parlament zum Bundesrat gewählt. Ich habe die damalige Wahl als Auftrag angenommen und mich mit ganzer Kraft und nach bestem Wissen und Gewissen in den Dienst für unser Land und unser Volk gestellt. Die Bilanz meines Schaffens lege ich nicht hier vor; ich werde es dann am 28. Dezember tun. Heute haben Sie mich wieder aus diesem Amt entfernt – durch eine Wahl und vor allem durch eine Nichtwahl, ohne eigentlich zu sagen, was der Hintergrund ist.

Für mich ist klar – und das ist das Schöne in diesem Land -: Das Parlament kann zwar Leute aus der Regierung entfernen, aber nicht aus der Politik und nicht aus dem politischen Schaffen im Lande. (Teilweiser Beifall)

Ich schwanke zwischen Erleichterung und Enttäuschung und Empörung; das werden Sie verstehen. Warum Empörung? Eigentlich weniger, weil Sie einen anderen Bundesrat gewählt haben, als darüber, wie Sie es getan haben. Erleichterung, weil ich von jetzt an – ich muss es zuerst noch etwas lernen – wieder sagen kann, was ich denke, und weil ich in Zukunft über Dinge reden kann, die mir eigentlich unter den an sich guten Titeln wie Kollegialität, Konkordanz usw. verboten wurden, auch wenn sie eigentlich nicht hätten verboten werden sollen. Das ist der Vorteil, dass jetzt über alles gesprochen werden kann. Der gestrige Tag hat mir die Notwendigkeit gezeigt, dass es so sein muss.

Was habe ich in den letzten Monaten nicht alles gehört – ich spreche hier vor allem die CVP an: Konkordanz – fast ein heiliger Tempel; Toleranz – die grösste Tugend; Kollegialität – bis zur Selbstverleugnung; Amtsgeheimnis – sehr oft, um viel Dreck und Dinge zuzudecken, die niemand sehen durfte. All das aufzudecken ist in der Opposition – “Opposition” kommt ja von “opponere”, “ponere” heisst “legen”, “ob” heisst “entgegen”, “opponere” bedeutet also “entgegenlegen” – jetzt möglich, sofern es nach dem gestrigen Tag noch nötig ist.

Leistungsausweis, Volkswillen, Volkswohl – das war auf keinen Fall das Motiv dieser Wahl, sondern es sollte etwas unterdrückt werden.

So scheide ich hier aus dieser Regierung aus, aber nicht aus der Politik. All die besorgten Briefe, die ich gestern und in dieser Nacht bekommen habe und in denen befürchtet wurde, ich verlasse jetzt die Politik und ziehe mich irgendwo an die Riviera zurück – da macht man die Rechnung mit dem Falschen! Ich werde mich voll und ganz in den Dienst der Politik stellen – ausserhalb der Regierung. (Teilweiser Beifall)

Was daraus wird, werden wir sehen. Vielleicht wird es ja dazu führen, dass die Regierung und, möchte ich sagen, vor allem auch das Parlament das Richtige tun, weil sie Angst haben, es würde sonst durch eine gute Opposition aufgedeckt. Das wäre ja das Allerbeste.

Sie begnügen sich heute mit einer Regierung aus drei Parteien und mit zwei Vertretern, die nicht mehr Mitglied einer Fraktion sind. Ich wünsche Ihnen dabei sehr viel Glück, und ich kann diejenigen, die Angst haben, ich scheide aus, beruhigen – ich scheide nicht aus -, aber meine Gegner auch entsprechend beunruhigen!” (Stehende Ovation der SVP-Fraktion)

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warum ich das mache? auf eine wesentliche veränderung im verhalten von alt-bundesräten hat bisher niemand hingewiesen: bisher galt es als stille, aber verbindliche regel, das man sich nach dem rücktritt aus dem bundesrat nicht mehr zur politik äussert. die landesväter und -mütter durften bleiben, solange sie wollten. sie hatten ihr amt quasi auf lebzeiten bekommen. wer es früher aufgabe, hatte die vornehme pflicht die rolle nicht zu wechseln. das hat sich in jüngster zeit immer mehr geändert: vor allem bundesräte, die mit druck aus dem amt wichen, deren leistung nicht gewürdigt worden waren oder die mit sich resp. bei denen das parlament mit ihnen nicht im reinen waren, mochten nicht einfach schweigen.

auch ruth metzler-arnold schrieb nach ihrem ausscheiden in der landesregierung ein buch. als sie einmal das parlament in bern besuchte, stieg der puls bei verschiedenen politikerInnen merklich. doch das alles ist passé. christoph blocher denkt nicht im traum daran zu schweigen. er wird reden, und der puls wird steigen, gerade weil er nicht ins parlament kommen will!

stadtwanderer