das tagtägliche chaos: skala des bösen

wer kennt das nicht: man hat zeit zum lesen, reisst seiten aus der zeitung, die man gerne vertieft studieren möchte, und dann … klingelt das telefon! danach ist der faden gerissen, den man zu spinnen begonnen hatte, der artikel landet auf der grossen beige um ende woche ungelesen entsorgt zu werden, sodass der traum, die zeit, in der wir leben, besser verstehen zu können, einmal mehr vertagt wird. jetzt ist fertig damit: ich eröffne die rubrik “das tagtägliche chaos verstehen”, – und hoffe, ihr, meine geneigten leserInnen, helft mir bei der verarbeitung der lektüre!

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drei seiten, die mich heute beschäftigt haben: die skala des bösen, die operation bubenberg und die zeitzeichen für die ewigkeit (foto: stadtwanderer, anclickbar)

am meisten beschäftigt hat mich heute der inzest-skandal in österreich. was es braucht, dass man ein so schreckliches leben führt wie josef fritzl, ist mir unerklärlich. michael stone, professor für forensische psychiatrie, hingegen befasst sich, wie die nzz am sonntag schreibt, seit 30 jahren mit dem widerwertigsten verhalten von menschen. also muss er es wissen.

als seinen schlimmsten fall bezeichnet stone den kannibalen von montana. der verkleidete sich als polizist, schleppte jungs ab, vergewaltigte, tötete, koche und ass sie auf. in seinem haus fand man verschlüsselte kochbücher mit rezepten für die eintopf aus menschenfleisch. stone hat aus solchen fällen eine skala des bösen entwickelt. 22 stufen kann er zwischenzeitlich unterscheiden. fritzl, vermutete er, sei auf der 16. von 22. stufen: “psychopaths committing multiple vicious acts”, heisst sie im fachjargon.

die hauptsächlichen ursachen, die für schwerst abweichendes verhalten in frage kommen, sind genetische defekte, gewalt in der kindheit und deformationen durch unfälle. was bei fritzl den ausschlag gab, weiss aber auch der experte nicht.

aus meiner sicht bleibt die frage, was geschehen muss, dass alle grenzen, die der normale mensch kennt, um zwischen drang und verhalten zu unterscheiden, fallen.

stone spricht in diesem zusammenhang davon, dass sexuell motivierte serienmorde, die 17. stufe, seit den 60er jahren des 20. jahrhunderts zunehmen würden. er gehe davon aus, dass mehrere serienmörder unerkannt unter uns leben würden. seine these für diese entwicklung lautet: “Seit der feministischen Bewegung, seitdem die Frauen eine grössere Freiheit erlangen konnten und sich schneller scheiden lassen, sitzen immer mehr sexuell frustrierte Männer alleine zu Hause. Sie kompensieren ihre «verlorene» Macht und Dominanz, indem sie überreagieren und Frauen brutal behandeln.”

da frage ich: stimmt das alles? oder ist es medial überzeichnet? muss ich jetzt die skala des bösen auswendig lernen, um im alltag schwere psychopathen zu erkennen, wenn ich mich auf der strassse bewege, in einem restaurant esse, oder mich an einem fremden ort vergnüge?

stadtwanderer

an unserem burgunderbild arbeiten

“warst du schon in der burgunderausstellung?”, werde ich gegenwärtig viel gefragt. meine antwort lautet meist “ja”. “und, wie war’s?”, ist die normale nachfrage.  das bringt mich regelmässig in verlegenheit: hier mein ordnungsversuch nach dem museumsbesuch!

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das löbliche zuerst: die sicht des reichen, der dennoch verlor

klar, die eben eröffnete burgunderausstellung ist einmalig. man ist überwältigt vom reichtum, der hier in grosser zahl ausgestellt wird. allen voran beeindrucken die gigantischen teppiche, die im 15. jahrhundert als wandbehänge am burgundischen hof dienten und die weltgeschichte von caesars eroberung galliens bis in die damalige gegenwart darstellen. speziell erwähnt seien auch die zahlreichen exklusiven chroniken, die zu sehen sind und die bedeutung der burgunderherzöge in der herausregenden form aufzeigen, die stilistisch üblich war, als es noch keinen serienmässigen buchdruck gab. und schliesslich muss man von der burgunderbeute reden, welche die eidgenossen 1476 in grandson und murten machten, die teilweise im original oder in getreuer kopie in der ausstellung zu sehen.

den grundstein für den versammelten und ausgestellten reichtum der valois-herzöge von burgund legte philipp der gute, als er zwischen 1419 und 1467 nicht nur die ländereien in den oberen landen, der heutigen region burgund vermehrte, sondern auch die niedern lande, die blühnenden städte von flandern und ihre umgebung unter seine herrschaft brachte. macht und besitz gingen dabei eine besondere symbiose ein, in der karl, philipps einziger legitimer sohn, hineingeboren wurde, sodass karl in seinen nur 10 jahren als herzog nach der vervollkommnung greifen musste: der ehre, selber könig, ja kaiser zu sein.  dafür lud der strebsame herzog karl 1473 den amtierenden kaiser friedrich III. nach trier ein. die verbindung seiner einzigen erbin, maria, mit maximilian, den sohn des kaisers war als eintrittspreis gedacht, um nach der ganzen herrschaft zu greifen zu können.

dieser plan scheiterte, wie die ausstellung klar macht, und dieser misserfolg liess herzog karl seine strategie ändern. statt auf verhandlungen setzte er danach auf die infanterie, die kavallerie und die artillerie. in vorwegnahme der kombination von verschiedenen elementen des heeres, die 100 jahre nach karl üblich werden sollte, suchte er die entscheidung auf dem schlachtfeld, – und unterlag 1477 in nancy, wo er auch den tod fand.

neu an der ausstellung ist, dass diese entwicklung konzeptionell aus der sicht des mächtigen, besitzenden und ehrbaren verlierers, aus karls eigener perspektive, dargestellt wird. das wäre noch vor kurzem in der schweiz undenkbar gewesen, denn in unserer kollektiverinnerung, die durch die partriotische geschichtsschreibung geprägt worden ist, erscheint uns karl nicht als zielstrebiger fürst, der das spätmittelalterliche kaisertum im sinne der renaissance erneuern wollte, sondern als blutdrünstiger tyrann, der hochmütig die eidgenossenschaft kassieren wollte, und dabei zu recht vom hohen ross fiel. allerdings ist die neuinterpretation unseres burgunderbildes in der ausstellung unvollständig. denn die aktive kriegspolitik der stadt bern, die niklaus von diesbach im verbund mit karls erzfeind, dem französischen könig betrieb, geht in der reichhaltigen ausstellung ganz unter.

das problematische danach: der raum des gewinners, der immer noch im kampf ist

und damit sind wir bei dem, was weniger einzigartig an der ausstellung ist: es scheint, als würden sich die räume des berner historischen museum still , aber stur gegen die neuerungen in den betrachtungsweisen wehren. denn sie führen einem vor, wie ungeeignet sie sind, um der ausstellung den glanz zu verleihen, der ihr gebührt: das ende des rundgangs offenbart die ganze schwäche. das erbe karls, das die habsburger kaiserfamilie sehr gerne bei sich aufnahm, findet ganz verloren im untergeschoss der ausstellung statt; fast so, wie wenn es gar nicht wichtig gewesen wäre. der hauptteil wiederum wirkt überstellt, sodass man sich ein wenig im kaiserlichen trödlerladen vorkommt, wenn man friedrichs gepanzertes pferde vor, sein silbergeschirr hinter und die schalmeien über sich hat. die präziosen der ausstellung schliesslich, wie karls gebetsbuch, können nur auf behelfsmässig hergestellten pulten in dunkeln hinterräumen betrachtet werden. das alles mag nicht zu überzeugen, wenn man etwas bewirken will!

teil der nötigen arbeit am berner kollektivgedächtnis

doch ich will nicht mit klagen enden: die ausstellung ist das historische ereignis der saison in der stadt bern, bevor sie nach brügge, einem der zentren der burgundischen macht zu karls zeigten, weiter zieht. und es ist gut, dass sich die stadtkultur mit ihren drei komlexen, die sie aus der geschichte mitgenommen hat, auseinandersetzt: die ablehnung albert einsteins ist seit der grossen einstein-ausstellung einer eigentlichen einstein-euphorie gewichen. das zwiespältige verhältnis der stadt zu albrecht von haller, dem berner universalgenie, der nur ausserhalb der stadt gross werden durfte, wird im kommenden herbst zum grossen thema werden. und dazwischen sollen wir alle aktiv an unserem provinziellen bild von herzog karl arbeiten, den wir seiner kühnheit wegen bisher so wenig mochten!

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