… und wer ist radikal in der schweiz von heute?

mein wochenrückblick war vielleicht etwas happig. deshalb eine lockere form des gleichen themas: “wer ist radikal in der schweiz von heute?”, ist meine frage zum nachdenken.

als anregung eine hitparade von 10, die möglicherweise in frage kommen: ??? minarett-gegner ??? pascal couchepin, bundespräsident ??? armee-waffe-zuhause – befürworter ??? kurt imhof, soziologe ??? die werbebranche ??? christoph mörgeli, konservativer revolutionär ??? die rapper-szene ??? christa markwalder, präsidentin europabewegung schweiz ??? der think tank “avenir suisse” ??? thomas hirschhorn, berner künstler ??? oder ganz andere personen und gruppen???

bin gespannt, was ihr meint!

stadtwanderer

wochenrückblick: was war “radikal” an der schweiz?

ich war diese woche sehr viel unterwegs. stadtwandern, berufsreisen, präsentationen und tagungen lösten einander nahtlos ab. eine wortvariation ist mir dabei an den verschiedenen orten immer wieder begegnet. ein semantischer und historischer wochenrückblick!

schlacht von geltwil im sonderbundeskrieg von 1847: ausdruck des radikalen politikverständnisses und voraussetzung für den heutigen sonderbund
schlacht von geltwil im sonderbundeskrieg von 1847: ausdruck des radikalen politikverständnisses und voraussetzung für den heutigen sonderbund

radikal
den deutschen intellektuellen sei der diskurs der berner liberalen ungenügend gewesen, habe ich am dienstag während der stadtführung gesagt. gemeint war die weiterentwicklung des liberalen gedankenguts in den 1830er und 1840er jahren durch die deutschen professoren an der neu gegründeten berner universität. ihnen ging es nicht nur um handels- und gewerbefreiheit. ihnen genügte es auch nicht, der reaktionären elite eine liberale gegenüber zu stellen. radikal nannten sie ihr programm, weil sie einen umbau der gesellschaft wollten. der soziale wandel, schnell und abrupt, war ihr ziel. denn aus der feudal-aristokratischen gesellschaft sollte endlich eine bürgerlich-demokratische werden. die kleinräumigkeit des handelns sollte durch die grosszügigkeit des wissens abgelöst werden. der diskurs der politik sollte nicht für das volk, sondern mit dem volk geführt werden.
dieses programm war anspruchsvoll, und seine umsetzung war nicht ohne hefitgen widerstand. selbst wenn sie nicht vollständig gelang und der freisinn von 1848 ein mix aus liberalen und radikalen ideen war: die radikale bewegung in der schweiz war es, die entscheidendes zum werden des bundesstaates beitrug. sie war es, welche die einzig erfolgreiche staatsgründung während des revolutionsjahres 1848 vorbereitet, den sonderfall schweiz begründete. das hat dazu geführt, dass der begriff “radical” bis heute akzeptiert ist. die welschen freisinnigen (les radiacaux”) wollen bis nicht darauf verzichten, selbst wenn sich die fdp schweiz von ihrer eigenen geschichte distanziert.

radikalisierung
dem wortstamm bin ich diese woche in einem workshop begegnet. es ging nicht um geschichte, sondern um zukunft. verhandelt wurde die frage, was für globale entwicklungen experten erwarten und wie sich das auf die schweiz auswirken könnte. bisher unbekannte migrationen und neue religionen waren beispielhafte stichworte dazu. ein teilnehmer meinte, er gehe davon aus, dass sich angesichts solcher veränderungen des politische diskurs noch mehr als bisher radikalisieren werde.
was war damit gemeint? symptomatische veränderungen sind heute schon, das der der respekt vor dem gegenüber schweindet. vorstellungen des andern dominieren, nicht selbstbilder. die vorurteile legitimieren nicht selten verbale gewalt. gewisse medien (auch blogs) multiplizieren diese tendenzen, ohne dass ein ende der entwicklung bereits jetzt sichtbar wird. das löst zukunftsängste aus!
bemerkbar macht sich, dass der scwheizerische pragamatismus an bedeutung verliert, dafür die klar bekundete überzeugung wichtiger wird. polarisierungen waren seit der ewr-debatte angesagt, und sie haben unversöhnliche ideologische ausrichtungen wie den nationalkonservatismus oder den linksliberalismus zum ausdruck gebracht.

radikalismus
diese woche war in meinem umfeld auch von radikalismus die rede. es war wieder auf meiner stadtführung für medienschaffende. unsere teilnehmenden aus taiwan hatten schwierigkeiten, sich vorzustellen, was in der schweiz des 19. jahrhunderts geschah. radikal, wie oben besprochen, bedeutet efür sie unmittelbar gewalttätig.
das ist auch nicht ganz falsch. denn radikalismus wird häufig mit extremismus gleichgesetzt. und für den extremismus ist konstitutiv, dass er gewalt befürwortet oder seine anwendung auf bestimmte ob- oder subjekte toleriert. die juristische grenzen, die im rechtstaat gewalt von bürgern untersagen und ein gewaltmonopol des staates stipulieren, gelten dabei nicht mehr trennscharf. es werden auch die moralischen standards, welche die meisten gesellschaften hierzu haben, abgebaut. die enttäuschung, die wut, die angst sind die emotionalen basen der politik, welche den extremismus begründen, bei dem die physische gewaltanwendung möglich wird.

die radikale wurzel des schweizerischen bundesstaates
auch der liberale radikalimus aus der mitte des 19. jahrhunderts kannte seine zu gewalt als politischem mittel. die antworten blieben durchaus verschieden. ein teil befürwortete gewalt, um überkommende gesellschaftliche verhältnisse abzuschaffen. andere waren friedlicher eingestellt, wollten keinen militärischen sieg, sondern einen politischen.
ausgangspunkt hierfür waren die auseinandersetzungen nach der liberalen französischen revolution von 1830, während der die bourbonen gestützt und durch den bürgerkönig abgelöst wurden. den gemässigtere genügten in der folge die neuen verfassungsrechte und das zensuswahlrecht. die radikaleren wiederum kritisierten genau das, denn für sie ging es um die ablösung der feudallasten und die einführung eines allgemeinen (männer)wahlrechtes.
genau diese diskussion fand in der schweiz nach den 1830er umstürzen in den regenerierten kantonen statt. der sich radikalisierende diskurs in den 1840er jahren führten schliesslich in den freischarenzügen zu unkontrollierter gewaltanwendungen mit politischen zielen, zu antiliberalen reaktionen im katholischen milieu und schliesslich zum sonderbundeskrieg.
so werflich dieser bürgerkrieg war: er war der befreiungsschlag, der den freisinnigen bundesstaat erst ermöglichte! das ist mir diese woche bei den begriffsrekonstruktionen wieder klar geworden.

stadtwanderer