von hundertstelsekunden und hunderten von jahren

den st. martinsturm in st. imier schmückt eine überdimensionierte uhr. sie steht gleichsam für die arbeit, die man in der stadt im suzetal findet. den turm selber nennt man im volksmund tour de la reine berthe, selbst wenn die anspielung auf die burgundische königin weit hergeholt ist. was solls, sagen sich die leute im erguel, denn sie haben gelernt, nach ihren eigenen uhren zu leben.

wer st. imier hört, denkt unweigerlich an uhrenindustrie. seit 1700 als erwerbszweig in der heimarbeit von st. imier bekannt, entwickelte sich diese branche im suzetal ab mitte des 19. jahrhunderts zur arbeitsteiligen fabrikarbeit. firmen wie tag-heuer, longines und breitling entstanden in st. imier oder produzieren unverändert vor ort. das hatte die bevölkerung bis zur wende zum 20. jahrhundert fast verzehnfacht. 8000 menschen lebten damals in st. imier; und das rasche wachstum des ortes sieht man dem schnell angelegten, geometrisch geordneten stadtgrundriss heute noch an, selbst wenn die bevölkerungszahl nach zwei uhrenkrisen um fast die hälfte zurückgegangen ist.

die stadt der anarchistischen internationalen
die historisch strassenschilder in st. imier erinnern an die umstände, unter dehnen die rasche instustrialisierung im juratal erfolgte. immer wieder stösst man dabei auf das massive alkoholproblem, das die familien beschäftigte. sozialreformen waren nötig, um die präzisionsarbeit in der uhrenindustrie zu gewährleisten. auf der infotafel am hotel central stösst man entsprechend auf niemand geringern als auf den russischen sozialrevolutionär mikael bakunin, der 1872 in st. imier die gegen karl marx gerichtete, anarchistische internationale der frühen arbeiterbewegung begründete.

dass bakunin mit seinem antiautoritären sozialismus im berner jura auf zuspruch stiess, sonst aber kaum erfolg hatte, hat einiges mit den verworrenen staatsverhältnissen in der gegend zu tun:

die stadt des basler bischofs

999 erhielt der basler bischof das kloster moutier-grandval von letzten burgundischen könig rudolf iii. geschenkt; damit wurde er im jura nicht nur zum obersten seelsorgern, sondern auch zum grössten grundherren. auch das kloster st. imier gehörte ihm fortan. bis 1792 blieb er als fürstbischof des kaiserreiches formell weltlicher herrscher, im jura wie in st. imier. erst napoléon bonaparte bereitete dem anachronismus ein ende, schlug das aufgelöste fürstbistum zu frankreich, bevor es, auf dem wiener kongress, als teil des kantons bern eidgenössisch wurde.

der basler bischof herrschte in den südlichen juratäler nicht direkt. zur verwaltung der weltlichen güter liess er neben dem kloster von st. imier eine burg bauen. das burgundische adelsgeschlecht d’arguel betraute er mit deren verwaltung. selbst wenn sie dem suzetal den bis heute gebräuchlichen namen “erguel” gegeben haben, ihren bischöflichen dienst quittiertem sie bereits ende des 13. jahrhunderts. darauf hin übergab der bischof seiner stadt biel 1335 das erguel zur verwaltung. doch hielt auch das nur bis zur reformation. denn von da an nahm die grosse unübersichtlichkeit ihren lauf.

die stadt der unklaren rechtsverhältnisse
die durchsetzung der reformation brauchte im erguel 80 jahre. 1610, als man soweit war, galt weder das wort des katholikenführers, der nach porrentruy geflüchtet war, viel, noch das der reformiertenführer in biel. das enteignete kloster hatte zwischenzeitlich im eidgenössischen solothurn zuflucht gefunden, und militärisch hatte man sich der erfolgreichen stadt bern angeschlossen. dank uhrenindustrie, vom neuenburgischen la chaux-de-fonds her eingeführt, war man seit dem 18. jahrhundert zudem in der lage, regelmässig gegen die herrschaft des basler fürstbischofes zu rebellieren, – und sich nach gewohnheitsrecht selber zu verwalten.

1815 verfügten die grossen aus österreich, russland und preussen, dass man in erguel und in st. imier schweizerisch werden sollte. zu bern hatte der süden konfessionell und militärisch beziehungen aufgebaut. mit der industrialisierung hatte auch die einwanderung aus bern eingesetzt. das alles fehlte dem nördlichen teil des ehemaligen fürstbistums, der katholisch geblieben, und wirtschaftlich rückständig geblieben war. in den volksabstimmungen zur gründung des kantons jura 1979 votierte man denn auch entsprechend, sodass man trotz ausgeprägt eigener politische logik in st. imier heute immer noch lieber mit berner als jura kennzeichen durch die stadt autofährt.

ein eigenes studium der verhältnisse wert
es ist tatsächlich so: dank uhren wie longines aus st. imier kann man bei ski- oder autorennen jeden ablauf der unmittelbarsten gegenwart in tausend teile gliedern, um zu bestimmen, wer sieger und wer verlierer ist. um die politische kultur der stadt st. imier zu begreifen, muss man sich schon kräftig hinknien. denn sonst versteht man das unikum im berner jura nicht.

lohnen tut es sich auf jedenfall, sagt der

stadtwanderer