der grosse abwesende

eigentlich hätte heute der dalai lama tenzin gaytso in bern sprechen sollen. doch er hatte sich schon im voraus krankheitshalber entschuldigen müssen. schade, seine menschliche wärme im religiösen wie auch politischen diskurs hätte gut getan.

die einladung zum besuch der stadt hatte der berner gemeinderat ausgesprochen. wohl hoffte die stadtregierung, sich so dieses jahr nach dem holländersturm ein zweites mal in der orangenen menge sonnen zu können. doch daraus wurde durch die freundliche, aber verbindliche absage, die der dalai lama wegen seiner erschöpfung der bundesstadt erteilen musste, nichts.

wäre der dalai lama heute persönlich da gewesen, wäre das “stadtgespräch” im berner kornhaus, das dem thema “politik und religion” gewidmet war, sicherlich inspirierter ausgefallen. arthur k. vogel, chefredaktor des berner “bund”, begründete einleitend zurecht die begeisterung für den dalai lama mit dessen umfassenden ausstrahlung politik und religion beseele und den menschen hoffnung gebe. das negierte selbst die feministische theologin sophia bietenhard nicht, auch wenn sie im dalai lama weniger eine religiöse instanz sieht, sondern ihm als spirituellen führer versteht. hektor leibundgut von der zeitschrift reformatio sieht im dalai lama den vertreter eine unverbrauchten religion, die anders als das christentum frieden nicht nur predige, sondern auch lebe.

die diskussion machte einen weiten bogen, während dem im wahrsten sinne über gott und die welt gesprochen wurde. dabei kamen die unterschiede zwischen den religionskulturen zum vorschein, seien sie nun buddhistisch, jüdisch, islamisch oder christlich geprägt: vom hohen stellenwert der aufklärung bei uns war mehrfach die rede, von den menschenrechten als moralisch-rechtlicher grundlage der politik ebenfalls, und schliesslich auch von der trennung von kirche und staat und dem laizistisch geprägten volksschulwesen. das alles wurde als errungenschaften des kulturellen fortschritts gewürdigt, der religionsfreiheiten, toleranz und pragamtismus im öffentlichen diskurs erst ermöglicht hat, ohne dass man sich dem nützlichkeitdenken der ökonomie verschlossen habe.

die probleme damit sah der katholisch erzogene journalist vogel am ehesten beim islam, derweil die kirchenleute die fundamentalitischen tendenzen in der eigenen gesellschaft kritisierten, seien es nun die radikale säkularisierung in europa oder die evangelikalischen strömungen in der angelsächsischen welt. dabei war unüberhörbar, dass die beiden vertreter der reformierten landeskirche resp. des evangelischen glaubens lieber über das verhältnis von religion und politik als vom umgekehrten sprachen. es schwang auch unübersehbar das leiden am bedeutungsverlust von kirchen, religionen und konfession in der rational-funktionale gesellschaft mit.

auf dem heimweg dachte sich der stadtwanderer, dass es ganz gut gewesen wäre, hätte der grosse lehrer aus dem tibet heute dem vorherrschenden kulturpessimismus seine fröhlich heitere art, weisheit zu vermitteln, entgegengehalten. denn an den heutigen diskussionen vermisst er nicht nur ihn, sondern auch sein charisma, das normalerweise menschliche wärme in politische wie auch religiöse diskurse bringt.

stadtwanderer

das bild der dalai lama mit dem musiker lotem gamling der auch ohne den grossen lehrer in bern spielte