die voraussetzungen alltäglicher illusionen

zwar wurde das bewegte bild mit dem kino erfunden. die projektion farbiger bilder ist indessen älter. das museum neuhaus in biel/bienne weist in seiner sonderausstellung zur technik der illusion auf die spur: die zauberlaterne!


pietro scandolas welt der illusionen aus der zauberlaterne (fotos: stadtwanderer)

pietro scandola ist historiker. früher schrieb er in bern die universitätsgeschichte. ich kenne ihn noch aus dieser zeit. jetzt arbeitet er als leiter des museums/du musée neuhaus. sein neues thema ist die mediengeschichte. ganz überraschend habe ich ihn da wieder getroffen.

die gegenwärtige sonderausstellung heisst “die technik der illusion“. sie könnte auch “illusionen dank technik” heissen, denn es geht darum, wie träume unsere welt beherrschen und was die voraussetzungen dafür sind. entscheidend, so die these der ausstellung, sind die bewegten bilder, die man seit der wende vom 19. zum 20. jahrhundert auf den kinoleinwände sehen kann.

die zauberlaterne als kino vor dem kino
den historiker scandola interessiert es natürlich, was vor dem kino war. pietro sagt: “das kino war nicht eine erfindung der projektion farbiger bilder; es war nur eine perfektion. angefangen hat alles in der mitte des 17. jahrhunderts mit der zauberlaterne.”

dieses gerät bestand ursprünglich aus einer rauchenden petrollampe, aufgerüstet mit einer kanal, der das licht auf eine wand warf. in den kanal konnte man glasscheiben einfügen, auf die man bilder gemalt hatte. am anfang war alles statisch, dann entwickelte man techniken, wie man mehrere scheiben einfügen konnte und so auch dynamik in die projektion kam.

nochmals pietro: “wir haben internet, dvd, video und fernsehen. und wir haben farbbilder. sie sind die voraussetzungen der produktion von illusionen. der mensch des 19. jahrhunderts und davor hatte nichts davon. vielleicht waren die kirchenfenster die einzigen farbigen bilder, die man in seinem leben je gesehen hatte.

da musste die erfindung der zauberlaterne faszinieren. märchen wie rotkäppchen und der wolf waren bei den kindern beliebt. jetzt konnte man sie sehen. auch pinocchio, und erst noch, wie sein nase anschwoll. doch diente die erfindung nicht nur der unterhaltung, sie nützte auch der aufklärung kindern: was geschieht, wenn man ein geschwisterchen bekommt, liess sich so illusionieren: es fliegt der storch aufs dach, und er lässt das kindlein den kamin hinunter. und schon ist das brüderchen oder schwesterchen da!

die grossangelegte sonderausstellung

in der gross angelegten ausstellung kommen freaks der filmmaschinen oder der fotoapparaturen auf ihre rechnung. aber auch all jene, die sich erklären lassen, wie stark wir seit dem 20. jahrhundert in einer projektionswelt leben, werden begeistert sein. nicht zu vergessen sollte man die kinder, denn für sie gibt es an sonntagen ein spezielles programm, bei dem sie auf verschiedenste arten spielerisch auf den ernst des unernsten teils im leben vorbereitet werden.

ein tolles erlebnis für jung und alt, und auch für mich, das mir pietro scandola heute perfekt bilingue in biel/bienne geboten hat. ganz real übrigen …

stadtwanderer

der generalstreik – die sozialpolitische wende

vor 90 jahren wurde in der ganze schweiz fast eine woche lang gestreikt. der wichtigste sozialpolitische einschnitt in der schweizer geschichte urteilen die fachhistoriker, denen es aber nicht gelungen ist, aus den novembertagen 1918 einen populären gedenktag zu schaffen.


typisch für den generalstreik in der schweiz: robert grimm, streikführer im oltener aktionskomitee, regierte in späteren jahren als berner sp-regierungsrat konsensorientiert

der landesweite generalstreik
die woche war bewegt. das deutsche kaiserreich brach in sich zusammen. und der erste weltkrieg wurde mit dem frieden von compiègne beendet. in deutschland und österreich waren soziale revolutionen ausgebrochen. und auch in der schweiz hatte das oltener aktionskomitee zum landesweiten generalstreik aufgerufen.

bis heute gilt der landesstreik, wie er in der geschichtsschreibung meist genannt wird, als die schwerste krise des 1848 gegründeten bundesstaates. er markiert gleichzeitig auch die wende von anfänglich rein freisinnigen vorherrschaft gegen verschiedenen oppositionen hin zum parteienpluralismus im konkordanzsystem.

die wichtigsten forderungen des oltner aktionskomitees, die während des generalstreikes erhoben wurden, sind heute weitgehend realität. der nationalrat wird seit 1919 aufgrund des proporzwahlrechtes gewählt. das frauenstimm- und -wahlrecht gilt seit 1959. die ahv verbindet die schweizerInnen seit 1947. anderes, wie die 48-stunden-woche oder die sicherung der lebensmittelversorgung ist durch den fortschritt längst überholt worden. schliesslich gibt es forderungen von 1918, die bis heute in diskussion sind: die armeereform zur breiten abstützung des militärs in der gesellschaft, oder eine neue steuer für vermögende, um die staatschulden zu verringern.

die ereignisse
ausgelöst wurde der generalstreik durch die zürcher bankangestellten. es intervenierte kurz vor kriegsende die schweizer armee in zürch. das oltener aktionskomitee unter dem berner robert grimm übernahm erst jetzt die landesweite führung der streiks, die ausser kontrolle zu geraten drohten.

250000 arbeiter in 19 städten beteiligten sich am generalstreik. die missliche wirtschaftlage hatte sie mobilisiert. das gespannte verhältnis zwischen unternehmern und bauern einerseits, der arbeiterschaft anderseits, hatte polarisiert. und die grippewelle am ende des krieges hatte alle hemmungen, in bisher nicht bekannte formen des sozialpolitischen kampfes vorzudringen, schwinden lassen.

doch sollte er nicht lange dauern. denn bereits in der nacht auf den vierten streiktag schickte das oltener aktionskomitee per telegramm die kapitulation an den bundesrat und forderte es die streikenden auf, die arbeit wieder aufzunehmen. am montag der neuen woche war es überall soweit.

die würdigung
die kurze phase der illegalen aktionen war damit auf dem höhepunkte der emanzipationsbestrebungen der schweizerischen arbeiterschaft abgeschlossen, urteilt willy gautschi, der (verstorbene) historiker, der sich am ausführlichsten mit den ereignissen vor 90 jahren beschäftigt hat. dank der voll ausgebauten demokratie in der schweiz habe sich das bewusstsein in der überwiegenden mehrheit des volkes durchgesetzt, “dass sich irgendwelche änderungen der politischen struktur im rahmen der demokratischen freiheiten mit legalen mitteln zu vollziehen hätten.”

der bürgerliche staat wurde in der folge nicht wie im kommunismus abgeschafft. vielmehr wurde er durch sozialdemokratische ideen beeinflusst reformiert. man kann den generelstreik in seinen folgen als die eigentlichen sozialpolitische wende in der schweiz bezeichnen. der wandel gilt auch für die gesellschaft, in die die bisher als vaterlandslose gesellen verschriene schweizer arbeiterschaft so gut aufgenommen wurde, dass es heute den gewerkschaften fast angst und bange wird.

die novembertage 1918 in den schweizer städten sind denn auch ein wesentlicher einschnitt nicht nur in der europäischen, sondern auch in der schweizer geschichte. “Die eidgenössische Demokratie als Staatsform gegenseitigen Vertrauens hatte sich bewährt, doch war gleichzeitig klar geworden, dass sie uns nicht als feste grösse für alle Zeiten geschenkt ist.” dem urteil von gautschi ist eigentlich auch heute nicht beizufügen, selbst wenn die offizielle schweiz diesen erinnerungstag, einmal mehr, durch das tagesgeschehen gezeichnet, fast vollständig vergessen hat.

stadtwanderer