“gott selber ist tot.”

postautofahrt von hinterkappelen nach bern das wetter ist gut, die berge sind nah, und das jungfraujoch ist immer eine reise wert. doch das gegenwärtig klima in wirtschaft, politik und gesellschaft ist schlecht. und das regt nebst ausflugswünschen auch philosophische diskussionen und gedankengänge an.

p2280753-300x2252“das göttliche ist verschwunden”, meint meine sitznachbarin im poschi. drei millionen jahressalär, um die ubs vielleicht zu retten, ist eindeutig zu viel, ist ihre meinung. schon ein million sei schwer auszugeben, bei dreien sei das gar nicht mehr möglich. die ältere dame ist enttäuscht. denn in den alterheimen könne man den kranken das essen nicht mehr eingeben, weil personalmangel herrsche. der sei die folge von sparprogrammen. und die wiederum würden nur gemacht, damit die reichen noch reicher würden. so wie der deutsche, der neu an der spitze der ubs stehe.

***

“die zehn gebote für das bankgeheimnis”, lese ich auf dem heutigen aushang der nzz, und fahre damit nahtlos beim thema religion und wirtschaft weiter. der grosse leitartikel hierzu ist in der laufenden neuausrichtung der schweizer bankgeheimnispolitik bemerkenswert: deshalb sei er hier verkürzt wiedergegeben.

erstens, wer gut verhandeln will, muss wissen, was der andere will. nur wer fähig ist, sich in die lage des gegenübers zu versetzen, kann einschätzen, wo dessen verhandlungsbereitschaft endet.

zweitens, die bisherige unterscheidung zwischen dem willentlich begangenen steuerbetrug und der steuerhinterziehung als folge von vergesslichkeit wird von vielen nicht verstanden, geschweige denn akzeptiert.

drittens, die reduktion dieses graubereiches muss verknüpft werden mit einer ausdehnung der rechtshilfefähigkeit, für alle betrügerischen fälle.

viertes, das bankgeheimnis als zentrales rechtsgut der gesellschaftsordnung, die auf individueller privatsphäre aufbaut, muss auch innerschweizerisch effektiver gegen missbrauch geschützt werden.

fünftens, in zeiten leerer staatskassen sind rechtsstaatliche erwägungen immer mit vorzeigbaren finanziellen erfolgen für drittstaaten zu kombinieren.

sechstes ist zu prüfen, ob und wie das entgangene steuersubstrat für drittstaaten auch rückwirkend greifbar gemacht werden kann.

siebtens, die schweiz muss verstösse gegen das gesetz exemplarisch bestrafen, und zwar unabhängig davon, ob eine bank systemrelevant ist oder nicht.

achtens, die finanzmarktaufsicht muss die funktionalität von banken prüfen, während die nationalbank für die stabilität der volkswirtschaft zuständig ist.

neuntens, die schweiz braucht internationale netzwerke, welche den innenpolitischen druck in staaten, mit denen man in verhandlung steht, aufbauen können.

zehntes, es gilt rasch zu entscheiden, um unkontrollierte unfälle zu vermeiden.

***

vor gut zweihundert jahren schrieb georg friedrich hegel, nur kurze zeit nachdem er an der berner junkerngasse gelebt hatte, vom „unendlichen Schmerz“ das den heutigen mensch als gefühl befalle und die basis sei, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot“.

und so bleibt meine frage: ist die voraussicht des grossen deutschen philosophen an der schwelle zur neuesten zeit so gut gewesen, dass sie heute zurecht bis in die schaltzentralen der bankenwelt, die redaktionsstuben des liberalen weltgeistes und in den morgenklatsch im postauto von hinterkappelen nach bern vorgedrungen ist?

stadtwanderer

alle reden vom wetter. ich auch.

wo man nur hinhört: alle reden vom wetter. das macht nun auch der stadtwanderer. aber auf seine art!

weather_report_1_175die amerikanische tiefdruckzone, die seit monaten ununterbrochen anhält, erreichte am donnerstag erneut die schweiz. sturm “barack” fegte über das ganze mittelland. sehr starke winde verzeichnete man vor allem im zentrum von zürich, wo es auch zu ausgiebigen schauern kam.

dem rasch anschwelenden hochwasser konnte vorerst niemand herr werden, sodass die überschwemmungen beispielsweise an der bahnhofstrasse selbst teile der obersten etagen der gebäude erreichten. angaben zur schadenssumme liegen noch nicht in verbindlicher form vor, gehen wohl aber in milliardenhöhe.

im verlaufe des vormittages gelang es, das hochwasser zügig abzupumpen, sodass das für alle fälle parkierte rettungsboot “grübel” vom paradeplatz aus die evakuierung der verbliebenen insassen im stadtzentrum vornehmen konnte. das schweizierische rote kreuz nimmt sich den geretteten in gesicherten sozialunterkünften ausserhalb der gefahrenzone an, und die glückkette ruft die ganze bevölkerung auf, spenden für die notleidenden auf das konto “ubs 2009” einzubezahlen.

auch in bern konnten die lawinenniedergänge wieder leicht ab. entwarnung kann jedoch inbesondere im umfeld des bundeshauses nicht gegeben werden, da sich über brüssel ein neues unwetter “ferrero-küsschen” aufbaut, mit dem aufgestauten schnee von gestern und vorgestern niedergehen dürfte. dessen ausläufer werden schon bald jede ecke der schweiz nördlich und südlich der alpen erreichen.

seit mittwoch morgen wird die angespannte lage in der bundesstadt von der task force “ankenplatz schweiz” kontinuierlich beobachtet. befürchtet wird angesichts des freundlichen klimas in ausgewählten butteroasen amerikas, europas und asiens, die wie geschmiert funktionieren, dass der schweizer anken schnell dahin schmelzen könnte. um unnötige verwechslungen dieser neuartigen entwicklungen mit dem allgemeinen klimawandel zu vermeiden, verzichtet man bis ende merz darauf, die intern vorliegenden berichte zur lage der nation mitzuteilen. selbst das wirbelstürmchen “leuthard” der gestern kurz über dem medienzentrum fegte, ändert an dieser prinzipiellen haltung nichts.

die aussichten für die nächsten tagen und wochen bleiben im ganzen land trotz frühlingshafter jahreszeit getrübt. bis anfangs april rechnet man damit, dass sich ein heftige gewitter (das provisorisch den namen “brown” trägt) aus london, paris, berlin und rom die situation in der schweiz neu aufmischen wird. die temperaturen könnten erneut weit unter den gefrierpunkt sinken, und an allen exponierten lagen ist mit anhaltendem glatteis zu rechnen.

bern stadtpräsident alex tschäppät empfiehlt deshalb, eishockey-ausrüstungen zu kaufen, jeden tag fleissig zu trainieren, um den arbeitsplatz bern zu erhalten, und mit einem feierabendbier den konsum nicht absacken zu lassen. am globalen turnier der besten bodychecker im mai dieses jahres werde man dann sehen, dass die schweiz allen stürmen zum trotz der ganzen welt zeigen könne, wer hier der meister ist, sagt der stadtpräsident, und schweigt danach wieder!

stadtwanderer

nun sind wir selber das schwarze schaf

ich wollte nie mehr über das berühmt-berüchtigte plakat aus dem jahre 2007 schreiben. doch jetzt kann ich nicht mehr anders.

2561252664_88b19dc2b7schwarze schafe: ein phänomen der natur, das unsere aufmerksamkeit erreicht. aber keine denkschablone, die geeignet ist, soziales und politisches verhalten zu legitimieren.

august 2007 in der schweiz und in der welt
die svp startete die hauptphase ihres wahlkampfes mit dem schäfchenplakat. die weissen schafe stossen das schwarze aus, will heissen: die unfehlbaren schweizerInnen schliessen die kriminellen ausländerInnen aus.

die polarisierung sass in zeiten des wahlkampfes. hüben und drüben diskutierte man das svp-weltbild: einheimische gegen fremde, gut gegen böse, weisse gegen schwarze, bleibende gegen ausgeschlossene.

das plakat sei ungerecht, schädige den ruf der schweiz im ausland, schaffe selber unsicherheiten, meinten die opponenten, noch bevor es wegen seiner pauschalen verurteilung vom ausland her als rassistisch kritisiert wurde. schliesslich zog es die partei zurück und ersetzte es durch die blocher-affiche zu seiner widerwahl im bundesrat.

das sujet des svp-plakates wurde in der folge im ausland x-fach nachgeahmt. in der rechtskonservativen szene erhielt es kult-status. und im gesellschaftlichen umgang wurde das ausstossen zu einer nicht mehr verpöhnten verhaltensweise.

februar 2009 in der welt und in der schweiz
die amerikaner und europäer kritiseren das schweizer bankgeheimnis hemdsärmlig. es lasse steuerhinterziehung im grossen masse zu, ist der heftig vorwurf. die aktuellen wirtschaftslage zwinge, die privilegierung der reichen auszuschliessen, war die sachliche botschaft.

vorgetragen wurde sie indessen im stil des svp-plakates. die schweizer als schurkenstaat. die schweiz als steueroase. die schweiz als hort der gesetzesbrecher.

der g-20 gipfel reagierte, wie wenn er bei der svp nachhilfestunden genommen hätte. mit dem feind verhandelt man nicht. vielmehr lässt man ihn vor die tür.

selbst die sprache gleicht sich an: jetzt ist die schweiz der weisse fleck auf der landkarte, den es nicht mehr geben dürfe, meinte am sonntag die bundeskanzlerin merkel. trockelegen will man die wasserreichen stellen, bis nur noch die wüste bleibt, hiess es aus london.

die lehre aus dem vergleich für die schweiz, oder teile von ihr
es bleibt nur ein schluss. ohne dass sie es richtig gemerkt hat, ist die schweiz das schwarze schaf geworden. jetzt ist sie die abweichlerin, die man nicht mehr tolerieren will, die böse, gegen die man zu gerichte sitze, die ausgeschlossene, welche die macht zu spüren bekommt

der machanismus ist vergleichbar. denn der nötige respekt geht in beiden fällen vor die hunde, wenn das wort erlaubt ist. für die schweiz wäre es der moment, über sich selber nachzudenken: wie sie, oder teile von ihr, mit ländern umgeht, die man an unterlegene betrachtet, wie sie, oder teile von ihr, mit menschen umgeht, die ihr recht auf eigensinn gegen die pflicht auf anpassung verteidigen, wie sie, oder teile von ihr, erwarte, dass man sie betrachtet, selber wenn man unterlegen ist, und wie sie, ohder teile von ihr, darauf pochen, sich selber definieren zu dürfen, selbst wenn der mainstream in eine ganz andere richtung geht.

stadtwanderer

sprengt die käseglocke!

letzten sommer, als ich in den schwedischen wäldern in der ferien war, fragte ich eines abends unsern nachbarn abseits aller zivilisation: “was gibts neues?” ohne zu zögern antwortete er mir: “die schweiz möchte beim gipfel der wichtigsten industrienationen eingeladen werden, doch sie wird es nicht!” ich zuckte mit den achseln, um mir sagen zu lassen: “das bedeutet, es gibt schwierigkeiten mit der ubs im ausland.”

kaeseglocke_39_20061in der schweiz angekommen, konfrontierte ich einige meiner wichtigsten bezugspersonen aus dem privaten und beruflichen umfeld mit der news. alle zuckten sie mit den achseln, wie ich es einige tage zuvor getan hatte, und wandten sich gängigeren themen zu. was für ein irrtum, sagte ich heute!

denn wir schweizerInnen haben es schlicht verpasst zu beobachten und zu analysieren, wie radikal sich fremd- und selbstbild der schweiz in den letzten monaten auseinander entwickelte. in den usa lief der wahlkampf auf hochtouren und brachte barack obama ins präsidentenamt. gemeinsam mit carl levin hatte er noch als senator einen vorstoss im amerikanischen parlament eingebracht, die kapitalflucht in steueroasen zu stoppen. heute ist das weltweite politik. selbst der weltfinanzgipfel, nur wenige tage nach der wahl des demokraten an die spitze der usa in washington stattfindend, teilte die auslegeordnung obamas. gordon brown, der britische premier, unterbreitete im november 2008 einen vorschlag für eine neue globale finanzarchitektur, deren ziel es ist, weitere krisen des bankenwesens, wie wir sie seit september 2008 erleben, zu verhindern. frankreichs sarkozy schloss sich ihm rasch an, und mit etwas verzug folgten andere wichtige industrienationen wie deutschland und italien.

als ich am 22. november in innsbruck an der tagung “wirtschaft und kultur” war, öffnete mir das kaffeegespräch an der uni die augen auf die schweiz. locker sprach der sponsor, ein konservativer europäer, darüber, dass die zeiten des alten bankgeheimnisses vorbei seien. 2,7 billions dollar vermögen, welches die ubs verwalte, werde die bank nie und nimmer halten können. liechtenstein, von wo mein gesprächspartner kam, haben nur als wehrloses vorspiel gedient. das hauptspiel werde sich gegenüber der schweiz abspielen.

diese woche haben wir erlebt, wie schlagartig sich diese prophezeihungen erfüllten. die völlig unvorbereitete schweizer öffentlichkeit, regierung, parlament, medien, aktionäre und bürgerInnen staunten nicht schlecht, als sie am dienstag abend indirekt erfuhren, der ubs sei in den usa ein dreitägiges ultimatum gestellt worden, das in der nacht auf mittwoch ablaufe. entweder liefere die ubs kundendaten aus steuerbetrugsfällen, oder ihr drohe ein strafklage. für die schweizerische politik hiess das wiederum, ritzen des bankgeheimnisses oder kollaps der ubs.

seither ist der eindruck entstanden, die schweiz werde erpresst. das bestätigt heute in der sonntagszeitung auch der bankenfachmann der uni st. gallen, beat bernet. um allerdings selbstkritisch beizufügen, “weil wir es versäumt haben, rechtzeitig unsere Strategie zur Positionierung des Finanzplatzes in einem fundamental veränderten politischen Umfeld anzupassen.” der professor warnt, nun eine aussichtslose abwehrschlacht gegen die usa, die eu und die oecd zu führen. vielmehr empfiehlt er der schweiz, davon auszugehen, dass nichts mehr so sei, wie man meine. dass man nicht das bankgeheimnis per se aufgeben solle, aber den schutz der privatsphäre von kunden neuen definieren müsse, denn die schweizerische untescheidung von illegalem steuerbetrug und legeler steuerhinterziehung decke illegales handeln. er erwartet, dass die schweiz jetzt jenseits emotionaler empörung in der lage ist, rasch eine rückzugsposition zu definieren, die verhandlungen mit dem ausland zulässt, gleichzeitig aber sagt, bis hierher und nicht weiter.

und ich füge bei: kippt endlich den mentalen schutzschild, unter der wir unsere schweizer selbstgerechtigtkeit feiern, ohne zu merken, dass das was in der glocke geschieht immer weniger zu tun hat mit dem, was ausserhalb passiert. keine beleidigten leberwürste sind jetzt gefragt, sondern eine selbstbewusste vertretung von legitimen interessen der schweiz gegenüber legitimen interessen der usa oder der eu. es braucht keine sonnenbrillen, die das gegenwärtig grelle licht auf steueroasen wie die schweiz verdunkeln, sondern weitsicht und bereitschaft, im innern für ordnung zu sorgen, um weiterhin nach aussen zu bestehen.

sprengt die käseglocke über der schweiz, rufe ich. oder besser noch: geht nach schweden in die ferien, wo die waldmenschen das sich rasch ändernde geschehen auf dieser welt sorgfältig und aufmerksam verfolgen, und schon im letzten sommer wussten, was wir diese woche als schauerliches theater vorgeführt bekommen haben und was heute in den schlagzeilen der schweizer tagesschauen steht.

chapeau, honza!

stadtwanderer

nun auch orange schwäne

tierisch, wie die schweizer bankenwelt kopf steht. nach den schwarzen schwänen des ausgestiegenen wall street traders nassim taleb bescheren uns die verbliebenen ubs banker orange schwäne. kein witz, aber ein unerwarteter bericht zum darwin jahr.

schwanbild: jens rusch

die ubs, in den usa massiv unter druck, übermittelte in der nacht vom dienstag auf den mittwoch der us-justiz daten von 250 kunden, die bisher als vertraulich galten. ohne das, hätte ihr eine strafklage gedroht, mit dem ziel, dem schweizer geldhaus in den usa die banklizenz zu entziehen. mit dem kurswechsel kassierte die ubs in florida allerdings eine klage, mit der weitere 52’000 ubs-konten im wert von 17 milliarden dollar wegen verdacht auf steuerhinterziehung untersucht werden sollen. die ubs will sich in diesem fall mit juristischen mitteln wehren.

doch das ist es nicht wirklich, was meine aufmerksamkeit gerade erregte. vielmehr ist es eine notiz der us banker an die zentrale, welche die new york times aufgrund bankinterner mails verbreitet. darin heisst es, die “swiss solution” könne wohlhabenden amerikanern helfen, gelder via briefkastenfirmen in steueroasen wie den bahamas vor den us-behörden zu verbergen. die summen, die so verschoben werden sollten, werden nicht wie üblich in dollar, euro, pfund oder franken angegeben. vielmehr verwendete man dafür einen geheimcode.

wer eine million bei der ubs parkierte, übergab ihr einen schwan. und wer das in euro machte, versteckte bei der ubs einen orangen schwan. 10 organe schwäne waren als 10 million euro.

und so sind wir zum 75. geburtstag des schweizerischen bankgeheimnisses eine lektion aus der wundersamen bankenwelt reicher: die schwarzen schwäne, die der ehemalige trader taleb als stichwort für bisher unbekannte phänomene mit grosser wirkung, aber unbekannter ursache erfunden hat, mutieren demnach munter weiter. denn jetzt sind die orangen schwäne auch eine art schwarze schwäne. niemand weiss, wie sie auf die welt, kamen, plötzlich sind sie aber da, und sie dürften bald schon für einen solchen wirbel sorgen, der auch vor der schweiz nicht halt machen wird. dass nennt man dann wohl in darwins sinne die neue evolution!

übrigens: ein sack voll blauer nüsse ist noch viel mehr wert als eine gruppe oranger schwäne. denn jede dieser frucht ist im jargon 250 millionen britische pfund wert. doch auch diese nuss wollen die richter in florida knacken!

stadtwanderer

“Ach, ihr Franzosen schiesst schlecht!”

diese worte werden andreas hofer bei seiner exekution am 20. februar 1810 in den mund gelegt. gesicherte belege dafür gibt es allerdings nicht, doch finden sie sich bis heute in der tiroler landeshymne. mit grund, denn hofer ist den tirolern bis heute nicht gleichgültig. ein “nationalheld” für die einen, der “oberste taliban” für die andern, ist er.

20_02_1810-die-erschiessung-von-andreas-hofer-in-mantua_120. februar 1810: die erschiessung des andreas hofer nach der niederschlagung des konservativen tiroler volksaufstandes von 1809 gegen bayern.

andreas hofer war sein leben lang wirt und viehhändler im tiroler ort st. leonhard, bevor er vor genau 200 jahren zum wild entschlossenen kämpfer wurde. vordergründig ging es gegen die herrschaft der bayern, welche die tiroler provinz im sinn von kaiser napoleon verwalteten. hintergründig drehte sich aber alles um vormachtstellung der katholischen kirche, die man bei dieser gelegenheit im geiste der aufklärung gestutzt hatte.

ausgelöst wurde der protest im winter 1809 durch eine pockenimpfung, gegen die sich erzkonservativen kapuziner wehrten. in ihren augen war das ein unerlaubter eingriff des menschen in gottes plan waren. die darauf folgende zwangsaushebung von rekruten durch den bayrischen könig brachte im frühling desselben jahres das fass zum überlaufen: nun sammelte andreas hofer zur antibayrischen volksbewegung, die in weniger als einer woche herrin der lage in innsbruck wurde.

das ganze jahre tobte der kampf, und der scheinbare sieg wechselte mehrfach die seite. hofers leute besiegten insgesamt dreimal die bayrisch-französischen truppen. erst als der winter wieder kam, brach die widerstandskraft der tiroler ein. hofer musste flüchten, wurde von österreichern, die mit dem kaiser der franzosen, verheiratet mit den habsburgern, paktierten, verraten, nach mantua in italien ausgeliefert, von einem kriegsgericht zum tod verurteilt und vor genau 199 jahren exekutiert. seit 1823 liegt er in der innsbrucker hofkirche begraben, in unmittelbarer nähe des “tiroler” kaisers maximilian I.

in der schweiz ist andreas hofer kaum je ein thema gewesen. im tirol, in bayern und im italienischen südtirol lässt er aber bis heute kaum jemanden kalt. dabei polarisiert er zusehens, denn der zeitgemäss wirkenden freiheitswillen hofers kontrastiert mit dem auffälligen antimodernismus des bartträgers an der schwelle zum 19. jahrhundert.

siegfried steinlechner, der dem mythos “andreas hofer” nachgegangen ist, veröffentlichte im jahr 2000 eine kritische würdigung der wichtigsten figur in der neueren tiroler geschichte. hofer sei von den zeitgenossen eher belächelt worden, schreibt er. erst mit dem aufstieg der deutschnationalen im tirol sei er zur unbestrittenen figur des tiroler widerstands stilisiert worden. höhepunkt seiner verehrung war jedoch die zeit der nationalsozialisten, die ihn als verteidiger des germanischen gegen das leateinische.

1984 erlebte der mythos andreas hofer ein eigentliches revival. anlass war der 175. jahrestag des aufstandes, den die schützen im tirol mit einem umzug unter einer übergrossen dornenkrone kraftvoll inszenierten. das wiederum provozierte die intellektuellen, sodass von innsbruck aus jene bewegung einsetzte, aus denen schliesslich die tiroler grünen hervorgingen. 2004 kam es erneut zu einer auseinandersetzung zwischen traditionelistischen schützen und den linksgrünen, die den text zum adreas-hofer-lied eabgeändert hatten. der mobilisierte landtag vermittelte. in der debatte nannte ein grüner vertreter hofer “obersten taliban” des tirols, wofür seine fraktion vom konservativen landeshauptmann verbal eine “links und rechts um die ohren geschmiert” bekam.

2009 ist wieder ein andreas-hofer-jahr, das nun auch den stadtwanderer herausfordert. denn er ist ende april ins land nördlich und südlich des brenners eingeladen, um über andreas hofer, seine zeit und seine wirkungsgeschichte zu berichten. das beret wird er dabei haben, nicht um besser zu schiessen, aber um besser zu verstehen, was die franzosen einst im tirol auslösten, und, was ein konservativer revolutionär ist, der hierzulande höchstens noch als konterrevolutionär durchginge …

stadtwanderer

sternstunden der geschichte

“Was ist denn eine Sternstunde?”, fragt Momo. “Nun es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke”, erklärt Meister Hora, “wo es sich ergibt, dass alle Dinge und Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinaus, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, so dass etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre. Leider verstehen die Menschen sich im allgemeinen nicht darauf, sie zu nützen, und so gehen Sternstunden oft unbemerkt vorüber. Aber wenn es jemand gibt, der sie erkennt, dann geschehen grosse Dinge auf der Welt.”

41wbee6p8ql__sl500_aa240_michael endes kinderbuch “momo” kennen viele. weniger bekannt ist dagegen das buch des deutschen historikers alexander demandt, das unter dem titel “sternstunden der geschichte” erschien. der berliner autor wagt es, einen blick auf das ganze zu werfen, dass heisst auf jene momente der menschheitsgeschichte, in denen “grosse Dinge auf der Welt” geschahen. alexanders rückkehr nach babylon, augustus’ begründung des patriziats, die geburt jesu in bethlehem, mohammeds stiftung des islams, die kaiserkrönung karls des grossen, die magna charta libertatum in england, die entdeckung amerikas durch kolumbus, luther auf dem reichstag zu worms, die unabhängigkeitserklärung der vereinigten staaten, die öffnung japans gegenüber der welt, gandhis salzmarsch und die erklärung der menschenrechte zählt demandt hierzu. und, da er die vortragsreihe in berlin zur jahrtausendwende hielt, fügte er den fall der berliner mauer – etwas unvermittelt – als 13. sternstunde hinzu.

doch was sind sternstunden der geschichte? – grimms wörterbuch meinte vor 200 jahren, es seien schicksalsstunden, “die über glück und unglück” entscheiden würden. doch das buch ist dennoch keine abhandlung weder über astrologie noch über astronomie. vielemehr geht es um sterne und unsterne. denn vom schatten in der geschichte werde viel gesprochen, ohne dass man sich um das licht in der vergangenheit kümmere, bilanziert demandt das tun seiner profession.

eine reife antwort auf seine anfangsfrage findet der autor in immanuel kants “idee zu einer allgemeinen geschichte in weltbürgerlicher absicht“. um den leitfaden gehe es dem historiker, der dem ziel diene, die vollkommene bürgerlicher vereinigung in der menschengattung zu befördern heisst es da. also handeln sternstunden der geschichte von den seltenen ereignisse, die faktisch oder symbolisch als meilensteine am weg zur weltgesellschaft gesehen werden dürfen. denn sie sind die schlüsselszenen für eine menschenwürdige zukunft, die man sich erhoffen müsse, auch wenn man sie nicht erwarten dürfe. weil geschichte nun einmal nicht im himmel spiele.

um sich auf erden orientieren zu können, müsse man die sterne studieren, fügt demandt bei. dieses studium lohnt, gerade in momenten der faktischen oder symbolischen dunkelheit, sagt sich der

stadtwanderer

mehr schwarze schwäne als uns lieb ist

nein, das ist keine fortsetzungsgeschichte zu jener über die schwarzen schwäne auf dem wohlensee. vielmehr geht es um ein fast schon philosophische thema.

41-dzerognl__bo2204203200_pisitb-sticker-arrow-clicktopright35-76_aa240_sh20_ou03_“das buch zur heutigen zeit, aber ohne die nötige tiefe”, meint der stadtwanderer

stöbert man durch die beststellerlisten in berns buchhandlungen, stösst man sei geraumer zeit fast unweigerlich auf das buch des libanesischen mathematikers nassim taleb. “der schwarze schwan” heisst es. wer darin liest, merkt bald, dass der titel nur als metapher für unseren umgang mit phänomenen wie google, dem 11. september oder ausbruch des ersten weltkrieges dient.

diese und andere ereignisse werden mit schwarzen schwänen verglichen, weil niemand mit ihnen gerechnet hatte. einmal da, wollen aber alle ihre erklärungen. ohne bereit zu sein, sich auf etwas neues einzustellen. und genau das ist falsch.

schwarze schwäne haben nach taleb drei eigenschaften:

sie treten überraschend auf.
sie zeitigen durchschlagende wirkungen.
obwohl man sie nicht prognostiziert hatte, gibt man vor, sie erklären zu können.

taleb, der in seiner ersten karriere risikoanalytiker war, weiss wovon er spricht. beispielsweise von der verletzlich des bankensystems. doch traut er den allwissenden kollegen finanzanalysten heute nicht mehr über den weg. ausgestiegen ist er aus diesem job, um eine zweite karriere als erfolgreicher buchautor zu beginnen. die hat ihn nun zum professor in der wissenschaft der unsicherheit gemacht.

sir raimund popper, der grosse wissenschaftstheoretiker des 20. jahrhunderts, meinte noch, dass man alles erklären und damit auch alles prognostizieren kann. taleb ist da radikaler. er sagt, was man nicht prognostizieren kann, soll man sich auch nicht (vorschnell) erklären wollen. obwohl es eintrifft.

in talebs worten täuschen wir uns da, weil wir geneigt sind, in schlüssigen geschichten zu denken. neue fakten werden darin integriert, ohne zu fragen, ob die geschichte zutrifft oder auch nicht. denn intuitiv ist die vergangenheit unser modell für die zukunft. genau das geht tabel auf den keks.

denn die realität, sagt taleb, ist anders. unberechenbar, deshalb auch immer wieder überraschend. weil sie letztlich chaotisch funktioniert.

“Es gibt nur wenige herausragende Wirtschaftspublizisten. Und es gibt noch weniger ausgezeichnete Wirtschaftsbücher. Deshalb ist es eigentlich unwahrscheinlich, ein ausgezeichnetes Wirtschaftsbuch von einem herausragenden Wirtschaftspublizisten zu finden. Taleb ist dieser schwarze Schwan.”

das ist schon fast zu viel des guten für das buch zum zeitgeist der finanzkrise. denn in meinem studium als historiker bin ich auf eine andere metapher gestossen, die mir nachhaltig in erinnerung geblieben ist. gerade heute erinnere ich mich ihrer, und merke ich, dass sie mir viel weniger trendig erscheint als taleb postmoderne neuformulierung.

das neue an der moderne ist, schrieb der verstorbene deutsche historiker reinhard koselleck, dass der erwartungshorizont erstmals grösser geworden ist als der erfahrungsraum. lebten die menschen früher mit der vergangenheit vor augen und reichte das aus, um alles was kommt, zu verstehen, ist es für den modernen menschen essenziell, sich immer wieder auf neue zukünfte, die nicht mit den bisherigen vergangenheiten erschlossen werden können, einzustellen.

schwarze schwäne, auf welchem see auch immer sie auftreten, erinnern uns seit geraumer zeit unfreiwillig daran, dass es in unserem leben mehr anlässe dieser art gibt, als uns meist lieb ist.

stadtwanderer

freier schwanenverkehr vs. freier personenverkehr?

das wissen alle: schwäne sind weiss. und das weiss der stadtwanderer seit samstag nachmittag: die schwäne auf dem wohlensee sind schwarz. das sorgt seither für eine heftige kontroverse unter naturschützerInnen und politikerInnen.

topelement5schwarze schwäne, auf dem thurnersee, machen ernst mit dem freien schwanenverkehr, und wollen auf dem wohlensee heimisch werden

zehn schwarze schwäne hat es seit längerem auf dem thunersee. ein vogelliebhaber importierte sie aus australien. zunächst lebten sie nur in seinem privaten gehege. doch dann entwichen sie, und seither sind sie im oberen aaretal heimisch. in thun sorgten sie schon mal für rote köpfe. schliesslich liess man sie, wo sie waren, doch dürfen sie sich nicht vermehren und nicht ausbreiten.

nun sind sich vier davon auf dem wohlensee zwischen bern und mühleberg gesichtet worden. willy joss, passionierter vogelschützer, entdeckte sie und berichtete in den berner medien. ein bereicherung seien sie für die hiesige natur, meinte er.

das wiederum sehen zahlreiche naturschützerInnen anders. sie monieren, schwarze schwäne seien in der schweiz artfremd und hätten keine natürlichen feinde. sie könnten soweit überhand nehmen, dass einheimische tierarten verdrängt würden. sie unterstützen deshalb die rückkehr der schwarzen schwäne in ihr thuner reservat.

drei wochen will der kantonale jagdinspektor den fremdlingen zeit lassen, um selber zurückzufliegen. solange will man tolerant sein, dann aber streng, denn die tiere risikieren, betäubt und gefangen genommen zu werden, damit man sie zurückschaffen kann.

selbst den berner regierungsrat beschäftigen die schwarzen schwäne zwischenzeitlich. andreas rickenbacher (sp), von der volkswirtschaftsdirektion, eigentlich für land(wirtschafts)fragen zuständig, wurde seines engagements wegen schon mal ausgebootet. urs gasche (bdp), der finanzdirektor, nimmt sich seither der sache an.

und so frage ich mich: jetzt, wo wie mit deutlichem mehr den freien personenverkehr bestätigt haben, müssen wir den freien schwanenverkehr mit drastischen mitteln eingeschränkt halten? kann man für kulturelle diversität sein, aber biodiversität ablehnen?- ich gebe zu: von naturschutz verstehe ich weniger als von politik …

stadtwanderer

madame tussauds illusionen

“Um 1765 konnte man, fals uns niemand angelogen hat, in den Gassen der alten und mächtigen Stadt Bern, ein vierjährige Mädchen namens Marie sehen, das Wäsche zur Aare trug, Brot beim Bäcker besorgte und Brennholz die Treppe hochschleppte. Sie unterschied sich in nichts von den anderen Kindern, die zu hunderten durch die Kramgasse, die Gerechtigtkeitsgasse und die Judengasse wuselten und von denen die meisten bald an Cholera, Tuberkolose, Diphterie oder schlechter Ernährung sterben würden. Marie aber überstand ihre Kindheit dank Glück, robuster Gesundheit und zärtlicher Fürsorge und lebte ein märchenhaftes langes Leben.”

450px-marie_tussaudmarie tussaud, die begründerin des wachsfigurenkabinettes in london, in berns gassen ausgewachsen, in ihrer selbstmodellierung

so beginnt der frankreich-stämmige schriftsteller alex capus, heute im schweizerischen olten lebend, sein portrait von madame tussaud, der geschäftstüchtigsten künstlerin aller zeiten und begründerin des museums “Madame Tussauds”, die am 16. april 1850 in london verstarb.

marie’s mutter, anna-maria walder, ein dienstmädchen, zog 1766 von bern nach paris zu dr. philipp curtius, einem wachsbossierer, dem sie ihr leben lang verbunden blieb. bei ihm lernte marie zeichnen und modellieren. in diesem metier talentiert, unterrichtete sie wachskunst bald schon im schloss versailles, wo sie mit vorliebe köpfe von angehörigen des französischen hochadles nachempfand. 1794 erbte sie die wachsfigurensammlung von curtius, heiratete francois tussaud, mit dem sie zwei söhne hatte, bevor sie sich von ihrem trunksüchtigen mann scheiden liess, um sich 1802 in london niederzulassen. 33 jahre später eröffnete sie, nach einigen wanderausstellungen mit ihren skurilen skulpturen, an der baker street ihr eigenes museum, in dem sie ihre wachsfiguren ausstellte. 1842 schuf sie, hochbetagt, ihr eigenes abbild als letzte selbständig modellierte büste für ihr kabinett, das heute an der marylebone road seine türen für unzählige schaulustige öffnet.

capus konzentriert sich in seinem (ersten kapitel zum) portrait von marie tussaud ganz auf ihre zeit während der französischen revolution; er schreibt: “Am Sonntag, dem 12. Juli 1789, konnte Marie die Revolution hören, wie sie trampelnd, krakeelend und singend die Rue du Temple heraufkam, laut und immer lauter wurde und schliesslich vor dem Salon de Cire haltmachte. Drei- oder fünftausend Menschen standen vor der Tür, und sie verlangten die Wachsbüste von Finanzminister Jacques Necker. (…) Zwei Tage später stürmten die Aufständischen die Bastille und eroberten die Schwarzpulvervorräte der Schweizer Garde – und damit hatten sie Paris erobert. Curtius notierte stolz: “Ich kann also sage, dass sich der erste Akt der Revolution chez moi ereignet hat.” die familie blieb den republikanern eng verbunden. die revolutionre zählten zu ihrem freundeskreis. marie soll sogar mit robespierre geflirtet und mit danton gestritten haben. und von marat wird berichtet, dass er, seiner frechen zeitungsartikel wegen polizeilich gesucht, bei marie unterschlupf gefunden habe.

so berühmt madame tussaud durch die erzeugung von illusionen mit ihren werken wurde, so wenig weiss man über ihren erzeuger. in strassburg getauft, hiess sie marie grosholtz. der elsässer joseph grosholtz soll ihr vater gewesen sein, der kurz vor der geburt von marie am 7. dezember 1761 verstarb. alex capus glaubt nicht daran, denn zur zeit der fraglichen zeugung weilte der söldner auf den schlachtfeldern des siebenjährigen krieges. vielmehr vermutet der schriftsteller, philipp curtius, der arzt aus stockach am bodensee, sei ihr vater gewesen. jedenfalls schrieb madame tussaud in ihren memoire, er sei zur stelle gewesen, als ihre mutter in not war, habe die beiden nach bern geführt, und ihm haus untergebracht, in dem seine praxis war.

ausser dass man in bern dieses haus nicht kennt. weil auch das eine von madame tussauds illusionen war?

stadtwanderer

alex capus. himmelsstürmer. zwölf portraits, münchen 2008.

die unvollendete werk des konservativen revolutionärs

wer ins berner bundeshaus tritt, muss sich entscheiden. denn links und rechts der eingangstüren stehen zwei verschiedene figuren: der chronist, der das geschehene des tages im hause für die gegenwart festhält, und der historiker, der die wirkung des geschehen aus dem rückblick für seine zeit würdigt. markus somm, in münchen, bielefeld und zürich zum historiker ausgebildet, seit 10 jahren als journalist im zürcherischen mediengeschäft wie im bernischen politikalltag tätig, müsste diese symbolik eigentlich kennen und wissen: beides zu leisten, ist ein ding der unmöglichkeit. mit seinem erstling “christoph blocher. der konservative revolutionär” versucht markus somm, stellvertretender chef der “weltwoche”, genau diesen spagat aufzulösen, – und scheitert auf halbem weg grandios.

97838588248201

geliefert wird im dicken wälzer keine analyse der schweizerischen gegenwart, wie sie unter zeithistorikerInnen und sozialwissenschafterInnen entsteht. gefragt wird nicht, was die finanziellen und kommunikativen ressourcen der heutigen parteienmacht sind. ausgelotet wird nicht, wie sich die politische kultur der konkordanz unter einfluss der svp zersetzt hat. es geht somm auch nicht um die sozioökonomischen entwicklungen und mediengesetzlichen eigenheiten, die den grasierenden populismus erzeugen. denn das ist nach seiner auffassung die sichtweise der gegner seines vorbildes, mit denen sich der autor bewusst nicht auseinandersetzt.

glücklich wird somm, wenn er über die person blocher berichten kann. die dramatische “stunde null”, die abwahl von blocher aus dem bundesrat, wird als einstieg erzählt. munter streift man dann durch die familiengeschichte der eingewanderten mittellosen blochers, bekommt das klima geschildert, in dem der pfarrersohn christoph in schaffhausen aufwächst. beredet berichtet der biograf von der rebellion, welche die studenten der 68er zeit erfasst hatte, “den blocher” aber in eine ungewöhnlicher richtung formte: ein erfolgreicher unternehmer auf den weltmärkten wurde er, ein gestrenger oberst in der schweizer armee ebenfalls, um als jung gewählter nationalrat die gemütlicher svp unter dem berner adolph ogi herauszufordern.

nach allgemeiner auffassung entstand so die neue nationalkonservative svp blochers. die ewr-abstimmung ist der unbestrittene angelpunkt, der blocher die lufthoheit über die orientierungslos gewordenen bürger verlieh, ihn den pakt mit dem teufel eingehen liess, indem er sich mit den journalisten verband, um wahlsieg über wahlsieg zu feiern, bis der frühere oppositionelle strahlender bundesrat wurde. somm zeichnet das personengeschichtlich faktenreich nach, verfängt sich dann aber in der sichtweise blochers, das wäre der moment gewesen, mit der selbstgefälltigen landesregierung gründlich aufzuräumen, um zur grossen politischen umgestaltung des landes auszuholen. ganau daran scheiterte blocher schliesslich, was für somm noch einmal mehr der sieg des kleingeister über einen genialen politiker ist, der einen geheimplan “schmidete”, um blocher hinterhältig aus dem zentrum der macht zu entfernen.

als journalist verpasste markus somm übrigens ausgerechnet diesen moment der zeitgeschichte, denn am tag der abwahl feierte er in seiner “wewo” den normalfall. deshalb gefällt ihm in seinem buch der sonderfall umso besser. die historische tat des freisinns, die staatsgründung, die wirtschaftsförderung und die schweizerischen kulturprägung, hat der sohn aus eben diesem umfeld intus, doch bricht er mit den begründern persönlich und intellektuell. krampfhaft ist er deshalb bestrebt, in der svp die legitime nachfolge der marod gewordenen fdp zu empfehlen. dafür greift er liebend gern auf die schwammige metapher im untertitel seines buches zurück: den durchbruch der konservativen revolution, in den usa vom erfolglosen politiker barry goldwater ausgedacht, vom erfolgreichen schauspieler ronald reagan vollstreckt, feiert somm dank seinem helden der gegenwart: “unter christoph blocher ist die schweizer konservativ geworden”, ist denn auch das programm des buches.

was damit in der schweiz gemeint sein könnte, wird leider nur flüchtig begründet. keine historische herleitung der sog. konservativen revolution, keine übersicht über die aktionen der blocher getreuen seither und vor allem und keine bilanz der wirkungen findet sich auf den 528 seiten. dafür werden viele einzelgeschichten präsentiert, die schliesslich kein ganzes geben wollen. weil die konservative revolution in der schweiz nie stattgefunden hat, ist man geneigt zu sagen.

wichtiger als der tatbeweis ist dem autor, im gefolge der grossen ideologischen wende des westens am ende des 20. jahrhundert zu schreiben. dabei entgeht ihm fast, dass wir heute im 21. jahrhundert leben, und barak obama den von der finanzkrise geschwächten neokonservativen in den usa den todesstoss versetzt hat. am schluss des manuskriptes zweifelt der schreiber aus der schweiz allerdings selber, was er herausgefunden habe. und so bleibt ihm nur der widerruf der ankündigung auf der titelseite: unvollendet sei sie, die revolution des schweizer konservativen, hält markus somm fest, um die durchhalteparole durchzugeben: blocher wird nach der gescheiterten wiederwahl in den bundesrat kein politisches amt mehr inne haben, seinen auftrag aber nie vergessen. die revolution kommt also doch noch!

“Dieses Buch wird ein Mist!”, muss der autor in der autorisierte biografie den biografierten zitieren. “Sie konzentrieren sich auf die Frage, warum ich abgewählt worden bin. Das scheint mir die falsche zu sein”, gibt somm im epilog einen dialog in herrlibergs stube wieder, ohne emanzipiert genug zu sein, um wenigstens auf dem papier einen überzeugenden gegenstandpunkt zu entwickeln.

das kann ein chronist wie markus somm auch gar nicht, der seinen duzfreund propagiert, denn die nähe zum geschehen ist zu gross, selbst wenn sie durch ein “sie” in allen zitaten kaschiert wird. für dieses buch hätte es einen erfahrenen historiker gebraucht, der nicht nur zeitgeschichte, politik und kommunikation von der pike auf kennt, sondern mit der nötigen unbefangenheit und grossen menschenkenntnis ans werk geht. denn christoph blocher ist viel zu wendig, viel zu clever, und viel zu eigensinnig, um von einem unkritischen parteigänger porträtiert zu werden. gleichzeitig ist er viel zu vielschichtig, viel zu umstritten und viel zu hoch gejubelt worden, um bei einem hagiografisch anmutenden lebensbericht zu enden. und so bleibt das beabsichtigte standardwerk über die unvollendete konservative revolution in helvetien selber unvollendet.

immerhin, die biografie blochers ist vorgestellt, die der stadtwanderer heute abend zwei minuten vor ladenschluss in einer berner buchhandlung auf dem eben fertig gestellten büchertisch weggenommen hat, um sie an der kasse bezahlen zu wollen. “das buch ist noch gar nicht registriert”, sagt ihm die erstaunte verkäuferin. “richtig”, erwidert er, “es erscheint erst morgen”.

stadtwanderer


markus somm: christoph blocher. der konservative revolutionär, herisau 2009, 528 s., 48 chf.

ich erhöhe die transparenz auf dem “stadtwanderer”

meine sehr verehrten leser- und kommentatorInnen!

stadtwanderer
der stadtwanderer hat erscheinungsmässig ein kleines update hinter sich. das layout basiert zwar unverändert auf wordpress, neu aber auf der version 2.7. die verarbeitung wird damit vereinfacht; und die information für leserInnen erhöht.

wer mindestens einmal kommentiert hat, gilt ja als angemeldet, und kann ab zulassung instant-kommentieren. gleichzeitig erfasst wordpress 2.7 auch, wie oft diese kommentatorInnen in den letzten tagen als leserInnen registriert wurden. das erscheint dann in der rechten spalte ganz weit unten. so erscheint der name, den man kennt, neu aber auch in verschiedener grösse, was die regelmässigkeit der wiederkehr anzeigt.

der vorteil für die kommentatorInnen: wer bei der registrierung auch eine website-adresse hinterlässt, bekommt diese via den “stadtwanderer” direkt verlinkt. man kann also zum beispiel sein blog hier vernetzen!

stadtwanderer

leben wir schweizerInnen nun im eidgenössischen “dritten reich”?

die schweiz hat sich entschieden. sie will die definitive personenfreizügigkeit mit der heutigen europäischen union. 59,6 prozent waren dafür. dagegen war vor allem die svp, und die hat ausgesprochen mühe, sich mit der niederlage abzufinden. so vergleicht christoph blocher jene, die zur mehrheit gehörten, mit der gefolgschaft für hitler.

blocher_bezeichnet_abstimmungssieger_als_nazis_na_normal
minderheit als pflicht, weil die mehrheit manipuliert wird wie in einer diktatur, ist die polarisierende botschaft auf teleblocher.

mit dem nationalsoszialismus ist nicht zu spassen. die nsdap brachte sich 1933 unter adolph hitler mit fragwürdigen methoden an die macht in deutschland. sie errichtete den führerstaat, eine totalitäre diktatur. sie legitimierte den radikalen antikommunismus, antisemitismus und antidemokratismus als politsiche ideologie. das nationalsozialistische deutschland entfesselte den zweiten weltkrieg, und es verübte den holocaust, der zu den einzigartigen verbrechen an der menschheit zählt. nach der niederlage deutschlands 1945 wurde der nationalsozialismus in seinem heimatland verboten.

ein “nazi” zu sein, gehört zu den schlagkräftigsten diskreditierungen, die man bis heute dem politischen gegner unterstellen kann. teile der radikalen linken arbeiten damit, wenn es um die rechte geht, und teile der radikalen rechts schrecken davor nicht zurück, der linken “sozialfaschismus” zu unterstellen.

in den letzten jahren ist es selbst in politisch gemässigteren kreisen nicht mehr verpönt, im privaten gespräch wie im politischen schlagabtausch damit zu hantieren. jetzt eskaliert die verwendung sprunghaft. in seinem eigenen fernsehen vergleicht christoph blocher jene, die mit der mehrheit stimmten mit der gefolgschaft von adolph hitler. hier die sentenz:

«Nehmen Sie diktatorische Strömungen wie das Dritte Reich. Natürlich, wenn alle hinstehen und dem Hitler zujubeln, dann gehören sie immer zu den Gewinnern». interviewer matthias ackeret erwidert, das sei doch nicht vergleichbar. blocher: «Doch, das ist insofern vergleichbar, weil viele denken, sie müssten zur Mehrheit gehören – und ja nicht zur Minderheit.»

was geschieht hier, frag’ ich mich da? sind nun alle nazis, die mit der mehrheit stimmen? ist der volkswille, wie er sich bei volksentscheidungen äussert, nationalsozialistisch manipuliert? das jedenfalls ist die unterstellung, die mich zu folgendem nachhaken führen: haben unsere politischen institutionen, mit denen wir in volksabstimmung über die politische ausrichtung entscheiden, total versagt? gibt es in der schweiz keine meinungsäusserungs- resp. informationsfreiheit mehr? sind wir nicht mehr fähig, uns frei zu entscheiden? ist das gleichheitsgebot zwischen den bürgerInnen obsolet geworden, sodass ausgewählte uns unwidersprochen sagen müssen, was sache ist und was nicht? können wir überhaupt nicht mehr stolz sein, auf unser wahl- und abstimmungsrecht?

der sinn von volksabstimmungen besteht darin, dass sie eine institutionelle regelung sind, konflikte in der gesellschaft politisch verbindlich zu regeln. das habe ich drei tage vor der abstimmung über die personenfreizügigkeit in einem vortrag in kirchlindach bei bern gesagt. zu dieser regelung gehört, dass die verfahren der entscheidfindung eingehalten werden, weil, diese die entscheidung selber legitimieren. entscheidend ist dabei, dass die jeweilige minderheit in der sache die jeweilige mehrheit anerkennt, denn nur so kann sie sich, bei der nächsten entscheidung, in der man in der mehrheit sein kann, darauf berufen, legitimiert zu sein, den konflikt in ihrem sinn zu regeln. wer das nicht mehr akzeptiert, vergibt sich das recht, im einem weiteren fall, die mehrheit repräsentieren zu können.

und deshalb die frage: kann man die mehrheit in einer volksabstimmung ungestraft mit der anhängerschaft der nazi vergleichen? leben wir in der schweiz wirklich im eidgenössischen “dritten reich” ? – oder braucht es gegen solche anpassungsunterstellungen den entschiedenen widerstand der citoyens und citoyennes?

stadtwanderer

bern als hauptstadt der metropolitanen schweiz

in der heutigen “berner zeitung” nimmt christoph koellreuter, basler ökonomieprofessor und präsident von metrobasel, zur architektur der metropolitanen schweiz stellung. dabei skizziert er für bern die rolle des hauptquartier von metroschweiz, ohne selber eine metropolitanregion zu sein.

der berner raum muss seine politisch – wissenschaftlich – mediale bedeutung für die metropolitane schweiz bewusst werden, fordert christian koellreuter von metrobasel

das interview in der bz beginnt so, wie man zwishenzeitlich kennt: bern selber sei kein metropolitanraum. doch ann wird es spannend: bern könne ein “wichtige Rolle für die metropolitane Schweiz spielen.”

wie das, fragt man sich an dieser stelle automatisch. der vorschlag aus dem munde des basler vordenkers lautet: “In Bern wird die Schweiz politisch geformt. Wir Metropolitanregionen profitieren davon, was und wie in Bern entschieden wird. Das politische Modell Schweiz ist ökonomisch erfolgreich, wie die internationale Stellung von Basel, Genf, Zürich zeigt. Genau da könnte Berns künftige, auch wirtschaftlich interessante Rolle liegen. Bern als Headquarter der metropolitanen Schweiz, als Ort, an dem ihre Strategie ausgehandelt wird. Um diese Rolle zu spielen, muss Bern aktiv werden.”

bern müsse erstens alles tun, wirklich alle einflussreichen interessenvertreter vor ort zu haben.
zweitens müsse sich die universität als denk- und strategiefabrik von metroschweiz positionieren.
und drittens müsse das fernsehen als wichtigstes medium ein politikzentrum in bern haben.

wichtig ist für koellreuter, dass bern eine voraussetzung schaffe, hauptstadt der metropolitanen schweiz zu werden. dafür müsse sie die frankophonie, die sie mal hatte, fördern und pflegen. denn ohne einbindung der welschen schweiz ist bern kein zentrum, sondern peripherie.

ist das nun der ansatzpunkt, um die stadt zu beflügeln?, fragt sich der

stadtwanderer

in welcher welt lebt dieser papst eigentlich?

du meine güte: wenn’s sein muss, reagiert der vatikan superschnell. wenn nicht, braucht es ewigkeiten! das jedenfalls zieht man aus dem verhalten, wenn es um keine pille resp. keine holocaust geht.

die wiederaufnahme der traditionalistischen bischöfe, die ausserhalb der päpstlichen hierarchie geweiht worden waren, in den schoss der katholischen kirche erregte zu recht ärger. die begründung war mager, das interesse an spirituellen fragen, das nicht ausserhalb der katholischen kirche wachsen dürfe, musste hinhalten. verägert hat vor allem, dass selbst holocaust-leugner nun wieder kirchliche würdenträger werden und sein dürfen.

die empörung, die ausbrauch, brauchte viel elan, um an der unfehlbarkeit des papstes kratzer an zubringen. eine entschuldigung erwartete man, eine klarstellung forderte frau. bis es nicht mehr anders ging! und erst dann, nach tagen der gesellschaftlichen diskussion in der wichtigsten christlichen kirche kam kleinlaut die bitte an den einen fehlbaren all das zu widerrufen. von seinen eigenen leuten falsch informiert worden sei der papst, hiess es fast nicht mehr hörbar.

mitten in diese krise platzte die doch überraschende ankündigung von radio vatikan, daniel vasella als externen kommunikator anzuheurn und ihn mit einem wöchentlichen kommentar zu betrauen. die konstallation überraschte, und löste spannung aus. was trifft da aufeinander: die grundsätze der unendlichen ewigkeit auf die grundsätzlich der ewigen endlichkeit? – immerhin, gestern staunte ich, und dachte ich mir, das werde für beide eine herausforderung.

wird es nicht. der vatikan war wiederum unvollständig informiert, als er sich entschied. er gibt vor, nicht gewusst zu haben, dass novartis empfängnisverhütungsmittel herstellt. und nun höre und stauen man: da man in dieser frage keine zweifel aufkommen lassen wolle, was der standpunkt des papstes, der kirche und der christenheit sei resp. zu sein habe, stellte man daniel vasella vor die türe, bevor er auch nur ein wort sagen konnte!

nun vergleiche man gemeinsamkeiten und unterschiede! um die frage zu beantworten: ist dem past keine pille wichtiger als keinen holocaust?

stadtwanderer

gartenrotschwanz und biodiversität

der gartenrotschwanz ist der vogel des jahres 2009. nicht nur weil er hübsch und sympathisch ist. vor allem weil intensive landwirtschaft die farbenfrohen gesellen so stark bedrohen, dass sie hierzulande kaum mehr anzutreffen sind, teilte gestern der vogelschutz svs/birdlife mit. ein typisches problem der mangelnden biodiversität, ergänzt der stadtwanderer.

gartenrotschwanz weibchen (foto: schweizer vogelschutz)

im zusammenhang mit dem gartenrotschwanz ist rot von doppelter bedeutung. auffällig rot sind die schwanzfedern. doch rot ist auch die liste, auf der der gartenrotschwanz neuerdings steht. denn seine art ist hierzulande gefährdet.

als gründe hierfür nennt der schweizer vogelschutz birdlife fehlüberlegungen bei der landschaftsgestaltung. in den 60er jahren des 20. jahrhunderts fällte der bund in einer verheerenden aktion hochstamm-obstbäumen; und die landwirtschaft setzte ganz auf intensivierung der produktion.

der schweizer vogelschutz hat das erkannt, und handelt in die umgekehrte richtung. er fordert mehr parks mit alten, höhlenreichen bäumen, siedelt selber hochstamm-obstbäume an und setzt sich für extensiv genutzte wiesen mit möglichst vielen insekten ein.

ein typisches beispiel für die generelle problematik der sich verringernden artenvielfalt, fügt der stadtwanderer bei. biodiversität nennt man das in der sprache der naturwissenschafter, denn es geht um die biologische vielfalt, ja um die vielfalt des lebens. vielfalt der gene, vielfalt der arten und vielfalt der lebensräume gilt es zu erhalten, denn sie alle gelten als zeichen einer gesunden umwelt.

das biodiversitätsmonitoring des bundes hält hierzu fest: 50’000 Pflanzen- und Tierarten kommen in der schweiz vor. die gesamtzahl ist in den vergangenen Jahren zwar konstant geblieben. viele arten existieren aber nur noch in kleinen beständen und an wenigen stellen. sie sind gefährdet. die biodiversität ist ein reichtum, den wir hüten und wieder entwickeln müssen, denn sie liefert holz, nahrung, textilien, chemische grundstoffe und arzneimittel. unsere lebensqualität ist davon abhängig.

nach anfänglichem zögern hat nun auch die politik das begriffen. sie erklärte 2008 die förderung der biodiversität zu einem der 18 legislaturziele für die arbeit des eidgenössischen parlamentes bis zu den nächsten wahlen. und reagierte damit im letzten moment auf das weltumspannende programm zu gunsten der artenvielfalt, welche in das uno-biodiversitätsjahr 2010 münden wird.

stadwanderer

die tschäppät-initiative und ihre folgen

wenn man im studio leutschenbach ist, hört man hie und da ein neues wort. “tschäppät-initiative” ist ein solches. die übersicht und entstehung und folgen der wortschöpfung in der helvetischen politsprache.

“gut geschlagen”, habe sich alex tschäppät, berner stadtpräsident, am sonntag als gast der satiresendung giacobbo/müller, weiss die bernerzeitung zu berichten. zur sprache kamen themen wie polizeieinsatz gegen tibeter und berns bierkonsum während des holländersturms. die ubs bekam ihr fett ab, und auch der zsc wurde aus glatteis geführt. schliesslich mokierte man sich über die kochende volksseele, symbolisch als wurst auf dem grill im studio, die tschäppät liebend gerne seinem hund verfüttern wollte.

schliesslich war das ja eine satire-sendung.

ernster ist allerdings das problem der repräsentation der bundesstadt im leutschenbach. oder die präsenz des schweizer fernsehens in bundesbern. da ortet man in bern seit geraumer zeit mehr defizite als es zürich lieb ist.

“tschäppät-initiative” nennt man die charme-offensive des berner stadtpräsidenten in den gängen des fernsehstudios bereits. und weiss schon über den ersten ernstfall zu diskutieren: die elefanten-runde der parteipräsidenten soll am kommenden abstimmungssonntag nicht mehr in zürich vom stapel gehen, sondern in bern stattfinden. schliesslich seien christian levrat von der sp, christophe darbelley von der cvp und ueli leuenberger von den grünen alle aus der romandie. fulvio pelli wiederum, der designierte chef der fusionierten fdp-liberalen, komme aus dem tessin, und toni brunner, boss der svp, aus der ostschweiz. das zentrum aus alle dem sei bern nicht örlikon, lautet das fazit wichtiger politstimmen.

der zoff dahinter schwelt schon länger. wenn sich die parteispitzen in zürich repräsentieren lassen, ist das gut fürs sf-publikum, nicht aber für jenes von tsr und tsi. bern wäre da für den sprachenfrieden besser. geht von der infrastruktur her nicht, entgegnet man da bei sf. nicht einmal das neue medienzentrum reiche, um eine wirklich grosse sendung durchziehen zu können, hört man etwa. dabei wissen alle: die sache dreht sich nicht wirklich um drei kameras für die elefantenrunde bei volksabstimmungen. vielmehr denkt man schon an den nächsten ganz grossen politevent der schweiz, an die parlamentswahlen 2011. und wo die verfilmt werden!

die tschäppät-intiative ist deshalb mehr als ein kleiner brandherd. toni brunner legte die fackel letzte woche, als er ausrichtete, für kommentare zur personenfreizügigkeitsabstimmung nur in seiner beiz ebnat-kappel zur verfügung zu stehen. und christoph blocher legte gleich eine schiitli nach. sein teleblocher erscheine diese woche nicht wie üblich am samstag nachmittag auf internet, sondern just während der pressekonferenz des bundesrates am sonntag abend. die fdp wiederum feiert nicht wie immer im berner restaurant zum äusseren stand, sondern in den werkhallen ihre kampagnenleaders johann schneider-ammann in langenthal, während sp und cvp demonstrativ im äusseren stand auf das ergebnis warten. ausser den grünliberalen, die zwar zur zentrumsfraktionunter cvp-fittichen gehören, am sonntag aber nach langenthal reisen.

obwohl das ja keine satiresendung werden soll!

stadtwanderer

wi(e)der die unglaubliche arroganz

zwischenhalt am kiosk. um zu wisssen, was für eine zeit wir gegenwärtig haben, blick in “die zeit”. aufgeschreckt von einem artikel zur schweizerischen eu-politik aus deutscher sicht ein paar zwingende gedanken über politik und wirtschaft jenseits von arroganz.


diese mischung aus eu und schweiz bringt keine verständigung – das aufgeklappe schweizer sackmesser der reinkultur aber auch nicht (bild keystone)

herausgefordertes deutschland
seinen bisher grössten moment hatte der deutsche jorgo chatzimarkakis, als er im september 2007 seine fdp zur bundesweiten fusion mit den grünen aufrief, um eine starke ökoliberale mitte zu bilden und so die polarisierungen zwischen links und rechts in der nationalen politik zu überwinden. selber lebt der politiker diese verbindung schon, wenn er als europaageordneter in brüssel ist. dann wohnt “chatzi”, wie er sich selber gerne nennt, nämlich mit cem özdemir, dem eu-parlamentarier der grünen in einer wg. und das ist nicht ohne, denn chatzimarkakis ist griechischstämmig, während özdemir von türkischer herkunft ist. das ist genau das, was man in brüssel von zypern erwartet.

weniger gut klappt die verständigungsarbeit allerdings, wenn chatzimarkakis auf die schweiz angesprochen wird. da kritisiert der promovierte agrar- und politikwissenschaft mit schwerpunkt europarecht die schweiz: »Ich habe hohen Respekt vor der Schweizer Demokratie. Aber ich habe demokratietheoretisch langsam ein Problem damit, dass schon wieder eine kleine Minderheit 490 Millionen Europäer aufhalten können soll.« Und dann kommt’s faustdick: »Die unglaubliche Arroganz muss jetzt mal ein Ende haben! Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen. (…) Wer, bitte, legt denn das ganze Geld da drüben an? Die Schweizer müssen wissen: Sie schaden sich selbst mehr als uns, wenn sie am 8. Februar Nein sagen.«

politik und wirtschaft parallel entwickeln
gerade demokratietheoretisch ist die eu, muss man entgegen, kein ausgesprochenes vorbild. sie ist nicht aus einer revolution hervorgegangen, die neues verfassungsrecht geschaffen hätte, das im sinne der demokratie gelebt würde. vielmehr ist sie aus der schlichten notwendigkeit heraus entstanden, nach den kriegen von 1871, 1914-1918 und 1939-1945 weiteres blutvergiessen mitten zu vermeiden. dabei setzten die gründunsväter der eu auf die hoffnung, gemeinsame industrien und gemeinsmer handel schafften verständigung.

daraus ist zwischenzeitlich zwar mehr als eine reine koordination von wirtschaftpolitiken entstanden, wohl aber kein astarierter gesamteuropäischer staat. unionsbürgerschaft und wahlen können nicht darüber hinweg täuschen, dass die eu vom europäischen rat dominiert und von der kommission geführt wird. weit fortgeschritten ist insbesondere der demokratisierungsprozess nicht, sodass man die eu besser an wirtschaftlich-pragmatischen kriterien misst als anhand demokratie-theoretischer.

und wenn schon, müsste man als politikwissenschafter mit schweizer hintergrund einwerfen, dürfte sich diese nicht auf institutionen der volksrepräsentation beschränken, sondern auch deren erweiterung durch direktdemokratische instrumente in betracht ziehen. mit diesen macht die eu erst zögerlich bekanntschaft. ein teil aus politik und administration sieht in der erhöhten involvierung der bürgerInnen durchaus die chance erhöhter legitimation. er ist deshalb bereit, auf auf bürgerInnen-partizipation einzugehen. ein anderer teil begreift das alles nur als lästige blockierung, die partikuläre interessendurchsetzung zulasten einer einheitlichen politik fördere.

die schweiz sollte sich in dieser debatte weder über- noch unterschätzen, ist meine antwort “zuhause”. unterschätzen würde sie ihre reichhaltige erfahrung gerade mit der bürgerInnen-beteiligung im politischen willensbildungsprozess, wenn sie diese nicht in den eu-aufbauprozess einbringen würde. überschätzten würde sie sich aber, glaubte sie, ihr spezifisch gewachsenes entscheidungssystem in der politik sei das einzig wahre in der politik.

die arroganz hüben und drüben abbauen
hinter beiden steckt eine unglaubliche arroganz im politisch-kulturelle sinne. denn die eu braucht dringend demokratisierungen ihrer technokratischen selbstverständnisses von politikgestaltung. die jüngsten ablehnungen von verfassungsentwürfen in frankreich, den niederlanden und in irland zeigen, wie verbreitet die distanz zu den menschen ist. ganz zu schweigen, dass es auch bedenken auf verfassungsebene in deutschland gibt und sich selbst politikerInnen in polen und tschechien sträuben, wenn die perspektive von unten in der willensbildung vernachlässigt wird. das alles gilt, selbst wenn es kaum ernsthafte kritiken an den wirtschaftlichen vorteilen des eu-projektes gibt.

umgekehrt braucht die schweiz dringend mehr spiegelungen ihres demokratischen selbstverständnisses. entscheidungen, die man einmal getroffen hat, sind verbindlich. gerade zu kalkulierbare wirtschaftliche verhältnisse zu sichern. so gut die schweiz in innenpolitischen fragen damit gefahren ist, dass man alles und jedes immer und wieder in frage darf, so problematisch ist das, wenn es um wrtschaftspolitische partnerschaften mit dritten geht. denn die unverbindlichkeit von zusagen auf der einen seite wird in der regel durch unverbindlichkeit von zusagen auf der anderen seite pariert. das klima des misstrauens, das so entsteht, ist keine basis für kooperation über grenzen hinweg. vielmehr nährt sie die polarisierung, die wir gegenwärtig erleben.

herausgeforderte schweiz
ein ja zur personenfreizügigkeit gäbe es nur, forderte christoph blocher an der albisgüetli-tagung 2008, wenn die eu darauf verzichte, weitere forderungen zum bankgeheimnis zu stellen. wer glaubt, unrealistische vorbedingungen zu verhandlungen stellen zu müssen, kriegt diese mit voller wucht zurück, denn das echo an die adresse der schweiz lautet heute: personenfreizügigkeit ja, wenn ihr die privilegien für euer bankensystem weiter wollt.

jorgo chatzimarkakis will mit seiner ökoliberalen idee die blockierende polarisierungen im deutschen parteiensystem verhindern. gut so, sag ich. wer verantwortung für politik und wirtschaft übernehmen will, muss auch polarisierungen zwischen partner abbauen helfen, füge ich an die adresse aller beteiligten bei.

soviel zur heutigen “zeit”!

stadtwanderer