mehr schwarze schwäne als uns lieb ist

nein, das ist keine fortsetzungsgeschichte zu jener über die schwarzen schwäne auf dem wohlensee. vielmehr geht es um ein fast schon philosophische thema.

41-dzerognl__bo2204203200_pisitb-sticker-arrow-clicktopright35-76_aa240_sh20_ou03_“das buch zur heutigen zeit, aber ohne die nötige tiefe”, meint der stadtwanderer

stöbert man durch die beststellerlisten in berns buchhandlungen, stösst man sei geraumer zeit fast unweigerlich auf das buch des libanesischen mathematikers nassim taleb. “der schwarze schwan” heisst es. wer darin liest, merkt bald, dass der titel nur als metapher für unseren umgang mit phänomenen wie google, dem 11. september oder ausbruch des ersten weltkrieges dient.

diese und andere ereignisse werden mit schwarzen schwänen verglichen, weil niemand mit ihnen gerechnet hatte. einmal da, wollen aber alle ihre erklärungen. ohne bereit zu sein, sich auf etwas neues einzustellen. und genau das ist falsch.

schwarze schwäne haben nach taleb drei eigenschaften:

sie treten überraschend auf.
sie zeitigen durchschlagende wirkungen.
obwohl man sie nicht prognostiziert hatte, gibt man vor, sie erklären zu können.

taleb, der in seiner ersten karriere risikoanalytiker war, weiss wovon er spricht. beispielsweise von der verletzlich des bankensystems. doch traut er den allwissenden kollegen finanzanalysten heute nicht mehr über den weg. ausgestiegen ist er aus diesem job, um eine zweite karriere als erfolgreicher buchautor zu beginnen. die hat ihn nun zum professor in der wissenschaft der unsicherheit gemacht.

sir raimund popper, der grosse wissenschaftstheoretiker des 20. jahrhunderts, meinte noch, dass man alles erklären und damit auch alles prognostizieren kann. taleb ist da radikaler. er sagt, was man nicht prognostizieren kann, soll man sich auch nicht (vorschnell) erklären wollen. obwohl es eintrifft.

in talebs worten täuschen wir uns da, weil wir geneigt sind, in schlüssigen geschichten zu denken. neue fakten werden darin integriert, ohne zu fragen, ob die geschichte zutrifft oder auch nicht. denn intuitiv ist die vergangenheit unser modell für die zukunft. genau das geht tabel auf den keks.

denn die realität, sagt taleb, ist anders. unberechenbar, deshalb auch immer wieder überraschend. weil sie letztlich chaotisch funktioniert.

“Es gibt nur wenige herausragende Wirtschaftspublizisten. Und es gibt noch weniger ausgezeichnete Wirtschaftsbücher. Deshalb ist es eigentlich unwahrscheinlich, ein ausgezeichnetes Wirtschaftsbuch von einem herausragenden Wirtschaftspublizisten zu finden. Taleb ist dieser schwarze Schwan.”

das ist schon fast zu viel des guten für das buch zum zeitgeist der finanzkrise. denn in meinem studium als historiker bin ich auf eine andere metapher gestossen, die mir nachhaltig in erinnerung geblieben ist. gerade heute erinnere ich mich ihrer, und merke ich, dass sie mir viel weniger trendig erscheint als taleb postmoderne neuformulierung.

das neue an der moderne ist, schrieb der verstorbene deutsche historiker reinhard koselleck, dass der erwartungshorizont erstmals grösser geworden ist als der erfahrungsraum. lebten die menschen früher mit der vergangenheit vor augen und reichte das aus, um alles was kommt, zu verstehen, ist es für den modernen menschen essenziell, sich immer wieder auf neue zukünfte, die nicht mit den bisherigen vergangenheiten erschlossen werden können, einzustellen.

schwarze schwäne, auf welchem see auch immer sie auftreten, erinnern uns seit geraumer zeit unfreiwillig daran, dass es in unserem leben mehr anlässe dieser art gibt, als uns meist lieb ist.

stadtwanderer