mit egon erwin kisch an der grenze

unser wagen hält unerwartet an der slowakisch- ukrainisch- polnischen grenze. wir haben uns verfahren, wie das schild zeigt, das auf den zugang in den urwald im dreiländereck verweist. das ende der welt könnte man meinen. gleichzeitig aber auch eine städte des weltjournalismus muss man beifügen.

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gedenkstein für egon erwin kisch im dreiländereck slowakei, ukrainie und polen (foto: stadtwanderer)

unmittelbar vor dem eingang hatten einheimische eine noch unerwartetere besonderheit eingerichtet. grobere steine standen, fast schon wie ein klein stone henge, im kreis herum. “pantheon” stand auf einem schild, was so viel bedeutet, wie “im gedenken an die menschen, die uns wichtig sind”.

der rasende reporter

viele der namen zu den steinen kannte ich nicht, einen aber schon: egon erwin kisch, den weltweit legendären “rasenden reporter” aus prag.

im ersten weltkrieg hatte der damalige jüngling noch in der k-&-k-armee gedient. das kriegsenede radikalisierte ihn; 1919 trat er der kommunistischen partei bei. i deutschland geriet er vorübergehend in haft. während des zweiten weltkrieges emigrierte er zuerst in die usa, dann nach mexico. kurz danach verstarb der rasende reporter – ausgerechnet an einem herzschlag.

1933 machte er mit einer reportage aus der deutschen gefangenschaft als erster überhaupt auf die unmenschlichen bedingungen in den nazi-gefängnissen aufmerksam. das trug ihm den ruf eines ebenso unerschrockenen wie unerbitterlichen berichterstatters über das reale leben ein. “nichts ist erregender als die wirklichkeit”, schrieb der spätere erfolgsautor zahlreicher bücher dazu. viele berichte, die meisten politisch motivierte, sozialkritische reportagen über die verhältnisse in der ersten hälfte des 20. jahrhunderts, verdanken wir dem journalisten und schriftsteller von weltruf.

während des ersten weltkrieges verfasste soldat kisch ein hautnahes kriegstagebuch, das er später unredigiert unter dem titel “schreib das auf, kisch!” veröffentliche. darin beschrieb kisch auch seine begegnung an dem ort vor dem geografischen nichts, an dem auch wir jetzt stehen. einen einheimischen habe er gefragt, wie man an die grenze zum damaligen russland gelange. ganz einfach, habe der geantwortet: nach links, nach rechts, nach links, nach rechts … dabei habe er mit den fingern die kurven genau gezählt, denn nach 36 kehren sei man unweigerlich auf feindesland. in der tat, schreibt kisch, die strasse habe sich in der folge wie eine wilde schlange durch den dunklen wald gewunden, bis man schliesslich in russland angekommen sei.

der findige blogger
wir beschlossen, uns die schlangenfahrt durch den unverändert bestehenden urwald zu ersparen und umzukehren. schliesslich bin ich nicht der erfinder der journalistischen kriegsberichterstattung im ersten weltkrieg, sondern bloss ein kleiner blogger aus der schweiz, der sich in der äussersten ecke der nordostslowakei verirrt hatte.

immerhin, wie damals das tagebuch von kisch, ist heute auch mein blog um einen bericht von einem unvergesslichen ort reicher.

stadtwanderer

sozialpsychologie der erdbeer-jogurths

wir sitzen in senné vor dem haus der slowakischen vogelschutzorganisation vor ort und stärken uns mit einem währschaften frühstück. denn danach soll es hinaus in die sumpfgebiete. vorher aber schweifen meine gedanken zwischen erdbeeren und sozialpsychologie umher.

jahoda1937
marie jahoda, oesterreichisch-britische sozialpsychologin und pionierin der sozialforschung

das frühstück kurz nach sechs morgens ist reichlich. kaffee und tee werden gereicht, brot wird geschnitten, die butter taut langsam auf, der salami riecht fein, und das gemüse war eben noch auf den ständen des lokalen marktes ausgestellt.

mich interessieren vor allem die jogurths. vanille und erdbeer stehen zur auswahl. ich bin unschlüssig, nehme aber eine mit der aufschrift “jahoda”. der spezielle name gab wohl den ausschlag, denn er einnerte mich an die berühmte österreichische sozialpyschologin marie jahoda, die anfangs der 30er jahre in mariental ausserhalb wiens die arbeiterInnen befragte, die allesamt aus der eben geschlossenen textilfrabrik entlassen worden waren.

das buch “die arbeitslosen von mariental” ist als klassiker in die sozialwissenschaften eingegangen. mit damals noch wenig erprobten methoden untersuchte das team um marie jahoda, wie menschen auf arbeitslosigkeit reagieren. es kam zum schluss, dass die meisten nicht rebellieren, sondern resignieren. sozialwissenschaftern ist das heute meitens klar; politikerInnen nicht immer.

marie jahoda war damals mit paul lazarsfeld verheiratet. beide waren jung zu ihrem doktortitel gekommen und hatten sich der sozialforschung verschrieben. beide waren sie jüdischer herkunft und mitglied der sozialdemokratischen partei.

1933 kamen sie wegen den nazis in schwierigkeiten. paul ging wie viele in die usa, während marie ins gefängnis kam. 1934 wurde ihre ehe geschieden. paul blieb in den vereinigten staaten, wurde begründer quantitativer methoden in der wahl- und kommunikationsforschung und hatte mehrere professuren als soziologe inne. marie emigirierte nach ihre entlassung aus der haft nach grossbritannien, wo sie, die pionierin qualitativer methoden in der sozialforschung, die erste frau wurde, die einen lehrstuhl für sozialpsychologie leitete.

das jogurth mit der aufschrift “jahoda” schmeckte fein. erst als ich über meine wahren gründe, warum ich es gewählt hatte, erzählte, lachte meine begleitung. denn “jahoda” ist auf slowakisch keine marke, sondern heisst ganz einfach erdbeere.

marie hätte gesagt: mit quantativen methoden hätte man diese spezielle entscheidung nie bestimmen können, dafür muss man die lebensgeschichte der menschen kennen, die handeln. in meinem fall hätte ich ohne das versehen eher auf vanille gesetzt.

stadtwanderer