die stunde der wahrheit auf dem monte verità

gestern waren wir auf dem monte verita. und unsere fernsehsendung wurde zur stunde der wahrheit.

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warten auf kühlere temperaturen: technikteam der sternstunde geschichte (foto: stadtwanderer)

das thema der gestrigen aufzeichungen für die sternstunde geschichte galt der migrationsgeschichte aus und in die schweiz. “niemand war schon immer da”, hiess der titel, den die sternstunderedaktion gesetzt hatten.

das alleine versprach eine heisse diskussion, die von roger de weck moderiert wurde und an der der deutsche migrationshistoriker klaus bade als spezialgast teilnahm, während thomas maissen und claude longchamp wie in den anderen sendungen mitdiskutiert.

heiss war die sendung dann aber nicht wegen dem thema. denn auf dem monte verita herrschten temperaturen wie am äquator. in der planung hatten sich alle schönes wetter gewünscht, denn für diesen fal war vorgesehen, die terrasse für die aufzeichnung zu nutzen. doch niemand hatte daran gedacht, dass das es nahe des energiezentrums auf dem berg der wahrheit locker 40 grad werden kann.

die sendung musste deshalb vom nachmittag auf den abend verschoben werden. grosse schirme, die vor dem sonnenlicht schützten, wurden installiert, und jene menge wasser wurde gereicht. so hielt man es einigermassen aus.

am ende der aufzeichnung waren alle froh. überraschenderweise viel die diskussion sehr sachbezogen aus. es ging um aus- und einwanderung. um wirtschaftliche not, um reisläuferein, um die neue welt und militärdienste in kolonialarmee. zwischen dem 15. und 19. jahrhundert bestimmten sie die migrationsgeschichte, das heisst die wanderung über die entstehenden grenzen der eidgenossenschaft hinaus in die nahe und ferne welt.

1888 gilt als kipppunkt in der migrationsgeschichte. zwar verschwindet die auswanderung nicht; knapp 700000 auslandschweizerInnen sind ein beredetes zeugnis für die existenz bis heute. doch überwiegt seither die einwanderung. bestand diese früher vor allem aus flüchtlingen wie den hugennotten, der intellektuellen oder sozialisten, setzte in der folge die arbeitsmigration in die schweiz ein. zunächst kamen menschen aus den nachbarländern, dann aus immer entfernteren gebieten. damit setzt auch das bewusstwerden der schweiz als nation ein, und der nationalismus, der die schweiz vor ausländern schützen will.

die schweiz bewahrte, war eines der ergebnisse, ihre politik offener grenzen, denn sie profitiert wirtschaftlich von der migration. sie konservierte aber auch lange ein traditionelles verständnis von bürgerrecht, das nur mit einigen hürden erworben werden kann. so versucht sie, ihre eigenständigkeit zu wahren.

gefragt wurde natürlich auch, weshalb sich die schweiz angesichts der entwicklungen der letzten 120 jahre immer noch nicht als migrationsland versteht und sie auch so verhält. eine frage, übrigens, die es sich lohnen würde, auch auf dem blog zu vertiefen.

nach getanener arbeit bemerkten alle, dass wir schnell einen roten faden entwickelt und verfolgt hatten, sodass wir bald schon das heisse wetter vergassen. erst als die runde fertig war und wir in den schatten traten, realisierten wir so richtig, wie exponiert wir auf während der stunde der wahrheit auf dem monte verita gewesen waren.

stadtwanderer

jean calvin polarisiert noch immer

genf feiert. den 500. geburtstag von jean calvin. und den 450. geburtstag der genfer universität, deren vorläufer, die akademie, von calvin begründet worden. doch calvin hat auch in genf nicht nur anhänger, und er polarisiert in der schweiz unvermindert.

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jean calvin, genfer reformator, ein mann mit vielen gesichtern

kaum eine andere figur steht so für genf wie calvin. der jurist aus frankreich stieg mit der reformation im savoyisch-katholischen genf zur einer theologischen autorität auf. der ausländer konnte kein politisches amt bekleiden, regelt aber mit seiner autorität das gesellschaftliche leben neu, lehrte ein neues, unmittelbares verständnis von gott und begründete die schule neu. er unterstützte die autonomiestrebungen genf gegen der weltlichen und kirchlichen mächten. mit seinen schüler suchte er eine vermittlung gegenübr den reformierten orten der eidgenossenschaft, vor allem gegenüber zürich, aber auch bern und basel. dank seiner intellektuellen autorität strahlte er abr auch weit über seinen unmittelbaren wirkungsort aus. starke einflüsse zeigten sich vor allem auf frankreich, aber auch in italien und in den niederlanden wurde seine stimme gehört und wurden seine schriften gelesen, sodass man ihn nach luther durchaus den zweiten reformator an der schwelle der mittelalterlichen welt zur neuzeit, jedenfalls zur frühen neuzeit nennen kann.

und trotzdem spürt man selbst in genf immer wieder auch skepsis gegenüber dem eingewanderten franzosen, der genf so nachhaltig veränderte. während seiner wirkungszeit kamen zahlreiche glaubenanhänger von calvin in die rhonestadt, deren einwohnerzahl sich innert einer generation auf 20’000 verdoppelte. das hat nicht allen gefallen, und so gibt es immer wieder stimmen, calvin sei den genfern gleich. bei unseren recherchen vor ort erfahren wir, das ein prominentes podium im gedenkjahr zu calvin ausgerechnet von einem katholiken moderiert werden soll. denn eines ist unübersehbar: der reformator waren in seiner zeit umstritten, wurde vorübergehend aus der stadt verwiesen, kam zurück, um die rekatholisierung zu vermeiden, spaltete aber die bürgerschaft in verschiedene, unter sich zerstrittene lager, sodass ihm uns seiner reformation bis heute auch etwas sektierisches anhaften. die zeit selber war eine zeit von katastrophen. so wütete die pest. die anhänger calvins schreckten nicht davor zurück, die ursache hierfür bei ungläubigen zu suchen, die zur strafe nicht selten zu schrecklichen todesstrafen verurteilt wurden.

auch deshalb polarisiert jean calvin bis heute: in genf eher verdeckt, in der schweiz recht offen, weltweit wieder etwas weniger klar. geschichten ranken um ihne herum, die alle eigenschaften von freund- oder feindbildern tragen. zwischen befreier der genfer und taliban der reformation kann man jede einschätzung abrufen. das negative aus der zeit heraus scheint bis heute zu überwiegen, wäre nicht das positive, das er, insbesondere mit den kulturellen grundlagen legte, welche die entwicklung europas seit dem 17. jahrhundert prägten: den wirtschaftlichen aufschwung, den die hugenotten, calvins vertriebene anhänger, die beispielsweise als flüchtlinge in die schweiz kamen einerseits, der aufgeklärte humanismus und individualismus, der sich mit der veränderten ökonomischen situation vor allem in der urbanen, kosmopolitisch ausgerichteten welt zu entwickeln begann.

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