die geschichten der schweiz in postheroischer zeit

in meiner kindszeit spielte ich gerne indianer und cowboy. klar, wir hatten unsere helden, winnetou oder robin hood. doch wussten wir schon früh, dass sie nicht wirklich, nur erdacht waren. später, im gymnasium, waren wirkliche vorbilder wichtiger: mahatma gandhi, che guevarra, ho chi minh oder mutter theresa, die sich alle für eine bessere welt eingesetzt hatten.

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peter von matt, germanist, buchautor und zeitdiagnostiker äussert sich über schweizergeschichte in der postheroischen kultur der gegenwart

da erschienen die schweizer helden, die sich in alten schlachten hervorgetan hatten, irgendwie komisch. spätens nach der rekrutenschule war einem auch klar: was auch immer da einmal gewesen sein mag, davon ist heute nichts mehr übrig geblieben. deshalb glaubte man auch kaum, dass der zweite weltkrieg wegen unserer armee an der schweiz vorbeigezogen war. entsprechend fiel das urteil über die feiern der veteranen aus.

der berliner politikwissenschafter herfried münkler, hat das in drei begriffe gefasst: präheroische, heroische und postheroische gesellschaften unterschied er. die ersten leben von schlägerbanden ohne historisch-politisches bewusstsein. die zweiten haben ihre helden, die aus kriegen hervorgegangen sind und pflege die erinnerung an sie, während die dritten mit forderungen nach opferbereitschaft und ehrgefühl zugunsten neuer herausforderungen kaum mehr etwas anfangen können.

im grossen interview mit der nzz am sonntag nimmt peter von matt diese vorstellung mit bezug auf die schweiz auf, ohne von einer abfolge der gesellschaftsformen auszugehen, mehr, um das gleichzeitige des ungleichzeitigen in uns aufzuzeigen.

auch er sei in einer heroischen umgebung aufgewachsen, sagt der luzern. einmal sei er zeuge gewesen, wie sich ein besoffener aufgerappelt habe, um den alten eidgenossen keine schande anzutun. dabei sei es schon nachkriegszeit gewesen – dem grossen bruch mit den vermeintlichen heroen, welche europa in die bisher grösste katastrophe gestürzt hatten. das habe die schweiz mit verzögerung nachvollzogen, etwa mit der kritik an den diamantfeiern 1991. das können man auch an den vorstellungen der schweiz an der expo nachvollziehen: 1964 war der pavillon der armee ein gewaltiger igel. 2002 habe die armee gar nicht mehr stattgefunden, dafür sei man, etwas ratlos, an einer wellness-chilbi teilgenommen.

nun ist peter von matt dafür bekannt, dass er auch in postheroischen zeiten an die bedeutung der geschichte glaubt. denn jeder mensch ohne erinnerung lebe im leeren, sagt er, um beizufügen, das das eigentlich niemand wolle: “Und deshalb gibt es einen stillen, aber entschlossenen Aufbruch in das verlorene Eigene.” da gehe es nicht mehr um idole. aber um die eigene, tatsächliche geschichte. produktionsweisen, lebensformen und alltagskulturen interessierten dafür, weil es zu uns gehört, und uns niemand nehmen kann, angesichts der zusammengebrochenen ideologien nach 1989.

den neuen aufbruch sieht von matt zwischenzeitlich auch in der wissenschaft. dass geschichtsbücher wie das von thomas maissen geschrieben würden, sei ein gutes zeichen. denn es sei nicht positionslos verfasst, aber auch nicht aus der warte des richters, der den gang der weltgeschichte besser als alles andern kennen würde. in rückkehr begriffen sei auch die erzählung, die nicht einfach ursachen und folgen aufzeige, sondern auf der suche nach sinn sei.

dabei geizt der emeritierte literaturprofessor nicht mit seitenhieben: die svp versuche, direkt zur heroischen geschichtsschreibung zurückzukehren. das schienbare ende der 68er erlaube, geschichte wieder so zu sehen, wie sie schon immer gewesen sei. doch das sei bloss restauration der alten ideologie. von matt mag aber die hype von heidi in der konsumwelt nicht. weil bald jeder käse und sirup so heisse, möge er gar nicht mehr einkaufen gehen.

am liebsten wäre peter von matt, wir würden uns mit den wirklichen aufbrüchen in der schweizer geschichte beschäftigen. zum beispiel mit 1830, einem der europäischen revolutionsjahr, das in der schweiz gezündet habe wie kein anderes. entstanden sei damals die schweiz der gemeinden, der kleinen netzwerke, die sich selbst verwalten wollten, aber auch die moderne schweiz, die sich wirtschaftlich entwickeln wollte, offen für industrialisierung und modernisierung gewesen sei, und schliesslich auch die politische schweiz, die über handels- und gewerbefreiheiten hinaus an der vision einer direkten demokratie der bürger (später auch der bürgerinnen) gearbeitet habe.

leider höre man darüber fast niemanden reden, beklagt sich der literaturpapst. dabei stimmt das wirklich nicht! ich werde ihm eine stadtwanderung anbieten – nicht um neue heroen zu schaffen, denen auch ich kritisch gegenüber bleibe, aber um die geschichten zu erzählen, die zu uns gehören, und von denen andere auch erfahren sollten.

stadtwanderer

zum beispiel kirchberg an der emme

wer im ersten, kleinen bahnhof auf der linie burgdorf-solothurn aussteigt, wähnt sich im bernischen kirchberg. effektiv steht die haltestelle in alchenflüh, genauer noch in rüdlingen-alchenflüh, durch die emme räumlich von kirchberg getrennt, topografisch aber eine einheit bildend.

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kirchberg hat seinen namen von der markanten felswand über der emme, auf der die weitherum sichtbare kirche steht. 1506 wurde sie von bern aus errichtet, noch bevor die reformation bisher unwiderrufen einzug hielt. die streng-geraden wege durch den friedhof drücken das unverkennbar aus, die fein-säuberlich geschnittene rasen und die die ebenso behandelten bäume ebenfalls. im kirchgemeindezentrum ist man bemüht, dass tradition weitergegeben wird. gross ist die werbung für das teenagerlager 2010, mit fotos und erlebnisberichten, die sich an die jugend wenden.

es ist 12 uhr, als ich vom kirchberg aus in die landschaft schaue. vor mir ist der weissenstein im solothurnischen jura, und hinter mir ragen die verschneiten alpen in den himmel. alles wirkt friedlich, bis die sonore glocke die ruhe mit mächtigen getöse durchschneidet. anschliessend zwitschern ein paar aufgeschreckte vögel, um sich zu gewissern, dass die ihrigen noch leben. unmittelbar danach tönen frauenstimmen aus dem kirchgemeindehaus. sie stimmen kirchliche lieder an, und aus dem benachbarten stöckli hört man männerstimmen das gleiche tun. es ist, als kündige der ewig wiederkehrende gesang das wochenende an.

die geschichte von kirchberg

die frühesten archäologsichen funde sprechen für einen flussübergang seit 3000 jahren in kirchberg. urkundlich bezeugt ist die gegend seit gut 1000 jahren. der name rüdlingen wird als ort des sippenführers ruodilo interpretiert. die erste erwähnung im jahre 894 bezeugt daselbste eine gerichtsstätte. 922 wurde rüdlingen unter könig rudolf ii. und seiner schwäbischen gemahlin, könig berta, burgundisch. deren tochter adelheid, mitbegründerin des hochmittelalterlichen kaiserreiches im jahe 962, vermachte ihre güter im simmen-, aare- und emmental 994 dem elsässischen kloster selz, das sie kurz zuvor gestiftet hatte, und in das sich die kaiserin zum sterben zurückzog.

100 jahre nach ihrem tod kam selz zum burgundischen kloster cluny, und wurde so zu einem teil des gottesstaates des papstes, der den kreuzrittern im nahen osten als wichtige rekrutierungsbasis diente. auch kirchberg gehört dazu, wurde aber vom 13. jahrhundert an von den einheimischen herren von thorberg verwaltet. diese erwirkten 1283 von könig rudolf von habsburg die stadtrechte, ohne dass der erhoffte aufschwung eingesetzt hätte. so kam der ehemalige klosterbesitz 1429 zu bern, das 1481 die rechte, die noch fehlten, mit geld erwarb, und kurz darauf auf dem kirchberg die heutige kirche errichten liess.

1640 baute man von bern aus den bestehenden fussgängersteg zu einer hölzernen fahrbrücke aus, die 40 hochwasser überstand, bis sie 1865 durch eine eiserne, 1963 durch die bestehende betonbrücke ersetzt wurde. 1965 kam der anschluss an die autobahn n1 hinzu. die beabsichtige fusion zwischen kirchberg und rüdlingen-alchenflüe scheiterte 1973 in der volksabstimmung, obwohl man längst eine kirchgemeinde war und gemeinsam infrastrukturen unterhielt.

die ältesten gewerbebetriebe in kirchbern sind bleichereien, druckereien und der engroshandel, allesamt von unternehmerisch denkenden kaufleuten lanciert, die in burgdorf abgewiesen worden waren. mit ihnen änderte sich die fast ausschliesslich landwirtschaftlich geprägte umgebung. 1871 wurde in kirchberg ein eigener handwerker- und gewerbeverein begründet, die spar- und leihkasse sowie der eisenbahnanschluss eröffnet, was die industrielle entwicklung mit tuchfabriken, webereien und aluminiumwalzwerken einleitete. heute leben gut 5000 menschen in kirchberg, und in rüdlingen-alchenflüe sind es mehr 2000. auf zwei einwohnerInnen kommt eine arbeitsstelle vor ort, verteilt auf 270 betriebe.

die soziologie von kirchberg

eingeladen vom bürger-in-forum kirchberg hielt ich am montag abend einen vortrag in der gemeinde. thema war das verschwinden der mittelstandsfamilien. dass die normfamilie und die kinderzahlen zurückgehen, ist keine eigenschaft des subzentrums an der emme. was den mittelstand betrifft, kommt es auch in kirchberg auf die definition an.

der alte mittelstand mit landwirtschaft und gewerbe ist zweifelsohne vielerorts rückläufig. das hat mit dem wirtschaftlichen strukturwandel zu tun, zum teil auch damit, dass der mittelstand sich immer klar nach oben und unten abgrenzte, die protestantische erwerbsform des familienbetriebs hochhielt und die zugehörigkeit zu gewerbeorganisationen zur voraussetzung für wirtschaftliche tätigkeit postulierte. die neuen mittelschichten – facharbeiterInnen und angestellte – sind demgegenüber wachsend, definieren sich offener via bildung, berufsposition und einkommen. sind flexibler, auch was wohn- und arbeitsort angeht. wer gut verdient, kann aufsteigen, wessen einkünfte sinken, dem droht indessen der abstieg. luxus ist nicht angesagt, ein auto aber schon, und auch auf technische ausstattung zuhause, auswertige ferien, gesicherte altersvorsorge und gute schulen für das kind will man nicht verzichten. viele kinder zu haben, ist gerade bei schweizerInnen mit guter ausbildung kein vorrangiges ziel mehr, bei ausländerInnen mit patriarchalen familienvorstellungen schon noch.

polititisch hat man sich die breiten mittelschichten von der mitte längst losgesagt; heute dominieren bindungen an die svp oder sp, je nach vorrangigem weltbild: rechts ist das die bedrohung durch die migration, links sind es die ungleichen entwicklungschancen. das ist auch in kirchberg nicht anders. bei den letzten nationalratswahlen kam die svp auf 32 prozent, die sp auf 21, wobei die frauenliste stärker abschnitt als jene der männer. mit den grünen machte das linke lager sogar 29 prozent aus, klar mehr als die ehemals staatstragende fdp, die unter einem fünftel der stimmen blieb.

der rückblick auf eine woche eindrücke aus kirchberg

im coop-restaurant, wo ich heute zum mittagessen war, um mit ganz normalen menschen zu sprechen, werde ich von hilfsbereiten frauen, die den betrieb mit verve führen, auf kindergerechte einrichtungen achten, und eine freundliche atmosphäre unter die leute bringen, bedient. das alles wirkte harmonischer als die markantesten voten, die mir vom montag her geblieben sind. denn sie beklagten die privilegien der asylsuchenden, die mehr zum leben hätten, als arbeitenden schweizer nach ihren steuern übrig bliebe, beziehungsweise nervten sich an den superreichen, welche keine gemeinschaftliche verantwortung mehr tragen wollten und damit die mittelschichten ausbluten würden.

und so mache ich mich, voll von eindrücken zu geschichte und gegenwart in kirchberg, an die emme, grüsse im vorbeigehen adelheid, die reformation, die brückenbauer, die händler und gewerbler, die mittelschichtsfamilien und die polparteien nochmals, um in ruhe ein wenig durch die landschaften zu wandern …

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bieler bilinguisme auf dem prüfstand

es war eine tolle tagung. 180 vertreterInnen aus biel/biennes wirtschaft, gesellschaft und politik kamen zusammen, um sich über die zweisprachigkeit der stadt zu diskutieren. ich habe das einleitungsreferat gehalten. auch weil ich bilingue vortrage. vor allem aber, weil ich seit 12 jahren der zweisprachigkeit in der stadt biel/bienne beobachte.

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vor meinem referat nahm mich werner hadorn, bieler lokalpolitiker, zur seite. er hatte seinerzeit angeregt, man möge die probleme im zusammenleben einer mehrsprachigen stadt regelmässig diskutieren und beobachten und zu lernen. dafür unternahm er auch studienreisen entlang der deutsch-französischen sprachgrenze. in strassburg / strasbourg besuchte er das zentrum des bilinguisme und erörterte er mit dem direktor die möglichkeiten von beobachtungsinstrumente. der habe ihn in die bibliothek geführt, und ihm das baromètre du bilinguisme aus strassbourg gezeigt. und genau das wollte er in der folge für seine heimatstadt auch haben.

die arbeiten hierzu, die ich seit 1998 leiste, zeigen im wesentlichen drei sachen: die zweisprachigkeit ist in biel/bienne zu einem teil der stadtidentität geworden. alle indikatoren verweisen im zeitvergleich auf eine bewusstere und positiver eingestelltere bevölkerung. sie legen aber auch offen, dass die minderheit, die französischsprachigen, eine weniger vorteilhafte sichtweise auf das ganz haben als die mehrheit, die deutschsprachigen.

ich habe daraus drei these abgeleitet: erstens, ist die zweisprachigkeit der stadt für die politik und die öffentlichkeit von vorteil. zweitens, bin ich sicher, dass es ohne ohre die pflege der mehrsprachigkeit in wirtschaft und alltag viele nachteil gäbe. und drittens habe ich die bielerInnen aufgefordert, gleichzeitig stolz zu sein, dass sie ein vorzeigebeispiel sind, sich deshalb aber nicht auszuruhen und daran zu arbeiten, dass die ausstrahlung als vorbild zunimmt.

der kritische punkt ist, wie fast überall, die wirtschaft. wenn sprachliche minderheitsposition mit ökonomischer ungleichheit, sprich schlechterstellung übereinstimmt, gibt es schnell explosive problemlagen. in biel/bienne arbeitet man daran, muss man auch. die meisten firmen haben eine leitsprache, in der die dokumente verfasst werden. teilweise werde sie übersetzt, im mündlichen umgang hat sich die mehrsprachigkeit (nicht zweisprachigkeit) schon länger durchgesetzt. vorbildliche firmen bieten sprachkurse an, achten bei der postenbesetzung auch, keine diskriminerungen entlang der hauptsprache zuzunehmen.

das ist umso wichtiger, als der trend fast überall in die umgekehrte richtung geht: die segregation zwischen den sprachgruppen nimmt zu. man lebt vor allem nebeneinander, im schlechteren fall gegeneinander. das ziel müsste anders sein:. so stark wie nur möglich miteinander zu leben.

die zentrale motivation dafür ist, die horizonte zu erweitern, sprachen zu lernen, kulturen besser zu verstehen, und damit einen beitrag zur gesellschaftlichen entwicklung zu leisten. in biel/bienne ist man, habe ich an der tagung gelernt, überzeugt, nicht zuletzt deshalb nicht nur vor ort erfolge zu erzielen, sondern auch ausserhalb der stadt, auf den weltmärkten dank diesem bewusstsein wettbewerbsfähiger zu sein.

que les indicateurs montent avec le prochain sondages du baromètre du bilinguisme.

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wanderkarte des reichtums in der schweiz

der basler soziologieprofessor ueli mäder ist mit einem forschungsteam auf wanderschaft gegangen. er hat mit und über reiche gesprochen, seine mitarbeiterInnen haben statistiken ausgewertet und den mediendiskurs über reiche in der schweiz ausgewertet. herausgekommen ist ein stattliches buch mit dem titel “Wie Reiche denken und lenken“, das gestern im rotpunktverlag erschienen ist. dabei geht es um reichtum in unserem land, ihre geschichte und aktuelle fakten, wie man es sonst kaum präsentiert bekommt.

reichaufgefallen ist mir vor allem die karte der wohnorte mit 100 superreichste seite 316. an ihrer spitze steht der schwedische ikea-gründer ingvar kamprad (zirka 35 milliarden chf) im bernischen gstaad, wo sich auch ernesto bertarelli, bernie ecclestone und gunter sachs aufhalten. für mäder ist es typisch, dass die neureichen städte meiden. bevorzugt werden aussichstreiche see- oder hanglagen, mit direkter wasser- oder bergsicht. stadtnähe gehört immer noch zu den vorteilen, denn da lockt namentlich das kulturelle angebot.

die karte zeigt, dass der zürich-, zuger, vierwaldstätter-, luganer- und genfersee ganz besonders viele superreiche haben. da sind denn auch die meisten steuerparadiese, die mit sehr tiefen ansätzen oder pauschalabkommen milliardäre locken. nach den stadtstaaten singapur und hongkong hat die schweiz zwischenzeitlich die grösste dichte von ihnen auf der ganzen welt.

genf wiederum wirbt mit dem ruf der internationalen stadt, exklusiven privatschulen und banken, die auf vermögensverwaltung spezialisiert sind. anders ist basel, das sich kunst- und kulturmetropole empfiehlt und so den alten geldadel, den daig hält, nicht aber neureiche wie roger federer, daniel vasella oder marcel ospel. die ziehen steuergünstige gemeinden der innerschweiz zu ziehen.

in zürich und zug gibt es ebenfalls zahlreiche der superreichen. in ihrem schlepptau ziehen auch weniger reiche in bestimmte quartiere, wie dem seefeld. dies bleibt nicht ohne folgen, kaufen investoren doch häuser systematisch auf, finden sich aufwendige renovationen oder neubauten in grosser zahl, bis die einheimische bevölkerung die boden- und in der folge mietpreise nicht mehr leisten kann, sodass die soziale durchmischung schwindet. da ist schon mal von “seefeldisierung ganzer quartiere” die rede.

am radikalsten vorgehen wollte in dieser hinsicht der kanton obwalden. reiche können wünschen, wo sie bauen wollen, entsprechend wird umgezont. neun zonen mit bis zu 5000 quadratmeter boden wurden so ausgeschieden, um einkommens- und vermögensstarken personen vorbehalten zubleiben. das war dann doch zu viel des guten: in einer referendumsabstimmung wandten sich am 29. november 2009 62 prozent der einheimischen gegen die errichtung von sonderparks für exklusive lebensweise in den alpen.

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ein jahr vor den parlamentswahlen …

… werde ich sicher nicht sagen, wer gewinnt und wer verliert. gedanken mache ich mir aber, in welchem klima die wahlen stattfinden werden.

Tagesschau vom 24.10.2010

die finanzmarktkrise hat die welt geschüttelt. globale krachten banken in sich zusammen, wirtschaftszahlen brachen weltweit ein, die arbeitslosigkeit stieg allenthalben, die verschuldung der staaten nahm vielerorts zu, und steuererhöhungen werden von zahlreichen regierungen erwogen. auch wenn das alles in der schweiz gemässigter ausfiel, als dies weltweit der fall, ist dabei vieles zerbrochen, was vielen wichtig war: die ubs war nicht mehr garant für stabilität, vielmehr bedrohte sie diese; dem bankgeheimnis wurde die grundlage entzogen, und die managermoral in den internationalen firmen wird vom einheimischen gewerbe und unternehmertum offen in frage gestellt.

gleichzeitig ist unser bewusstsein für gesellschaftlichen konfliktlagen sensibler geworden, denn viele menschen fühlen sich heute unsicher: die migration wird kritischer beurteilt, die schwäche der fast inexistenten integrationspolitik wird klarer benannt, kulturelle entfremdung angesichts neuer alltagskonflikte im öffentlichen raum wird zum thema, überhaupt, das zusammenleben verschiedener konfessionen wird problematisiert. gleichzeitig gibt es verbreitete klagen über die zersiedelung, den kulturlandverlust, und den drohenden kollaps im öffentlichen und privaten verkehr. die öffentlichen finanzen bleiben beschränkt, bildungsoffensiven werden immer seltener und verlaufen immer häufiger im wirrwarr der einzelninteressen, der lange geforderte umbau der sozialwerke ist umstritten, während die krankenkassenprämien ungebremst nach oben schnellen.

das alles heisst nicht, dass wir unsere positive einstellung zur schweiz verloren hätten. mitnichten sogar! genauso wie in vielen europäischen ländern hat auch bei uns der nationale reflex an bedeutung gewonnen. der wunsch nach eigenständigkeit ist wachsend, wenn schon in wirtschaft und kommunikation nicht mehr möglich, dann wenigstens in kulturellen und politischen fragen. die gefährdung kommt aus dem ausland, die lösung liegt im inland. wirtschaftlicher protektionismus, gesellschaftlich kälte und nationalistische frontstellungen haben vielerorts zugenommen. typisch schweizerisch ist es, dass sich das auch auf das zusammenleben der sprachkulturen nachteilig niederschlägt und politische blockierungsgefühle überhand nehmen. gleichzeitig sind immer weniger institutionen in der lage zu vermitteln und gemeinschaftsbildend zu wirken. und massenmedien neigen dazu, das alles zu überzeichnen, um mit der krisendiagnose der eigenen krise entrinnen zu können.

das gemisch, das so entsteht, ist explosiv. der zorn der zeit kann sich daran fast überall entzünden. auch wenn dieser hie und da berechtigt ist, ist er kein guter ratgeber für die unmittelbare zukunft. für diese braucht es ein gemisch aus sensibilität für neue gesellschaftlichen konfliktlagen einerseits, kühlem blut, dort veränderungen einzuleiten, wo sie nötig ist, ohne dabei in hysterie zu verfallen. denn das, was die schweiz ausmacht, ist die zuversicht, für probleme lösungen zu finden, die nicht ideal sind und nicht alle befriedigen, dafür pragmatisch sind und schnell einmal wirken. und genau darauf kommt es an: ob wir die zukunft schwarz oder weiss sehen.

so hoffe ich, dass die klagen auf hohem niveau nicht unterdrückt werden, aber auch nicht überhand nehmen, weil die angst vor der zukunft so zum thema, wird das sie sich produktiv auf die politik und die sicherheit der menschen in diesem land auswirkt.

rendez-vous in einem jahr!

stadtwanderer

der mittelstand ist wieder gefragt

alles spricht vom mittelstand. doch kaum jemand weiss, was das damit gemeint ist. so rede hier wenigstens von der geschichte und gegenwart des phänomens, das man damit in der schweiz in verbindung bringt.

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thomas minder, bürgerlich denkender unternehmer aus dem schaffhausischen und initiant gegen die abzocker-mentalität der banken, hat der stimmungslage des mittelstandes wieder eine stimme gegeben.

die germanische gesellschaft kannte drei stände: den adel, den klerus und die bauern. in die wurde man geboren, was stabilität garantierte. das reichte denn auch, um auch in der alten eidgenossenschaft die soziale realität zu beschreiben, auch wenn in den städten handwerker und kaufleute hinzu gekommen waren.

erst mit der industrialisierung der schweiz nach 1830 änderte sich der charakter der rural geprägten gesellschaft. in den städten wuchs die bevölkerung schneller als auf dem land. ein unternehmerisches bürgertum entstand, und mit ihm bildete sich auch eine lohnabhängige arbeiterschaft aus. beides begann, gewerbe und landwirtschaft zu bedrohen. modernisten verstanden das als unausweichliche entwicklung hin zur zweiklassengesellschaft; traditionalisten verteidigten den neu entdeckten mittelstand als schutzwall gegen kapitalisten und proletarier.

letztlich war beides überzeichnet: denn die viel beschworene gesellschaftliche mitte verschwand nicht, noch blieb sie in ihrer bisherigen form erhalten, weshalb man auch vom alten und neuen mittelstand – und verallgemeinert von mittelschicht – spricht, von den selbständigen im handwerk und bauernstand resp. den unselbständigen unter den facharbeitern, angestellten und beamten, die weder zu den reichen, noch zu den armen gehören.

der historiker albert tanner hat die entstehen und den wandel des begriffs “mittelstand” nachgezeichnet. zunächst hält er ihn für einen typisch deutsche wortschöpfung, ohne wirkliche entsprechung im französischen und italienischen. sodann beinhalte er ein bekenntnis, nämlich das fundament von staat und gesellschaft in der schweiz zu sein, ja das synonym für das volksganze zu sein. schliesslich sei er ein vielfach verwendeter politischen kampfbegriff: die gute ordnung sei daran geknüpft, dass die gruppen der gesellschaft, die weder vom internationalen geschäft, noch von staatlicher unterstützung lebten, für die stabilität der gesellschaft unentbehrlich seien. ein blick in die realität der politik in zahlreichen kantonen zeigt, wie treffend diese schilderung ist.

doch ergab sich das alles nicht gradlinig. gerade während krisenzeiten, wie jener den 30er jahren des 20. jahrhunderts, stellten sich beispielsweise der gewerbe- und der bauernverband gegen jedwelche gesellschaftliche erneuerung. vielmehr belebten sie wirtschaftsvorstellungen, die direkt an die vorindustrielle zeit mit korpationen wie zünften in den städten und zwangsvereinigung zur beweidung von alpwirtschaften anknüften. die konvervative volkspartei, aber auch die neue schweiz übersetzen das nach 1933 in die politik. damit drangen sie nicht wirklich durch, prägten aber den kriseninterventionismus der zwischenkriegszeit.

auf die national und populistische politik verzichteten die exponenten des alten mittelstandes nach dem zweiten weltkrieg. mit der anerkennung der liberalen wirtschaftsartikel 1947 kam die wende. nun befürwortete man rationalisierungen, um im ökonomischen wettbewerb bestehen zu können, und propagierte man selbsthilfe auf betriebs- und verbandsebene als zentrale ziele der mittelstandspolitik.

seit einigen jahren tobt erneut ein kampf um die richtige mittelständischen interessenpolitik. gewerbe und landwirtschaft schwanken beispielsweise zwischen sozialpolitischem antietatismus und forderungen nach protektion von branchen in der globalen wirtschaft. mittelstand wird wieder vermehrt gleichgesetzt mit gesunder mitte sowohl gegen die masslos gewordene klasse der internationalen manager, wie auch der pauperisierten, försorgeabhängigen unterschichten. und, obwohl der begriff soziologisch gesprochen immer inhaltsleerer wird, bezieht sich die politik fast schon inflationär auf ihn: parteien buhlen um den mittelstand, medien thematisieren seine ängste, und sozialforscher belegen verarmungstendenzen.

fast schon symptomatisch: der jüngste wahlkampf in der stadt zürich drehte sich um den mittelstand. im beginnenden abstimmungskampf um die steuerinitiative geht es massgeblich darum, ob die rechte mit dem steuerwettbewerb oder die linke mit dem abbau von privilegien für reiche die bessere mittelstandpolitik betreibe – und auch ich referiere nächste woche in burgdorf zum thema, was den mittelstand in der heutigen zeit umtreibe.

ich muss mir noch echt gedanken machen, wie ich mit dem gängigen, aber unscharfen begriff umgehen will …

stadtwanderer

debattieren will immer wieder gelernt sein

ende monat mache ich einen ausflug ins oberland. zu den debatten an den nationalen konferenz der jugendparlamente. danach will ich im berner oberland auch wandern gehen.

2-1die debatte von elżbieta woźniewska

sicher gab es in meiner jugendzeit gelegentlichen streit mit meinen eltern. doch das war letztlich alles tand. denn die prägende auseinandersetzung hatten wir eines sonntags in einem restaurant nach dem herrlichen braten, als es um religiöse toleranz ging. ich war ein junger gymnasiast, der eben das theaterstück “nathan der weise” des aufklärers gotthold ephraim lessing gelesen hatte, und ich trug die ideen des dramas meiner mutter und meinem vater mit verve vor.

meine eltern, beides katholikInnen, die im sinne des ökumenischen konzils lebten, waren zunächst überrascht. denn meine härteste aussage war, dass keine religion die wahrheit für sich beanspruchen könne, vielmehr alle grossen religionen ausdruck einer kulturellen entwicklung der menschheit seien, die vor gott gleich seien.

mit dieser debatte emanzipierte ich mich zugleich von der kirche wie auch von meinen eltern. mit ihr lernte ich aber auch, dass selbst harte debatten, die tiefe wurzeln der überzeugungen berühren, respektvoll geführt werden müssen, wollen sie nicht einfach kampf mit siegern und besiegten sein, sondern auseinandersetzungen, die alle weiterbringt, im idealfall auf einer neuen stufe der erkenntnis zu einigkeit führt.

nun wurde ich vor einigen wochen angefragt, an der nationalen konferenz der jugendparlamente teilzunehmen. motto der dreitägigen veranstaltung ende oktober, die im berner oberland ausgerichtet wird, ist, “auf dem gipfel debattieren zu lernen”. das hat mich an meine eigene jugendzeit erinnert und angesprochen. erwartet werden 200 jugendliche, die in lokalen jugendparlamenten der schweiz aktiv sind. treffen werden sie sich in interlaken, grindelwald und auf der jungfrau. das wird hoffentlich nicht nur in höhenmetern eine steigerung der debatten geben, die jugendliche selber führen sollen, um die wohl grundlegendste form der politik zu erlernen. mit ihr geht es darum, das pro und contra in einer sache herauszuarbeiten, im wechselspiel der argumente vorzutragen, um das ergebnis von dritten beurteilen zu lassen. denn die weisheit soll aus dem urteil der vielen, die sich so eine meinung bilden, entstehen.

adolf ogi, der ewig junge und zuversichtliche, wird die konferenz wie immer gekonnt eröffnen. dann sind die jugendlichen in zahlreichen arbeitsgruppen an der reihe. ich werde versuchen, im abschliessenden plenum die debatte über die zukunft der politischen schweiz zu bereichern. ich denke, über grundlegende überzeugungen der schweizerInnen zu sprechen, über das politische im alltag und im parlament, über die aktuelle regierungsreform, und über die voraussetzungen, dass die hoffnung angesichts aller polarisierungen, die wir in den letzten 20 jahren erlebt haben, nicht stirbt. denn es geht mir mit dem auftritt darum, dass sich junge menschen, die so eigen sind, bewusst bleiben, jede und jeder einzelne träger der kollektiven weisheit zu sein, an der wir teilhaben, wenn wir uns demokratisch mit uns selber auseinandersetzen …

… und eine tollen ausflug in die natur nicht vergessen!

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gut gelacht, ist halb gewandert

er ist ein original. bald wird er mit mir eine stadtwanderung machen. ich hoffe, wir lachen soviel, wie bei der vorbereitung.

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christian miesch ist nationalrat des kantons baselland. das erste mal, als er gewählt wurde, vertrat er die farben der fdp. dann mochte er sich nicht mehr für diese partei einsetzen. das zweite mal, als man ihn nach bern sandte, hatte er zur svp gewechselt. jetzt politisiert er mit dieser fraktion.

nicht nur freundlich war sein empfang in der neuen partei, erzählt mir der baselbieter. der giezendanner habe ihm drei motionen zum unterschreiben hingelegt. alles asylfragen – lakmustest also! trotzdem habe er die erste eingabe gelesen, dann hätte ihn giezi, wie man den aargauer volkstribun in der svp nennt, gedrängt, schliesslich habe er blind unterschrieben.

zu seinem nachteil. denn die dritte motion handelte von einem speziellen flüchtlingen. es ging um miesch – den parteiflüchtling. sie lautete: christian miesch ist aus dem nationalrat auszuschaffen. und sie trug die unterschrift von christian misch.

das gelächter war ihm sicher. doch humor zeichnet den baselbieter aus – wie kaum einen anderen unter der bundeskuppel. bald schon werde ich mit ihm und einer schar getreuer eine stadtwanderung machen – zur direkten demokratie in bern, der schweiz, stuttgart und überhaupt.

die vorbesprechung fand im restaurant “chez eddy” statt. für draussen war es zu kalt, und so gingen wir hinein – ins fumoir. mir kam es vor wie in einem fixerstübli. doch mein gesprächspartner liess sich nicht abbringen, fragte: “machst du nichts für deine gesundheit?” – und lachte.

drinnen waren wir rasch bei anderen themen: ausschaffungsinitiative, nationalratswahlen und weinbau. sein rebberg ist mieschs hobby. den titterten pflanzt er dort, und selbstverständlich weiss er auch dazu einen witz: in paris würde es ein restaurant geben, der jede weinsorte der welt führe. da gingen zwei aus titterten nach paris und bestellten den einheimischen. der mann im service habe den chef gefragt, was man da bringen solle. der chef schaute auf der karte, wo titterten liegt und entschied: essig. und so wurden den baselbietern essig gereicht. als sie diesen verköstigten, schauten sie sich an und sagten: typisch, den besten wein exportieren sie immer!

das hat mich überzeugt, will diesen titterten sofort ausprobieren, und hoffe, wir lachen noch viel auf der stadtwanderung: denn gut gelacht ist halb gewandert!

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schneckenmigration im zeitalter der globalisierung

christoph oberer ist aus dem baselbiet. das hört man, wenn er referiert. eigentlich ist er studierter historiker. doch die leidenschaft des laboranten am naturhistorischen museum basel gilt den schnecken. wenn er darüber referiert, gibt es fast so viele geschichten zuhören wie schnecken hat.

schneckenschnecken wandern nicht, war einer der hauptsätze am heutigen vortragsabend des bernischen vogelschutzes. doch mit der globalisierung werden sie in alle weltgegenden verschleppt. eisenbahnen und autostrassen transportieren nicht nur menschen und güter, auch schnecken. beispielsweise die spanische wegschnecke, die 1960 mit salaten aus dem süden in die schweiz kam und innert weniger als einem halben jahrhundert zur verbreitetsten schneckenart aufstieg.

die neueste folge der globalisierung an der schneckenfront betrifft die kantige laubschnecke, weiss oberer zu erzählen. eigentlich stamme sie aus süditalien, verstehe ich. über den export von wc-schüsseln verbreite sie sich aber in die halbe welt. am liebsten hätte sie betonwände, wo feines moos wächst, das sie liebend gern frisst. in basel würde es schon millionen davon geben. in bern werde sie bald auch in massen auftreten. eine eigentliche plage sei sie schon in den amerikanischen städten. die lonza forsche bereits nach einem effizienten gift gegen den urbanen eindringlich.

oberer schildert das und vieles anderes in eindrücklichen geschichten, die man so nicht jeden tag zu hören bekommt. das ist zu allererst lehrreich. so weiss ich etwa, dass schnecken zu besten nahrungsverwerten gehören. ihr kot interessiert einfach niemanden mehr. es ist aber auch unterhaltsam, der mann mit dem hund, wie er sich vorstellt, weiss auf jede frage aus dem publikum eine eigängige antwort. vielleicht hätte man sich am ende eines langenvortrages eine einordnung aller überraschungen in eine gesamtschau gewünscht, damit auch einem laien wir mir nicht nur die perlen des vortrages, auch sein roter faden bleibt. doch der referent ist sichtbar kein theoretiker, vielmehr ein lebender praktiker.

vor den schneckenplagen können man entweder kapitulieren. oder man können sie bekämpfen, mit heissem wasser oder gefrieren in der kühltruhe, höre ich an diesem abend. neu im kommen sei, mit schnecken zu flüstern. “das ist dein salat, den kannst du haben, doch die anderen sind mir”, sei das motto der gespräche, mit denen sich sogar die schneckenforschung neuerdings beschäftige. das alles sei viel besser, als schnecken zu zerschneiden, was man das lange gemacht habe. denn das bringe gar nichts, ausser neuen schnecken, weil zerschnittene schnecken proteinbomben seien, was andere schnecken begehrten und zu ihrer vermehrung führe.

ein kurios-tolle sache, so ein abend bei den schneckenspezialistInnen, die einen grossen bogen schlagen von traditionellen schneckenkulturen über globalisierungsmigrationen bis hin zu selbstschutzmassnahmen gegen invasive arten. nur politisch darf man das nicht nehmen, sonst würden aus langsam kriechenden schnecken schnell sich bekämpfende hunde!

stadtwanderer

wenn wählerInnen wandern

ich war diese woche nicht sehr aktiv, mit bloggen als stadtwanderer. denn ich war beruflich stark beschäftigt, mit den wanderungen der wähler und wählerinnen in der schweiz.

es gehört zu den üblichsten politanalysen: wenn bei wahlen eine partei gewinnt, und gleichzeitig eine andere verliert, dann ist klar, wer auf kosten vom wem gewonnen hat.

doch das muss nicht so sein. es könnte auch sein, dass die partei, die gewinnt, bisherige nichtwählerInnen mobilisieren konnte, während die gruppierung, die verliert, solche an die nichtwählenden verloren hätte, ohne dass von allen anderen auch einer die partei gewechselt hätte.

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für eine besser auflösung klicke man hier die datenbank an und schaue dann unter “wählerstromanalysen” nach.

das instrument, um das zu überprüfen, heisst wählerwanderungsanalyse. es funktioniert, nicht nur, aber ganz ordentlich mit umfragen, bei den wählerInnen selber auskunft geben, wenn sie das letzte mal gewählt haben, wen diesmal, allenfalls wen sie das nächste mal wählen würden.

und das sind die ergebnisse meiner beobachtungen zum wählerInnenwandern seit 2007:

die neuen parteien, die glp und die bdp ziehen bisherige nicht wählerInnen an. die sp profitiert ein wenig von den bundesratswahlen, welche ihre denkbaren wählerInnen mobilisiert hat. bei der svp, den grünen und der cvp verlaufen die wanderungen umgekehrt. ein teil der wählerschaften von 2007 ist, wenigstens für den moment, demobilisiert.

die glp ist auch für wechselwählerInnen attraktiv. sie gewinnt zu lasten der grünen, der sp und der fdp. sie ist die einzige partei, die damit lagerübergreifend bisherige wählerInnen für sich gewinnen kann. das gilt bei der bdp nur eingeschränkt, die cvp, fdp und svp unzufriedene wählende anspricht. die cvp kann das etwas neutralisieren, weil sie von der fdp dazugewinnt, diese wiederum, weil sie gegenüber der svp zulegt. alles andere ist kaum nachweisbar.

die dicke der pfeile zeigt an, wie welche veränderungen grösser und welche kleiner sind. generell kann man festhalten: die mobilisierungseffekte sind zwischenzeitlich wichtiger geworden als die auswirkungen durch das wechselwählen.

nun sind wählerwanderungen alles andere als stabil. man kennt letztlich zwei muster von wanderungen: der trend zu mitte und die polarisierung. bis 2007 herrschte letzterer vor, seit einiger zeit, ist er nicht mehr einfach gesetzt. das bild das wir hier haben, gleicht eher dem trend zur mitte, wobei nicht die cvp die attraktivste partei, sondern die neuen angebote mitte/rechts und mitte/links dies sind.

das alles wird durch kampagnen, der themenwahl, den medialen auseinandersetzungen und den personenangeboten beeinflusst. über letzteres weiss man noch sehr wenig, den medienwahlkampf ist schwer vorherzusehen, während bei den themen alle parteien darauf setzen, jene zu lancieren, von denen sie sich am meisten versprechen.

wanderkarten der wählerInnen, die daraus entstehen, werde ich weiter skizzieren, noch sechs solche, wie hier abgebildet, sind bis zu den nationalratswahlen in einem jahr vorgesehen.

so, jetzt ist aber meine deformation professionell aber definitiv wieder vorbei!

stadtwanderer

ein wenig wie die kappeler milchsuppe

1499 gestand könig maximilian den eidgenossen autonomie in seinem reich zu. dabei ging es auch darum, ob die parteiungen weiterhin ein fehderecht haben sollten oder nicht. der eidgenossenschaft haben die zugeständnisse wenig genützt. den schon bald darauf brach die grösste fehde unter allen eidgenossen, der konfessionskrieg, aus, der zum grossen und langen schwanken zwischen blockaden und versöhnungen unter schweizern führen sollte.

levrat_pelli_1_5340048_1269938808antipoden des industriezeitalters: die spitzen von sp und fdp, gemeinsam für eine offene schweiz, unterschiedlich in der einschätzung, wie man das erreicht, haben sich wieder versöhnt, nicht zuletzt auf druck der basen, die andere sorgen haben, als streithähnen zuzusehen.

mit der reformation in zürich 1523 nahmen die spannungen zu konfessionellen fragen in der eidgenossenschaft rasch zu. bern und basel folgten 1528 zürich, sodass sich gewichte in den städten zugunsten der neugläubigen zu verschieben begannen. diese weiteten sich sich zur feindschaft, ja zum bürgerkrieg aus, als der reformierte pfarrer jakob kaiser in schwyz bei lebendigem leib verbrannt wurde. zürich wollte das 1529 rächen, bern folgte dem limmatstädtern, und zug stellte sich ihnen entgegen, um die innerschweiz zu schützen. es brauchte die vermittlung von glarus, halb habsburgisch, halb zürcherisch, um ein sinnloses blutvergiessen zu verhindern.

den friedensschluss erzwang aber auch das fussvolk, das offen fraternisierte, während ihre anführer verhandelten. auf der grenze zwischen zürich und zug stellten sie einen pott auf. die zuger brachten die milch, die zürcher reichten das brot. gemeinsam schlürfte man die milchsuppe, während der kompromiss verkündigt wurde: in den gemeinen herrschaften durften die neugläubigen predigen, nicht aber in den orten, die streng altgläubig bleiben wollten. die untertanen sollten selber wählen dürfen, welcher konfession sie anhängen wollten.

seither gehört die kappeler milchsuppe zu den vorzeigemomenten der schweizer geschichte, der nicht nur nach innen, auch nach aussen ausstrahlte. die schweizer, wie man sie immer mehr nannte, gelten seither als raufbolde, die gründlich vom leder ziehen, sich schliesslich aber auch versöhnen können. und nach innen ist die lehre aus dem kappelerkrieg, dass man nicht immer nur provozieren kann, sondern auch den kompromiss suchen muss, um die eigene autonomie zu wahren.

genau an das musste man unweigerlich denken, als man vom communique las, das fulvio pelli und christian levrat zu ihrem fürchterlichen streit über die departementsverteilung im bundesrat heute veröffentlichten. einen “knallharten lügner” nannte sp-chef seinen kollegen von der fdp vor laufender kamera, sodass dieser einen tag später frei-ins-haus-geliefert mit einer verleumdumsklage drohte. was den medienleute als willkommenes spektakel vorkam, ärgerte schon bald die fraktionsmitglieder hüben und drüben, die sich bekämpfen, aber auch begegnen müssen, wenn sie in der sache bisweilen anderer, gelegentlich aber auch gleicher meinung sind. politisch soll man streiten, ja, auf entgleisungen soll man dabei verzichten, genauso wie aufs fischen im juristenteich, war seither ihr motto hinter den kulissen.

ob man zwischen zwischen bulle und sorengo einen pot aufgestellt hat, um fribourger vacherin mit tessiner wein zu schlürfen, weiss ich nicht wirklich. den beim friedensschluss waren die medien nicht zugelassen, und ich konnte auch nicht von ferne vorbeiwandern. registriert habe ich die symmetrie der entschuldigungen, von unangebrachtem ausdruck bis überreaktion. und ich bekenne: ich finde es gut, dass sich die präsidenten der sp und der fdp wieder vertragen. denn ihre verbindung ist nötig, um die schweiz modernisieren, selbst wenn das nur dialektisch möglich ist und auch in zukunft nicht ohne konflikte zwischen antipoden abgehen wird.

stadtwanderer

dalli-dalli fürs europaweite rauchverbot

europa führte das rauchen ein, europa will es wieder abschaffen.

jean-nicotjean nicot, importierte als erster europäer den tabak, vorerst nur für die oberen schichten, später rauchte auch das volk, sodass man heute etwas gegen die volkskrankheit lungenkrebs unternehmen muss.

die zahl der raucher ist zwar rückläufig, nicht aber bei jugendlichen. in der eu paffen 35 prozent von ihnen. in der schweiz ist der anteil nur unwesentlich kleiner. insgesamt rechnet man mit 650000 toten innert einem jahr aufgrund von lungenkrebs, der durch das rauchen entsteht.

das ist die ausgangslage, auf die sich john dalli, der maltesische eu-kommissar stützt, wenn er nun scharfe massnahmen fordert. in frage kommen für ihn:

giftige und süchtig machende inhaltsstoffe wie nikotin sollen überall deutlich verringert werden.
verpackungen von zigaretten sollen unattraktiv gestaltet werden.
zigaretten sollen in den verkaufsgeschäften nicht mehr sichtbar ausgestellt und schwer zugänglich gemacht werden.
rauchfreie zonen sollen in öffentlichen räumen konsequent umgesetzt werden; in verkehrsmitteln und am arbeitsplatz sollen kippen ganz verschwinden.

starker tobak wird sich da manche(r) sagen. im namen der volksgesundheit werden ihnen da viele antworten. denn die medizin verändert sich rasch: public health ist angesagt, seit man weiss, dass die verbreiteten krankheiten kaum mehr individuell angegangen werden können, sondern nur noch kollektiv.

die eu hat hier eine besondere verpflichtung. denn sie ist die europäische organisation, welche die politiken in den nationalstaaten koordiniert. diese wiederum sind aus dem 30jährigen krieg im 17. jahrhundert hervorgegangen, als schrittweise ablösung der kaiser- und königreiche. und genau in diesem 30jährigen ist das rauchen als volkskrankheit entstanden – aus dem verdruss der soldaten über den krieg.

es hat lange gedauert, bis agiert wurde, doch jetzt soll es dalli-dalli gehen!

stadtwanderer

besuch im ottenleuebad

vor unseren füssen lag der nebel im sensetal. hinter uns war ein bergkamm, auf dem das junge holz, das nach dem lothar-strum gepflanzt wurde, ganz ordentlich wuchs. unmittelbar unter uns war der panoramaplatz von ottenleue. so weit – so klar, doch was bedeutet ottenleue?

panoramatafel-otteleuebad
panoramatafel vor dem ottenleuebad

die verköstigung im garten des ottenleuebads war wunderbar gewesen. eine kalte milchschoggi hatte mich nach der morgendlichen wanderung gestärkt. ein paar jugenderinnerungen kamen auf, und die machten mich zusätzlich fit.

die nachfrage bei der servicefrau ergab, dass das bad seit längerem nicht mehr in betrieb ist. die werbung im hausgang zur toilette verweist auf ähnliches. der stil der 50er und 60er jahre des 20. jahrhunderts dominiert. das kleinkind mit nacktem po wirbt verschämt für nestlé-baby milch und barry, der bernhardiner, tut das gleiche für milka von suchard.

der name ottenleue wirkt noch älter. dass es auf den voralpenterrassen bären gab, ist gut vorstellbar. doch löwen? das wirkt sonderbar. und otto dünkt mich auch kein name, der für den rand der gesellschaft typisch ist.

die sage von h.l., die auf der karte am panoramaplatz erzählt wird, erhellt einen in dieser sache. man wird ins hohe mittelalter zurückversetzt – die zeit der kreuzzüge. otto soll ein bauer aus dem tal gewesen sein, durch das die kalte sense fliesst. begehrt habe er die tochter eines junkers, bekommen habe er sie jedoch nicht. denn der ritter verlangte, einen ebenbürtigen tochtermann zu bekommen und sandte otto nach jerusalem. gesagt, getan! dem vernehmen nach habe otto aus dem sensetal viele moslems umgebracht und das heilige kreuz brav verteidigt, bevor er zum ritter geschlagen wurde. genützt hat ihm das in der heimat indessen nichts. den seine angebetete verstarb, kurz bevor er zurückkehrte, sodass er sich entschied, sich ins tal, aus dem er stammte, in alle abgeschiedenheit zurückzuziehen. auf den terrassen, hoch über dem wasser und wenig unter den tannen, habe er gemerkt, wie lieblich das klima da sei, wie wohltuend die luft wirke und wie günstig sich das schwefelwasser auf seine körper ausgewirke. und so habe er sein herz, das einst einer frau galt, dann wie das von richard löwenherz im nahen osten kämpfte, den wunderbaren weiden am gurnigel geschenkt.

dem bad nebenan, das 1886 aufging, diente diese sage in früheren zeiten sicher. ob’s wirklich genützt hat, kann man bezweifeln. denn die geschichte ist typisch christlich, nicht wirklich unternehmerisch. das gilt nicht nur für das bad im sensetal, es trifft auch auf die ovo zu, die ich genoss. die marke wirkt heimlig, weckte bubenträume, gehört aber längst nicht mehr dem gutgläubigen bern.

stadtwanderer

bald nur noch schall und rauch …

zitat ueli maurer: “Man muss sich wirklich fragen, wohin die Artillerie in diesem Land noch schiessen kann, ohne die eigenen Leute zu treffen.”

ausgerechnet unser vbs-chef spricht im heutigen “bund” darüber, die artillerie der schweizer armee abzuschaffen. nicht nur in sachen armee ist vom saulus zum paulus geworden. nein, nun soll nach dem willen des svp-bundesrates die überbevölkerung der schweiz nicht mehr durch ausschaffungen reduziert werden können. vielmehr ist sie der kapitulationsgrund für unseren ehrwürdigen kanonenpark.

imagesbataille de grandson 1476: die eidgenossen erobern die beste artillerie der damaligen welt

die amee und ich, das wird nie was! jahrelange wollte der bundesrat immer mehr, und ich war für immer weniger. jetzt, wo ich langsam versuche, mein verhältnis zum militär zu normalisieren, macht mir der oberste der obersten im militär einen dicken strich durch die rechnung. sagt doch ueli maurer heute: “Von alten Traditionen Abschied zu nehmen … kann durchaus faszinierend sein.”

also wirklich, da haben wir eigenossen den burgunder herzog besiegt. “in grandson das gut, in murten den mut und in nancy das blut”, lernte meine generation im patriotischen geschichtsunterricht noch. zum erwähnten gut zählte vieles, vor allem aber 400 kanonen, auf die karl der kühne so stolz gewesen war, die er aber stehen liess, als er am neuenburgersee nach dem ersten aufeinander treffen mit den lärmenden und gröhlenden schlägerbanden sein zeltlager fluchtartig verliess.

so kamen wir vor 534 jahren in den besitz des damals grössten artillerieparks der welt. an sich wäre das die waffe gegen die ritter aus österreich gewesen. denn sie schlug selbst in die gepanzersten reihen riesenlöcher. nur, unter den eidgenossen wusste man anfänglich, wie man mit der beute umgehen sollte. das begann schon mit der namensgebung. denn die massiven rohre, aus denen die kugel mittels sprengladung gefeuert wurden, hatten damals noch keine festen untersätze, lagen deshalb häufig einfach im gras, weshalb sie unser vorväter feldschlangen hiessen.

doch dann setzte der geübte umgang mit kanonen ein. was eine richtige stadt war, hatte eine solche beim stadttor. und was ein richtiger schweizer oberst war, der konnte damit umgehen. wenn’s um etwas wichtiges oder feierliches ging, gehörten die böllerschüsse aus kanon zum unumgänglichen auftakt.

nun soll also ernsthaft schluss sein damit. nach der kavallerie die artillerie, sodass man sich fragt, was als nächstes dran kommt: die panzer, die infanterie oder was noch übrig ist? eigentlich bleibt mir nur noch eins: den schwanengesang auf unsere armee anzustimmen. bald, so fürchte ich, besteht die beste armee der schweiz nur noch aus ihrem besten abschaffer!

stadtwanderer

ordnung und fortschritt – die leitbilder aus dem 19. jahrhundert neu aufgelegt

brasilien, das diese nacht einen präsidenten oder eine präsidentin wählt, übernahm sein motto “ordnung und fortschritt” in die flagge. und ohne ihn hätte die soziologie ihrem namen bekommen. eine kleine hommage an auguste comte, den grossen, umstrittenen, vergessenen und wiederentdeckten wissenschafter aus dem 19. jahrhundert.

DSC00431statue von auguste comte, vor der pariser sorbonne, im gedenken an den begründer des positivismus, was mitte des 19. jahrhunderts noch starkes, wissenschaftliches denken mit wirkungsabsichten meinte.

1815 war in der europäischen geschichte ein wendejahr. kaiser napoléon verlor die schlacht von waterloo. die sieger, der russische zar, der österreichische kaiser und der preussisch könig erklärten die revolution für beendet. basierend auf gerechtigkeit, liebe und frieden leiteten sie die restauration der verhältnisse ein.

august comte, ein junger mathematiker aus montpellier, war mit der schroffen gegenüberstellung nicht zufrieden. er begann eine gesellschaftlehre zu entwickeln, welche die anarchie der moderne heilen sollte, ohne auf die konservativen rezepte zurückgreifen zu müssen: ordre et progès wurde zu seinem lebensmotto.

seine ersten schriften verfasste comte für den radikalen sozialreformer henri de saint-simon. sie setzten auf industrielle – unternehmer und arbeiter – und auf wissenschafter. neue arbeit brachten sie dem jungen mathematiker indessen nicht. denn der alte aristokrat publizierte sie unter seinem eigenen namen.

erfolgreicher war comte zweites werk. 1830 erschien der erste band des “cours de philosophie positive”, innert 12 jahren folgten fünf weitere bände. in ihnen rekonstruierte er drei stadien der menschheitsgeschichte: im ersten, dem theologischen, stellten sich die menschen fragen nach dem grund ihrer existenz; zu ihrer antwort schufen sie gottheiten, die gewissenheiten vermittelten. im zweiten, dem metaphysischen stadium, versuchten die menschen, ohne rückgriffe auf außerweltliche instanzen antworten auf die gleichen fragen zu finden. ins positive stadium treten sie, wenn das warum in den hintergrund rückt, dafür die funktionszusammenhänge entscheidend werden. comte glaubte damit, den leitfaden für den übergang in die höchste phase der menschheitsgeschichte gefunden zu haben.

der führenden wissenschaft für die dritte phase hat er den namen gegeben: er nannte sie soziologie, und er definiert ältere vorstellungen von gesellschaftslehren in seinem sinn um. soziale tatbestände sollten sich auf wissenschaftliche fakten stützen. und wissenschaft sollte stets anwendungsorientiert sein. soziale physik und soziale technik hätte man das auch nennen können. später ging comte noch weiter. im 1851 erschienen “système de politique positive” begründete er die theokratie oder gottesherrschaft neu, denn seine wissenschaft wurde nun zur religion – allerdings mit dem menschen und ohne gott an der spitze der schöpfung.

mit dieser wende spaltete comte seine anhängerschaft: die republikaner, meist französische linke, hielten dem modernen rationalisten comte aus den 1830er jahren die treue. soziologie war und ist für sie die disziplin, die der prognose künftiger gesellschaftlicher entwicklungen dient und politik so auf eine sichere basis stellt. die rechten konservativen wiederum feierten den comte der 1850er jahre, der die soziale harmonie mit hilfe eines neuen glaubens, befreit von alter wissenschaftsgläubigkeit, herstellen wollte.

noch heute steht die statue von auguste comte vor dem eingang zur pariser sorbonne. der umstrittene soziologe ist allerdings weitgehend in vergessenheit geraten. neu gelesen hat ihn jüngst wolf lepenies, der ehemalige rektor der berliner wissenschaftskollegs. er schildert ihn als mischung aus dem griechischen philosophen aristoteles umd dem christlichen apostel paulus. die versuchte klammer über all seine gegensätzlichkeiten habe comte zwischen stuhl und bank fallen lassen, auf denen die gesellschaftstheorien der linken und rechten bis heute ruhten.

régis debray, der frühere mitstreiter von che guevara, hat comte zu seinem 150. todestag wieder auferstehen lassen. anders als marx, meinte er zu seiner hommage an den grossen franzosen in filmform, habe comte das kernproblem der moderne vorausgesehen: die gefährliche illusion, “der Mensch könne sich ohne religiöse Bindungen in der Welt halten.” lepenies selber arbeitet an der zweiten wiederentdeckung comtes: den zeichen, die für die vermittlung von wissen in die massen unabdingbar seien, denn das wort alleine schaffe das nicht.

brasilien weiss das nur zu gut. es hat comtes motto in die nationalflagge übernommen. und brasilien lebt zwischen der hoffnung aus religiöser ordnung und aus materiellem fortschritt. wohl auch diese nacht, wenn der oder die präsidentIn neu gewählt wird, sodass lula da silva für höhere weihen in der weltpolitik aufsteigen könnte. auguste comte hätte es mit sicherheit gefreut.

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bärbi bei den zugvögeln

flugschauen mag ich eigentlich nicht. die von diesem wochenende ist aber sympathisch. denn es krachen keine flugzeuge ineinander, vielmehr schwärmen die zugvögel wohlgeordnet vom kalten norden in den warmen süden.

bärbi kennt man als regelmässige kommentatorin auf dem “stadtwanderer”. dafür hatte die kommunikationschefin des schweizer vogelschutzes heute jedoch keine zeit. denn es war der internationale vogelzugtag. ihr einsatzort war die hintere arni-alp im bernischen emmental, wo die sektion wasen dieses wochenende eine der 56 schweizerischen beobachtungsstationen betreibt. was mann und frau vorbeifliegen sieht, wird in die zentrale gemeldet; morgen wird zusammengezählt, um zu wissen, w0 in etwa wir stehen beim grossen vogelzug des jahres.

Tagesschau vom 02.10.2010

den fischadler habe bärbi heute als erste gesehen, erzählte sie dem stadtwanderer. leider war die kamera von sf noch nicht bereit – das hätte sich einen superstreifen gegeben. doch auch so finde ich den beitrag von helmut scheben in der tagesschau des abends ganz toll – stimmungsvoll, informativ und mit einer klaren stossrichtung: die vielfalt der natürlichen lebensräume nimmt in der schweiz ab; vogelarten verschiedenster art verschwinden angesichts der zersiedelung des nätürlichen raumes ganz oder werden nur noch selten gesichtet.

was trotz diesen widerwärtigkeiten fasziniert, ist die intelligenz der schwärme, die sich friedfertig gegenseitig helfen, ihre wege finden und an ihre ziele gelangen – und das ohne jede karte und ohne auch nur einmal einen kompass zu gebrauchen. das haben sie den menschenmengen deutlich voraus.

stadtwanderer

historische fakten der gegenwart

timothy garton ash ist der historiker der gegenwart. alle 10 jahre bringt er ein neues buch heraus, indem er auf die jeweils jüngste dekade der weltpolitik zurückblickt. eben erst sind seine weltpolitischen betrachtungen 2000 bis 2010 unter dem titel “jahrhundertwende” bei hanser erschienen.

jahrhundertwende“Hätten wir die Fakten über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen gekannt oder auch nur gewusst, wie unzuverlässig die diesbezüglichen Geheimdienstinformationen waren, hätte das britische Parlament wohl kaum für einen Krieg im Irak gestimmt. Vermutlich hätten selbst die Vereinigten Staaten gezögert. Damit wär die Geschichte des Jahrzehnts anders verlaufen.”

der schriftsteller timothy garton ash, professor für zeitgeschichte in oxford (gb) und stanford (usa), journalist für den englischen guardian, leitet so seinen virtuosen überblick über die ersten 10 jahre des 21. jahrhunderts ein. geprägt sind sie durch die lüge, die nicht nur lebensgeschichten schönt, nein, vielmehr zum obersten mittel der weltpolitik avancierte. umso eindringlicher fordert der historiker seine kollegInnen an den universitäten, in den fachmagazinen und im journalismus auf, zuerst nach den tatsachen zu suchen. denn die “Fakten sind die Pflastersteine mit denen wir die Strassen unserer Analysen bauen.” wohin die strassen führen, weiss man nicht mit bestimmtheit, schreibt er im vorwort, ihre wegmarken in vergangenheit und gegenwart jedoch müssen unerbitterlich geprüft sein.

das jüngste jahrzehnt nennt der beobachter seiner zeit auch das des faktenarrangements. genauso wie polittechnologen in moskau würden meinungsmacher in washington daran arbeiten, die grenzen zwischen realität und virtualität zu vernebeln, um, unterstützt durch möglichst viele, möglichst lang an der macht zu bleiben. seine geschichte der gegenwart entstehen als reportagen oder essays im dreiklang von recherche, lokaltermin und reflexion. an seiner universität in oxford gibt es riesige bibliotheken, fachkollegInnen für alles und studierende aus der ganzen welt. das ist seine primäre basis. die sekundäre entsteht am ort des geschehens, dem grössten privileg der zeithisgtoriker. schliesslich zieht er sich in sein arbeitszimmer zurück, um in ruhe schreiben und die tertiäre grundlage seiner bücher zu legen.

was dabei herauskommt, ist ein kaleidoskop der gegenwart, besser noch der verschiedenen gegenwarten. mit “Ein Jahrhundert wird abgewählt” resümierte er schon die 80er jahre des 20. jahrhunderts; es folgte die “Zeit der Freiheit” über das nachfolgende jahrzehnt. seiner neuesten dekade mag der gelehrte noch keinen wirkliche namen geben, denn ihr charakter wie auch ihre dauer seien noch unbestimmt. vorläufige stichworte sind der aufstieg nichtwestlicher mächte, insbesondere chinas, die herausforderung durch die erderwärmung und die krise des kapitalismus. die usa hält er trotz des neuen präsidenter barack obama für die wahrscheinlichste verliererin, gefolgt von europa, das zu wenig bereit sei, zu merken, was rund herum geschehe.

wer bis 2020 warten mag, liest dann vielleicht die erste würdigung des jahrzehnt der lügen, wie man es trotz allen bedenken einmal nennen könnte. die fakten hierzu kann man jetzt schon haben, ordentlich strukturiert in 50 essays zu “samtenen revolutionen”, “europa und andere kopfschmerzen”, “islam, terror und freiheit”, den “usa”, dem “jenseits des westens” und zu “schriftstellern und tatsachen”. beispielsweise wie orwells biografie gekämt wurde und günter grass seine ss-mitgliedschaft lange verschwieg, um nur zwei typischen fakten unserer gegenwart zu erwähnen, die lust auf mehr wecken könnten.

denn an einem so herrlichen herbsttag wie heute liest sich sich das buch, das timothy garton ash dem verstorbenen deutschen soziologen ralf dahrendorf zum 80. geburtstag widmete, ganz besonders lieblich …

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