berns moderne zeit: materialiensichtung über-, spurensicherung unterentwickelt

da mache ich mir gar nichts vor: ich werde aus diesem buch noch 1000 mal zitieren. dennoch bleibt ein schaler nachgeschmack bei der lektüre zu “Berns moderne Zeit“, dem letzten band in der neuentdeckung der berner geschichte, zurück.

5377begegnung zwischen tradition (rechts) und moderne (links) im 19. jahrhundert: albert ankers kleinkinder- schule

der anspruch ist grandios: denn in diesem buch geht es um nicht weniger als politik, gesellschaft, wirtschaft, kultur des kantons bern seit die französischen truppen das ancien regime beendet und den kanton in bewegung gesetzt haben. texte und anhänge, von peter martig herausgegeben, erstrecken sich über fast 600 seiten. charlotte gutscher und sandra hüberli, welche die bildredaktion besorgten, liessen das werk reichlich illustrieren.

zuvorderst wird man in das bild albert anker “Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke” eingeführt. dabei geht es um ein treffen zwishen tradition und moderne, symbolisiert durch kleidungen, aber auch durch verhältnisse. denn kinderkrippen entstanden als städtische einrichtungen während der krise der agrarwirtschaft, die zu einer landflucht und damit zum anwachsen der städte führten. das ganz ist programm. denn es geht darum, wie die bernerInnen mit der moderne umgehen gelernt haben.

was so gebündelt beginnt, ufert danach leicht aus: mehr als 100 autorInnen haben zum buch beigetragen, über 150 kapitel sind so entstanden. meist widmen sie sich einem klaren thema, sind sie vorbildlich kurz gehalten. in der regel sind in deutsch abgefasst, une minorité des chapitres est écrites en français.

da geht es um regierungsstatthalter als mittler zwischen volk und verwaltung, um flüchtlinge aus deutschland. erzählt werden die körpergrössen der berner und hinrichtungen in langnau. nicht fehlen können je ein kapitel über verdingkinder, die fasnacht und badekulturen im kanton. spannung verheissen berichte über katastrophenkulturen, käsefieber und medizinaltechniken. porträtiert werden der berner bahnhof, bond und bollywood. die rede ist auch von jeremias gotthelf, dem grossen berner schriftsteller wie auch von anna tumarkin, der ersten professorin europas, die in bern lehrte.

man wird gar nicht fertig, den superlativen facettenreichtum dieses buches zu würdigen. postkarten tragen genauso dazu bei wie unveröffentlichte fotos. zeichnungen, stadtpläne, bilder, karikaturen, fotos, und faksimilierte dokumente beeindrucken einen seite für seite, egal, ob sie aus der frühen moderne des 19. jahrhunderts, dem höhepunkte der berner geschichte vor dem ersten weltkrieg, oder dem umbruch in der späten moderne, in der wir heute leben.

und dennoch. wenn man das buch bildlich und textlich durch hat, befällt einem das gefühl, heerscharen gelehrter hätten ihre zettelkasten aus jahrelangen recherchen über einen ausgeleert. und genau da mischt sich die faszination über den rechtum des wissens mit der erschrecken über dem ungeordneten historismus der gegenwart. denn es macht den anschein, alles in bern habe geschichte geschrieben. der bundesrat ganz sicher, die burgergemeinde wohl auch, ebenso die arbeiter, die frauen, die juden, die künstler, die nobelpreisträger, ja selbst die bourbaki-armee bekommen etwas vom aussergewöhnlichen ab, das einem den eingang in ein geschichtsbuch öffnet.

dabei ruft niemand halt und fragt, wo steht der kanton eigentlich?

man hätte sich gewünscht, dass man als abschluss des buches eine oder einen kennerIn der berner entwicklung, ihrer gegenwart, vergangenheit und zukunft gebeten hätte, nicht nur zurückzuschauen, sondern auch auf die seite zu gucken und nach vorne zu blicken. um die leserInnen aufzuklären, was an alle dem, was berichtet wurde, in anderen kantonen auch geschah, was in bern verspätet passierte und wo der kanton führend war. und um die frage zu beantworten, die doch so drängend vor der türe steht: nämlich ob bern nicht nur eine monumentale geschichte hat, selbst in den 200 jahren der moderne, sondern auch eine ebenso tragende zukunft, in den 200 jahren, die kommen.

denn geschichte ist nicht nur bienenfleissige selbstbeoachtung. sie ist auch kritische selbstvergewisserung und nachdenkliche selbstreflexion, um nicht berge von informationen aufzuschütten, sondern auch die wege aufzuzeigen, die die erhebungen hinauf und hinab führen. leider muss ich da sagen: auf dieser spurensuche fühlt sich der wanderer durch berns räume und zeiten ziemlich alleine gelassen.

stadtundlandwanderer

die illusion der geschichte beim wandern in cudrefin

vor uns wellt der neuenburgersee, hinter uns läuft der mont vully aus. dazwischen liegt das stsädtchen cudrefin. ein wanderungsbericht mit geschichten aus dem ort, dem hause savoyen und der familie longchamp.

800px-Cudrefincudrefin von montet aus, mit neuenburg im hintergrund.

mit der juragewässer- korrektur im 19. jahrhundert verkleinerte sich der neuenburgersee. seither hat es zwischen dem landstädtchen cudrefin und dem seeufer platz für einen hafen mit zahlreichen segelschiffen, ein strandbad mit ausgedehntem schilf und ein restaurant, baywatch genannt, sodass an einem warmen sommertag wie heute ferienstimmung aufkommt.

4000 bis 5000 campingleute zählt cudrefin während des sommers. ihnen stehen knapp 1200 ortsansässige gegenüber. die meisten von ihnen sind französischsprachig, eine minderheit spricht deutsch, und die kolonie aus portugal ist die dritte sprachgemeinschaft im waadtländischen landstädchen.

letzter höhepunkt in der stadtgeschichte war die versammlung schweizer diplomaten am ort. 1997 war das, unter der leitung von bundesrat jean-pascal delamuraz. der platz vor der stadt trägt seither seinen namen.

eigentlicher stadtherr ist peter von savoyen. 1246 erwarb der spätere graf den platz vom bischof in sitten, der ihn 999 aus der hand des burgundischen königs geschenkt bekommen hatte. vermutlich war er damals schon besiedelt, aber nicht befestigt.

der drang nach norden steckte im savoyer. nach dem aussterben der zähringer übernahmen seine vorfahren moudon, später wurde peter herr von romont und payerne. die natürliche fortsetzung des weges über avenches und morat blieb ihm indes versperrt, nicht zuletzt weil die orte zum bischof in lausanne und zum kaiser im reich hielten. so wählte peter den pfad über cudrefin, um bei oltingen über die aare ins mittelland vorstossen zu können. das war nicht ohne, peter war ja eine weile schutzherr von bern.

die grossen gegenspieler der savoyer, die habsburger, seit 1273 deutsche könige und förderer von lausanne, kannten, wie schon hundert jahre zuvor die zähringer, den umgekehrten drang nach süden. so kam man sich regelmässig in die quere.
1283 eroberten die habsburger murten, dann payerne und behielten beide orte bis zum tod von rudolf I. erst danach gelang den savoyern der direkte durchstoss nach norden; murten, den entscheidenden platz, nahmen sie 1310 ein und behielten es bis zu den burgunderkriegen.

cudrefin verlor in dieser zeit an herrschaftlicher bedeutung. der graf von grandson, auf der anderen seeseite im süden gelegen, übernahm die verwaltung der stadt. 1393 kam es zum aufstand gegen ihn und zum gottesurteil durch adelskampf. die aufständischen unterlagen; das städtchen cudrefin, das zu den oppositionellen hielt, wurde erstmals zerstört.

von der viereckigen gründungsstadt sieht man bei einer heutigen wanderung kaum mehr etwas. was im 14. jahrhundert überlebte, wurde 1475 bei der freiburgischen besetzung zerstört, und was man danach noch hatte, legte ein stadtbrand im bernischen provinzstädtchen im zeichen der revolutionäre aufstände 1790 in schutt und asche. den schlusspunkt unter die stadtzerstörungen setzen die bürger von cudrefin selber, als sie 1839 die beiden grossen wehrtürme und die stadtmauern abtrugen, und das heutige hotel de ville bauten. übrig geblieben aus früheren zeiten ist der gerechtigkeitsbrunnen aus den zeiten, als man in der gegend bernische untertanen war. und ein turm aus savoyischen zeiten, der zum kirchturm mutierte, ziert den ort.

erlebbare geschichte ist im landstädtchen an den gestaden des neuenburgersee jedoch zur weitgehenden illusion geworden.

schön ist die aussicht von montet aus, wo die heute reformierte kirche von saint theodul steht, die an den patron der wanderer, christen und weintrinker aus dem wallis erinnert. im frühling 1957 arbeitete mein vater da, als ihn die nachricht erreichte, er müsse sofort nach hause, denn es stehe nachwuchs im hause longchamp an – worauf ich das licht dieser welt erblickte …

stadtwanderer

weg womit?

gut heisst er. was er heute bietet, ist schlecht.

bundesrat

hätte es noch eines beweises bedurft, dass das vulgäre an (fast) keiner mediums- grenze mehr halt macht, dann wäre er spätestens heute erbracht worden. denn in der nzz karikiert peter gut wie immer samstags den entscheid des bundesrates in sachen atomausstieg mit den vier bunderätinnen, einzig mit einem kühlturm bekleidet, in aufreizender pose. untertitel ist: “weg damit!”

selbstverständlich fragt man sich womit?

mit der kernenergie?
mit dem feigenblatt?
mit den bundesrätInnen?

machen wir uns nichts vor, in der 162jährigen geschichte der schweizerischen eidgenossenschaft ist das der erste spektakuläre entscheid, den eine frauenmehrheit im bundesrat gefällt hat. nicht nur der ausstieg ist von historischer tragweite, auch der zusammensetzung von mehr- und minderheit gebührt die würdigung. “weg damit” unterstellt, die vier zustimmenden bundesrätinnen hätte es sich leicht gemacht. in einer art kurzschlusshandlung entschieden, die folgen nicht bedacht. das sind die worte der kritikerInnen, die ehrenswert sind, solange auf die sache zielen. diese darf dabei aber nicht verstellt werden. beschlossen wurde ein geordneter, mittelfristiger ausstieg. niemand will akws sofort abstellen, denn alle wissen, dass die sicherheit der versorgung, aber auch der menschen über allem stehen muss.

war mit weg damit gemeint, unsere bundesrätinnen müssten ausgezogen, wie sklavinnen auf dem jahremarkt der belustigungen vorgeführt und einmal tüchtig gezüchtigt werden? der visuell übersättigten mediengesellschaft ist das durchaus zuzutrauen. gerade politikerInnen werden seit ruth metzler auf ihr äusseres reduziert, teilweise mit widerstand, teilweise mit augenzwinkern und teilweise auch mit kalkuliertem gewinn. wie andere formen der personalisierung ist das alles ambivalent. es kann die aufmerksamkeit für politische botschaften erhöhen, es kann sie aber auch bis zur unkenntlichkeit überlagern. das ist namentlich dann der fall, wenn politikerInnen, ja bundesrätInnen, zu sex-objekten für die männerbünde in der politöffentlichkeit werden. die aufregung war gross, als jüngst die juso die spitzen der internationalen wirtschaft in der schweiz sinnbildlich entblöste, um sie für ihre politisches anliegen ohne rücksicht auf minimalstes sittliches empfinden zur schau zu stellen. die justiz musste einschreiten, um remedur zu schaffen. bleibt abzuwarten, was mit der durchaus vergleichbar unschicklichen nzz-karikatur geschieht.

denn weg damit kann in der postfeministischen äre der politischen diskurse auch bedeuten, dass man sich der frauen im bundesrat entledigen sollte. mindestens eine ist ja schon seit ihrer wahl auf der abschussliste. von einer zweiten sagt man, ihre karriere stehe im herbst des politikzyklus’. bei den beiden anderen war man bisher noch vorsichtiger. denn mindestens in den umfragen der sonntagspresse sind sie nicht nur die mitunter bekanntesten politikerinnen, sondern auch die beliebtesten im land. soll sich das nun alles vorbei sein? haben die magistratinnen mit ihrer atomentscheidung den politischen kredit verspielt? bei der wirtschaft, sagt man jedenfalls, um beizufügen, dass auch ihre sozialmoralische integrität in der gesellschaft in frage gestellt sei. wer so skandalisiert, will wohl eines: dass die bundesversammlung der frauenförderung in der politik endlich den riegel zu schiebt und wieder männern in die höchsten posten des staates wählt.

ich habe diese woche eine längeres gespräch gehabt mit einem kollegen – einem schweizer politikwissenschafter, der lange in den usa lebte, unserem land aus der distanz eng verbunden blieb. er erzählte mir davon, wie er mitbekommen habe, dass ein präsident einer nationalen partei in der beiz schlechte witze über ein der bundesrätinnen erzählt habe. das alles war vor fukushima und der kritisierten karikatur. mein gegenüber sagte mir, er habe den parteipräsidenten zur seite genommen, sich vorgestellt, als spezialist für konkordanz und gesprächskultur, um sich über den dramatischen zerfall der schweizerischen politkultur zu beklagen, in der nicht mehr der kampf um gegensätzliche standpunkte zähle, sondern die möglichst offen zur schau gestellte respektlosigkeit.

sexistische herabstufungen politisch andersdenkender ist kein fortschritt in der entwicklung der schweiz, für den mindestens in meiner vorstellung die nzz noch steht. es ist ein rückschritt, der nicht besser wird, wenn er mit gut signiert ist. denn das bild und seine symbolik sind und bleiben schlecht.

stadtwanderer

erinnerungsorte und erinnerungshorte

niemand mehr, der oder die das 19. jahrhundert selber erlebt hat, ist heute noch auf der welt. das saeculum ist stück für stück von der erfahrung in die erinnerung gewandert. doch selbst das änderte sich mit dem 19. jahrhundert historisch. denn kein jahrhundert zuvor ist schon zu seiner zeit medial so verewigt worden wie eben das 19.

die-verwandlung-der-welt-id4600019jürgen osterhammels buch “Die Verwandlung der Welt” ist seit dem erscheinen 2009 in den allerhöchsten tönen gelobt worden. als meilenstein der deutschsprachigen geschichtsschreibung hat man es gefeiert, und es dauerte kein jahr, da gab es für den konstanzer historiker preise und ehrungen zuhauf.

zu osterhammels originellen beiträgen über das 19. jahrhundert zählen seine ausführungen zur selbstbeobachtung und gedächtnis, die sich zwischen französischer revolution und erstem weltkrieg geändert haben.

zahlreiche städte aus dem mittelalter wurden im 19. jahrhundert drastisch verändert. es fielen die stadtmauern mit ihren toren, hinzu kamen eisenbahnschienen, bahnhöfe sowie industrie- und wohnquartiere. das alles kann man heute noch sehen. hören kann man das 19. jahrhundert in der oper. zwar schon früher entstanden, wurden gerade die europäische wie die chinesische oper zur führenden kunstform auf der bühne, die heute noch nachhalt.

zur gleichen zeit wurde das archiv der staaten populär, es entstanden vielerorts die bibliothek und das museum. geboren wurde die weltausstellung als neue form der selbstbeobachtung. mit der industrialisierung und der urbanisierung nahm nicht nur das symbolische, auch das schriftliche zu. die sozialreportage wurde erfunden, es multiplizierten sich die reisebeischreibungen. die literatur wurde realistisch, die welt vermessen und kartiert, und die soziologie als diagnose der gegenwarten entstand in paris.

zahlreiche volkszählungen haben ihren ursprung im häufiger werdenden nationalstaat. mit der demokratisierung der republiken und monarchien entstand die presse, die sich zum informationsmittel der massen und zum nachrichtenwesen rund um den globus entwickelte. last but not least ist das 19. jahrhundert die zeit des bildes. mit viel pomp wird die meschheit mit der fotografie beglückt, und genau zum ende der zeitspanne entsteht mit dem film das bewegte bild. das entfernte kam so ganz nah, und ins reale mischt sich das fiktionale.

vordergründig ist es nur ein sprachspiel, das jürgen osterhammel in sein monumentales werk über die verwandlung der zeit einfügt. demnach hat das 19. jahrhundert nicht mehr nur seine erinnerungsorte. in einem bisher unbekannten masse wird es auch durch erinnerungshorte geprägt. hintergründig trifft die metapher die entwicklung der damaligen zeit genauso wie die schätze, die sich mit der zweiten welt der medien für die historie eröffnen, von denen man für frühere zeiten nur träumen kann.

eine tolle anregung, neu durch bern zu wandern, um das 19. jahrhundert zu hören, zu sehen und zu lesen.

stadtwanderer

aussteigen

berns schülerInnen, die gestern lautstark durch die stadt zogen, nahmen die historische entscheidung des tages vorweg. denn heute hat der bundesrat beschlossen, dass sie schweiz aus der kernenergie auszusteigen soll.

HBWh4WVs_Pxgen_r_900x592drei szenarien hatte die bundesregierung heute vor augen: weiterfahren wie bisher, moratorium für den bau neuer kernkraftwerke und ausstieg aus der kernenergie. sie entschied sich nach einer vierstündigen diskussion für letzteres. aussteigen heisst für den bundesrat aber nicht abschalten. das wurde in den letzten wochen klar. keine ernsthafte partei forderte das auch heute. es heisst aber, dass in der schweiz kein neues kernkraftwerk mehr gebaut wird. die bestehenden bleiben am netz solange ihr betrieb sicher ist, dann werden beznau, mühleberg, gösgen und leibstadt schrittweise abegschaltet und die stromversorgung aus der kernenergie läuft aus.

nach fukushima fühlten sich die umweltorganisationen, unterstützt von den rotgrünen parteien mit ihrer akw-kritik bestätigt. sie mobilisierten die anti-akw-bewegung neu und drängten auf den ausstieg, je schneller, desto besser. massgeblich war aber der schwenker der bdp, denn erst das hatte die bürgerliche mitte unter druck gesetzt und die mehrheitsverhältnisse aufgeweicht. bei der cvp scheint das eine wirkung im gewünschten sinne gezeigt haben, bei der fdp nicht.

die wirtschaft, vertreten durch economiesuisse, wollte sich die zukunft nicht verbauen, wie sie es sagte und optierte für eine fortsetzung der kernenergie, wohlwissend dass auch zentrale akteure in der energiebranche der meinung sind, ein neues kernkraftwerk könne nach dem unfall in japan nicht mehr gebaut werden. denn dafür wird ein volksabstimmung nötig sein, bei der man ohne klar veränderte rahmenbedingungen kein ja zur kernkraft erwarten könne.

wer heute wie gestimmt hat, weiss man nicht wirklich. am wochenende noch wurde in der presse heftig darüber spekuliert. calmy-rey, sommaruga und widmer-schlumpf galten als befürworterInnen des ausstiegs, maurer, burkhalter und schneider-ammann als gegner. unbekannt war die position der volkswirtschaftsministerin leuthard. ihr wechsel ins uvek im letzten herbst wurde immer wieder damit begründet, sie müsse der schweiz die atomzukunft sichern. umgekehrt war nach fukushima klar geworden, dass sie es war, welche das laufende verfahren für die neuen rahmenbewilligungen sistierte. so wie die cvp den entscheid kommentiert, hat die energieministerin heute für die energiewende votiert, was heissen würde, die vier frauen im bundesrat war fürs aussteigen, die drei männer dagegen.

so wie ich die schweizerInnen einschätze, wird die versorgungssicherheit ein wichtiges thema bleiben: stromausfällen und und energierationierung steht sie negativ gegenüber. doch heute ist die sicherheitsfrage nicht mehr alleine eine der kraftwerksbetreiber. denn ihre vision der technologie ist mit jedem unfall verblasst. die bevölkerung selber blieb stets zurückhaltend.für das nachdenken über alternativen fanden sich mehrheiten, für den ausstieg nie. ungelöst blieb (und bleibt) die endlagerfrage. vor die wahl gestellt, freiwillig auf ein akw in mühlberg verzichten, sagte vor wenigen wochen noch eine knappe mehrheit der bernerInnen nein. nach fukushima lehnte aber kantone wie die waadt ein tiefenlager für radioaktive abfälle deutlicher noch ab. andere, wie der kanton jura, sistierten entsprechende abstimmungen, wissend, was dabei herausgekommen wäre.

den trend in der ausstiegsdebatte setzten die grossen städte. eine um die andere beschloss in regierung, parlament und mit volksmehr den ausstieg aus der kernenergie auf zeit, ähnlich wie es der bundesrat jetzt tut. der ist klarer in der frage der investitionen. die energieeffizienz muss gesteigert werden, und das geld für neubauten soll in erneuerbare energieträger geleitet werden.

die schülerInnen, die gestern mit ihrem streik und mit ihrem protest die stadt aufrüttelten, wussten das. ob sie auch wussten, dass die schweiz, vertreten durch ihre regierung, heute einen ausstiegsentscheid fällen würde, kann bezweifelt werden. wohl hofften sie es, und wohl dachten sie auch, dass es wieder nicht reichen würde.

nun soll alles anders kommen. der bundesrat wird gefordert sein, seinen entscheid sauber zu begründen und ihm taten folgen zu lassen. das parlament wird noch in seiner alten zusammensetzung im juni 2011 darüber beraten, und da wird sich zeigen, wie stabil die politischen verhältnisse in dieser frage sind. nicht zuletzt ist jetzt damit zu rechnen, dass auch die wahlen vom herbst zum gradmesser werden, wie sich die schweiz ihre zukunft vorstellt – jetzt ohne atomenergie.

stadtwanderer

20 minuten für ein bild und einen text

zuerst war ein plakat. dann ein spannungsaufbau. und jetzt die lösung. mit exklusivem bericht beim “stadtwanderer”.

topelement
offizielle version der rätsellösung gemäss 20 minuten – die inoffizielle gemäss stadtwanderer folgt …

seit einigen tagen hängt an bester lage beim berner hauptbahnhof ein plakat. gezeigt wurde ein mann – von hinten. die gepflegte frisur, das dunkle haar mit wenig grau meliertem dazwischen erinnert einen – an einen bildschnitt aus dem “club”. doch auf dem plakat findet sich kein name. dafür reichlich politisches. “spannungsaufbau” nennt man das in der politwerbung.

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das seien seine kernbotschaften im nationalratswahlkampf, erklärte gestern mittag matthias aebischer dem reporter von “20 min“. der wollte über den unbekannten auf dem bild berichten, denn heute soll das rätsel aufgelöst werden. kandidat aebischer will sich um 180 grad drehen (nicht politisch) und seinen wählerInnen inskünftig direkt in die augen sehen.

mit dem stadtwanderer haben die beiden kommunikationsfachleute jedoch nicht gerechnet. aufgefallen war mir das plakat ende letzter woche, und es war mir klar, dass ich daraus eine geschichte machen werde. schliesslich ist meine “ali kebap” geschichte immer noch die meist gelesenste auf dem stadtwanderer.

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“früh, sehr früh” starte die kampagne, gebe ich dem fragenden reporter zur antwort. denn personenentscheidungen würden in der regel erst im herbst fallen, “in den 6 wochen vor der wahl.”

er habe nur ein kleines budget zur verfügung, kontert aebischer, deshalb wolle er auffallen, bevor es alle anderen auch versuchen, begründet er seinen auftritt wider den mainstream.

“hält er das durch?”, will der reporter wissen.

sicher bin ich mir nicht. werberisch wäre das nur mit einer grossten stange geld möglich. doch das schafft nicht einmal c.b. aus h. publizistisch kann man es mit einer ereignishaften wahlkampagne versuchen, die früh aufmerksamkeit erheischt, und das interessen dann journalistisch hoch hält.

dass man das risiko eingeht, hat wohl mit der situation auf der sp-liste zu tun: andre daguet tritt vorzeitig zurück, macht damit platz für seinen wunschnachfolger. lumengo, der ausgetretene, kandidiert wieder, aber auf einer eigenen liste. und auf der männerliste der berner sp hat es drei promis, die einsteigen wollen: alex tschäppät, der stapi, jacques de haller, der ober-arzt, und eben matthias aebischer, der mann, den man vom tv kennt.

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ich habe verschiedene tv-mitarbeiter kennen gelernt, die ihre bekanntheit für eine politische karriere nutzen wollten. der erste war toni schaller, in den 90er jahren chefredaktor. er verrechnete sich, als er der wählerschaft kurz und bündig mitteilte, “ich bin kandidat”. weder wurde er für den landesring zürcher regierungsrat, noch scahffter er es in nationalrat. sein scheitern begründete gar das ende des ldu. besser machte es filippo leutenegger, ebenfalls chef der leutschenbach-redaktionen, als er sich für ein nationales parlamentsmandat bewarb. er hatte bemerkt, dass es nicht nur um bekanntheit, sondern auch um positionierung geht, wenn man gewählt werden will. vermutet hätte man, dass er für die svp antreten würde, effektiv fand man ihn auf der fdp-liste wieder. um sein liberales credo zu kommunizieren, erzählte der quereinsteiger allen von seinem privat initiierten kinderhortprojekt. familie ja, aber ohne staatsknete, kam da rüber.

äbischer, heute bekanntlich nicht mehr beim fernsehen, dafür lehrbeauftragter für tv-journalismus in freiburg und winterthur und hausmann, setzt noch deutlicher auf themen: familie, bildung, öv und erneuerbare energien sind seine schwerpunkte. rhetorisch fragt er, wer sich dafür einsetze. er und sein sp kann man ab heute auf dem gewendeten plakat nachlesen.

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übrigens, mein überraschender kurzauftritt während der fotosession sorgte für eine kleine aufregung. spätestens mit meinem schnapschuss aus meiner kamera wurde allen klar, dass ich hierzu bloggen werde. eigentlich ganz gut in einer ereignishaften kampagne, dachte ich mir. doch dem berichterstatter von der geschriebenen presse wurde sofort klar, dass ich schneller sein könnte, der primeur damit futsch sein könnte. denn mehr als 20 minuten brauche ich nicht, um ein foto aufs web zu bringen, und einen text dazu zu stellen. damit die kirche im dorf und matthias im gespräch bleibt, einigte wird uns auf eine einvernehmliche publikationsabfolge …

stadtwanderer

bern und die stadtentstehungstheorie

mittelalterliche städte wie bern wurden vom adel aus gründen des machtausbaus gegründet. städte wie bern sicherten weiträumige verbindungen, erschlossen ihre region mit märkten und wurden mit mauern vor feinden geschützt.

der walisische geograph harald carter entwickelt in den 70er jahren des 20. jahrhundert eine eigentliche stadtentstehungstheorie. er nannte vier gründe, warum es zu städten kommt:

. den hydraulischen grund: örtlich begrenzt verfügbares wasser begrüdet die stadtentwicklung
. den theologischen grund: ein räumlich fixiertes heiligtum steht am anfang der stadtentwicklung
. den ökonomischen grund: ein markt bildet die grundlage der stadtentwicklung
. den militärischen grund: der schutz in form einer mauer bildet den anstoss der stadtentwicklung.

bern
die zähringerstadt aus dem frühen 12. jahrhundert

wendet man dies auf bern an, merkt man als erstes, was nicht zutrifft. von wassermangel kann man in der furchigen landschaft des aaretals generell nicht ausgehen. bern war bei seiner gründung auch kein religiöses zentrum; das lag in köniz, von dem man in kirchlichen fragen anfänglich abhängig blieb.

die gründung und frühe entwicklung der stadt bern war von herrschaftlicher absicht. der weg von freiburg im breisgau, der ersten zähringischen stadtgründung, nach lausanne sollte städten in regelmässigen abständen erschlossen werden. die lage von rheinfelden, herzogenbuchsee, burgdorf, freiburg, murten, milden/moudon können so gedeutet werden, und bern sicherte die verzweigung nach thun ins oberland, nach freiburg ins üechtland und nach murten durch die seenlandschaft.

bern war von beginn weg ein marktplatz, der aus dem aareübergang im bereich der heutigen untertorbrücke entstand. diese gab es bei der stadtgründung noch nicht. so soll erst ein halbes jahrhundert später gebaut worden sei; zu zeiten der zähringer führten indessen eine fähre an der traditionsreichen stelle über die aare. vielleicht gab es schon vor der stadt eine warenumschlagplatz; sicher ist, dass mit der stadtgründung ein markt entstand, auch wenn auf keine separaten platz, sondern auch der langen gasse durch den ort stattfand. anfänglich diente er als umschlagplatz für lokale produkte aus dem oberland, insbesondere felle von tieren, aber auch eisenwaren, getreide und fleisch. erst in der zweiten hälfte wird bern an den fernhandel angeschlossen, bekommt die stadt ihr eigenes kaufhaus, mit dem auch einflussreiche familien entstehen, die als kaufleute geld machten.

die gründungsstadt kannte noch keine mauern. die aare bot schutz, und am ende der ersten stadt, beim heutigen zytglogge war ein tiefer graben. eigentliche stadtmauern kamen erst mit den savoyern auf, welche in den 1260er jahren mit den habsburgern im krieg standen. dafür baute man die burg an der aare ab mit deren steinen man die stadt sicherte.

ausgehend von carters typologie kann man sagen. bern ist im verbindungsnetz des zähringischen freiburg im breisgau als etappenort an strategisch wichtiger stelle entstanden. die stadt diente den stadtgründern in der mutterstadt freiburg im breisgau, 1118 entstanden, als einnahmequelle, beschaffte sich ihrerseits geld aus dem lokalen handeln. wie in vielen anderen mittelalterlichen städten überwiegt das herrschaftliche bei den motiven für die gründung 1191. die stadtentwicklung wurde durch wirtschaftlichen und militärische gründe, sicher nicht theologische bestimmt. hydraulische scheiden schon im voraus aus.

stadtwanderer

lehrmeinungen zu ortsnamen – zum beispiel zu bern

seit über 100 jahren tobt ein deutungskampf, wofür der name “bern” stehe. diese woche wurde von der uni bern eine neu-alte lehrmeinung verbreitet, wonach bern mit verona verwandt sei und direkt auf die zähringischen stadtgründer zurück gehe. ich zweifle.

ankuendigungthomas franz schneider ist ortsnamenforscher an der uni bern. gemeinsam mit seinen kollegInnen gibt er das voluminöse ortsnamenbuch des kanton bern heraus. gestern ist der vierte band der umfassenden serie erschienen.

in der begleitmusik des bund diese woche begründete der basler germanist die neu-alte lehrmeinung, wonach bern eine übersetzung von verona sei und von den zähringern erfunden wurde.

die zähringer waren nach dem tod von kaiser heinrich iii. nicht wie erwartet herzöge von schwaben geworden, erhielten als entschädigung aber den herzogstitel von kärnten. das glück, das sie dabei in verona suchten, fanden sie nicht, und schon bald zogen sie sich aus dem südländischen abenteuer zurück. unter kaiser heinrich V. begannen sie dafür ihre expansion vom stammsitz bei freiburg im breisgau nach süden, während der sie im 12. jahrhundert mehrere städte der heutigen schweiz aufbauten oder neugründeten.

ferdinand vetter, professor für deutsche literatur, verbreitete 1880 erstmals die auffassung, bern sei ein einzigartiger name, der populären sage über den dietrich von bern entlehnt, die auf den ostgotenkönig theoderich zurückgehe, der in verona (eigentlich bern) seinen widersacher odoaker besiegt habe und den ort berühmt gemacht habe. dem widersprach vor gut 100 jahren paul hofer, berner historiker, weil er der germanischen begründung des ortsnamens misstraute. vielmehr leitete er den namen bern aus dem keltischen “berna” ab, meist mit kluft oder schlitz übersetzt. sein argument war weniger literarisch, dafür im geografisch verbreiteten vorkommen von der silbe “bern” ab. daraus schloss er, es handle sich um einen flurnamen, der eine enge stelle oder eine lanschaftskluft, die herrschaftlich interessant war.

der germani(sti)schen lehrmeinung der heutigen berner ortnamenforscher habe ich gestern nach der vernissage des neuen ortsnamenbuches für den kanton bern schon mal widersprochen. thomas franz schneider setzte sich gelehrt zu wehr, wohlwissend, dass die ortsnamenkunde keine exakte wissenschaft ist, in hohem masse bei deutungen stehen bleibt, für die es einige wenige belege gibt. die lassen sich bei weitem nicht immer in eine logik einreihen lassen, aus der eine klare these mit belegen entsteht. so sind lehrmeinungen für die toponomastik typisch geblieben, von denen sich in flall von bern mindestens zwei recht schroff gegenüber stehen.

aus der wenig befriedigenden situation für die wissenschaft, habe ich eine unüblichen schluss gezogen: es geht nicht darum, weitere belege für ortnamendeutungen aus alten chroniken, landkarten oder dem volksmund zu suchen, sondern wandern zu gehen. wenn es gelingt, ortsnamen in den ort einzubinden, hat man den wohl besten beweis für seine entstehung gefunden, denn orte wurden von unseren vorfahren immer wieder nach dem benannt, was sie selber hergaben. und das kann man heute noch nachvollziehen oder sich ausmalen, wenn man die entstehung der zivilisation in der landschaft studiert.

haben den literatisch gebildeten forscher schneider deshalb zu einer stadtwanderung an die aare eingeladen, die uns ins nydegg-viertel führen wird, wo wir den schlitz suchen und finden werden, durch den die aare seit tausenden vor jahren muss und der dem ort seinen sinn mit einem namen gab, bevor er durch die nachfolger der zähringer umgedeutet wurde.

stadtwanderer

wettstein, die eidgenossenschaft und ihre souveränität

johann rudolf wettstein gilt als der mann, der 1648 die unabhängigkeit der eidgenossenschaft vom kaiserreich erwirkte. nun ist seine biografie aus dem jahre 1935 neu aufgelegt worden, die eine kleine kontroverse über die souveränität der schweiz in gegenwart und geschichte ausgelöst hat.

413-Z1kLQnL._SL500_AA300_1935 veröffentlichte mary lavater-sloman das buch „Der Schweizerkönig“. porträtiert wurde darin johann rudolf wettstein, der legendäre basler bürgermeister, der am friedenskongress zur beendigung des „Dreissigjährigen Krieges“ die unabhängigkeit der eidgenossenschaft verhandelt hat.

neuauflage der biografie

nun ist das buch von der deutsch-schweizerischen winterthurerin 2011 im römerhof-verlag in zürich in leicht redigierter form eben erst neu erschienen. ob ich es zur lektüre empfehlen würde oder nicht, weiss ich nicht wirklich. obwohl aufgrund von quellen verfasst, gleicht die erzählung mehr einem historischen roman als einem geschichtswerk. denn es werden auch geschichten erzählt, die literarischer natur sind, um durch gegensätze spannungen zu erzeugen, die einem beim lesen der biografie vorantreiben soll.
ich weiss aber, dass die buchpublikation vor wenigen wochen eine kleine kontroverse mit grundsätzlichen fragen ausgelöst hat. angefangen hat dies mit dem nachwort, verfasst vom unternehmer und emeritierten zürcher philosophieprofessor georg kohler, dem flugs eine buchbesprechung aus der feder des herrliberger unternehmers und alt-bundesrat christoph blocher in der bücherbeilage der „NZZ am Sonntag“ gefolgt ist.
worum geht es? letztlich nicht um die biografie von johann rudolf wettstein. denn sie ist zu vielschichtig, um in einer politischen debatte der gegenwart eine eindeutige zeugin für eine partei zu sein.
1594 geboren, vermählte sich der 17jährige johann mit anna marie falkner; der ehe entsprangen 9 kinder. der 22jährige setze sich nach einer ehekrise richtung süden ab, trat in venezianische dienste ein, bevor er landvogt und schliesslich bürgermeister basels wurde, ein amt, das er bis zu seinem tode 1666 innehatte. überhaupt, die wettsteins waren alles andere als alteingesessene basler. erst 1579 hatten die zürcher einwanderer das bürgerrecht erworben. auch johann rudolf war nicht in basel ausgebildet worden. seine sporen als kontorist verdiente er sich im waadtländischen yverdon ab. einmal erster bürger seiner stadt, vertrat er jedoch ganz ihre interessen. im bauernkrieg von 1653 vertrat er gegenüber den aufständischen im baselbiet die harte hand der gottgewollten ordnung, liess er doch die anführer des aufstandes, die sich als gute eidgenossen gegen die obrigkeit vestanden, kurzerhand enthaupten. als grosses vorbild für das einfache volk taugt er damit überhaupt nicht.
wettsteins staatpolitische leistungen besteht sicherlich darin, 1646 ohne einladung zum treffen der möchtigen den rhein hinunter nach münster gereist zu sein, und ohne mandat der tagsatzung die sache basels und der eidgenossenschaft mit grossem verhandlungsgeschick vertreten zu haben, sodass er ein jahr später mit einem brief des kaisers und einem vertrag der garantiemächte in seine heimat zurückkehren konnte.

die kontroverse
um das, was das alles bedeutete, geht es in der kontroverse über wettstein und die eidgenossenschaft. doch da hilft die biografie nicht weiter. wie unsere älteren geschichtsbücher interpretiert sie nämlich das vertragswerk des westfälischen friedens als moment des austritts aus dem kaiserreich. das mag für die niederlande richtig und für die weltgeschichte sogar wichtig sein. auf die schweiz trifft es kaum zu, selbst wenn wir alle in der schule gelernt haben, dass sich die schweiz 1499 de facto, 1648 de jure aus dem kaiserreich verabschiedet habe.
kronzeuge für die neuinterpretation ist der schweizerisch-finnische historiker thomas maissen, geschichtsprofessor in heidelberg. er spricht nicht mehr von austritt der eidgenossen aus dem reich deutscher nation, weil das den damaligen eidgenossen gar nicht in den sinn gekommen wäre. 1499 wie 1648 habe der kaiser die eidgenossen von berpflichtungen des reiches ausgenommen, ihnen ihr gewohnheitsrecht bestätigt, und sie privilegiert, indem sie vor neuen verpflichtungen befreit wurden. für basel sei dies wichtig gewesen, denn der status der reichsstadt, die erst 1501 zur eidgenossenschaft stiess, blieb bis zum westfälischen frieden ungeklärt; für die eidgenossenschaft habe es sich mehr um eine bestätigung von privilegien und autonomie gehandelt. auch von einem souveränen afuftritt einer geeinten schweizerischen nation kann man 1648 nicht sprechen, denn die innere feindschaft seit der reformation blieb nicht ein zweidritteljahrhundert über den westfälischen frieden hinaus für die eidgenossen konstitutiv, war auch darin zum ausdruck kam, dass wettstein für die minorität der reformierten am treffen der grossen weilte, nicht aber der katholiken.
die zeitgenossen bejubelten die unabhängigkeit 1648 nicht, wie man das aus gegenwärtigen staatsgründungen kennt. sie verstanden sie auch nicht als das, eher als exemption, als ausnahme von reichspflichten. aus dem reichsverband schied die eidgenossenschaft denn auch erst 1806, bei der auflösung des kaiserreiches, sodass der dtatus der werdenden schweiz 1815 auf dem wiener kongress mit der selbständigkeit, mit garantien für grenzen und mit der neutralisierung des landes mitten in europa verbindlich festgelegt wurde.
1648 wurde die schweiz also alles andere als souverän. das letzte argument dafür ist, dass das konzept hierfür entwickelte der französische staatstheoretiker jean bodin im 16. jahrhundert in das völkerrecht eingeführt hatte, es von den eidgenossen aber erst in der zweiten hälfte des 17. jahrhunderts, als es nützlich erschien, die unabhängigkeit vom reich zu begründen, die jedoch mit dem Preis einer abhängigkeit von frankreich erkauft wurde. denn souverän war in dieser zeit der absolutistische könig frankreich, wie er mit louis XIV. vertreten wurde, während das volk seine souveränität erst mit der französischen revolution erreichte, als der bisherige souverän auf dem pariser marsfeld geköpft wurde.

geschichtspolitikerkritik
so mutet es in vielem als zeitgenössische geschichtspolitik an, wenn vordenker der gegenwart dem neuaufgelegten buch von mary lavater-sloman einen ganz bestimmten sinn abzugewinnen versuchen. hilfreich sind nur die hinweise, dass bürgermeister wettstein in den etappen zur selbständigkeit der Schweiz eine wichtige vollbracht hat; ideologisch mutet es an, wenn ein milliardär in franken den armseligen basler als wahren republikaner preist. hilfreich ist auch, dass das erscheinen der biografie weder 1935 noch 2011 zufällig war. übertrieben wirkt es jedoch, die neuauflage des Buches zum reloading des guten schweizers zu verklären.
denn die eidgenossenschaft erstarkte nicht, weil es solche vorbilder zweifelsfrei gab, sondern weil sich die eidgenossen später entschieden, nicht nur ein verteidigungsbund gegen aussen mit kriegsrat im innern zu sein, sondern auch eine schicksalsgemeinschaft zu werden, die sich stets ihrer selbst vergewissert, ohne zu vergessen, nicht nur sich, sondern auch andern verbunden zu sein. erst diese kombination macht sie souverän.

stadtwanderer

der härteste wahlkampf

grossbritannien will nichts von einer wahlreform wissen. die konservativen haben dem majorz die stange gehalten. in der schweiz ist alles anders, seit der kanton tessin zum 1890/1 zum proporz gewechselt hat, um den politischen konflikt zu entschärfen. ein rückblick aus aktuellem anlass.

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arnold künzli, aargauer unternehmer, politiker, oberstkorpskommandant, und “vater” des proporzwahlrechts im kanton tessin

der tessiner putsch von 1890

bei den tessiner wahlen von 1890 krachte es gewaltig. die konservativen machten 51 prozent der stimmen, bekamen aber zwei drittel der sitze. unüblich war das damals nicht, denn man bestellte die parlamente, ganz gemäss angelsächsischem vorbild, nach dem majorzverfahren. doch die wahlen von 1890 befriedeten den konflikt zwischen konservativen und liberalen nicht. sie beförderten ihn förmlich.

angefangen hatte alles mit der klosteraufhebung durch den freisinn in den 1850er jahren. 1875 schlug das pendel zurück. die siegreichen konservativen bevölkerten die klöster wieder, räumten dafür bei der freisinnigen lehrer- und beamtenschaft auf. die angespannte lage eskalierte nach den grossratswahlen 1889. die konservativen siegten hauchdünn, mit 51,5 prozent, stellten aber mehr als zwei drittel der grossräte. als sich die konservative regierung weigerte, eine wahlrechtsreform durchzuführen, kam es zum eklat. der 11. september 1890 gilt das stichtag des tessiner putsches. die freisinnigen scharfmacher erschossen einen konservativen regierungsrat.

die eidgenossenschaft intervenierte im arg zerstrittenen kanton. 1400 mann eidgenössischen truppen wurden entsandt. an ihrer spitze stand oberst arnold künzli. der unternehmer und politiker aus dem aargauischen riken bei murgenthal konnte auf eine bemerkenswerte karriere zurückblicken: gemeindeammann war er gewesen, er hatte im aargauischen gross- und regierungsrat gewirkt, bevor er nationalrat wurde. 1879 präsidierte er diesen, um danach in verschiedenen mission im namen der eidgenossenschaft zu wirken.

künzlis engagement im tessin war zwischen autoritativer macht, politischem gespür und knallharten verhandlungen angesiedelt. als erstes musste er die revolution stoppen und die gewählten, aber gestürzten behörden wieder einsetzen. dafür galt es, eine zustimmung zur wahlrechtsreform durchzusetzen.

mit dem damals neuen proporzwahlrecht für behörden sollte die verfeindeten lager gezwungen werden, aus der position der minderheit miteinander zusammen zuarbeiten. machtteilung war das rezept der inneren befriedung. 1919 wurde es erstmals auch landesweit eingesetzt, um die sozialen spannungen zu mindern. das war das ende der bipolarität zwischen freisinn und katholisch-konservativen, denn es entstanden mit der sp und der bgb zwei neue flügelparteien, welche in die regierungen auf bundes- und kantonsebene drängten.

die oberst künzli gesellschaft
1994 gründeten einige murgenthaler unternehmer die oberst-künzli-gesellschaft. in der stattlichen villa des politikers aus dem 19. jahrhundert versammelt man sich regelmässig, um kulturelle, wirtschaftliche und politische anlässe zu feiern. referenten der letzten jahre waren franz blankart, benedikt weibel und peter spuhler. gestern war der stadtwanderer an der reihe!

zufall oder absicht? man hatte mich gebeten, über das wahljahr 2011 zu sprechen. ein bisschen aus dem nähkästchen des wahlforschers habe ich gesprochen. zuerst anhand des aktuellen wahlbarometers. dann als politikwissenschafter, der trends in gesellschaft, medien und politik analysiert. zum schluss wagte ich auch eine kleine einordnung der anstehenden wahl in den zeitgenössischen kontext.

die politische polarisierung der gegenwart

natürlich ging es um die aktuelle polarisierung. wird 2011 ein neuer rekord in der parteipolitischen polarisierung bringen, der der traditionellen mitte das genick bricht? oder kommt es zu einer mässigung durch neuen brückenbauer wie die glp oder bdp? genau weiss man das heute noch nicht, man kann aber das plus und minus der polarisierung bilanzieren. zu ersterem zähle ich die enttabuisierung verdrängter themen in der konkordanz, die klarere frontstellungen zwischen nationalkonservativer und linksliberalen grundhaltung, und die wieder anziehenden beteiligung der bürgerInnen an der nationalen politik. doch mag ich nicht verschweigen, dass das ganze auch nachteile hat. zum beispiel die ungleich stark gewordenen politischen kräfte, welche die zusammenarbeit erschweren. oder der hang zum fundamentalismus, der den pragmatismus untergräbt. und die focussierung auf personen, entweder hübsch aussehen und medial vergöttert werden, oder zielscheibe übler attacken durch politische gegner werden.

damit waren wir bei einem anliegen der oberst künzli gesellschaft. auf den ersten blick hätte man meinen können, das sei eine der typischen vereine von eidgenossen mit schnauz. daran sind auch zwei sachen richtig. die 40 mitglieder sind alles männer. und einige haben auch bemerkenswerte barthaare. doch dann entpuppte sich die gesellschaft als versammlung interessierter und aktiver staatsbürger, die viele fragen jenseits der parteipolitik stellten.

wie die kleine kontroverse beim anschliessenden nachtessen zwischen kernenergiebefürwortern und photovolatik-distributeuren zeigte, muss man überhaupt nicht immer ein meinung sein. auf tote im eigentlichen und übertragenen sinne sollte man aber generell verzeichten – ganz nach dem vorbild der starken persönlichkeit aus riken bei murgental, wie man wieder aufleben lässt.

ein erfreulicher abend. ganz im sinne des stadtwanderers, den es auf das land verschlagen hatte. und besten dank für die biografie von klaus plaar zu arnold künzli, die ich auf dem heimweg gleich ganz verschlang.

stadtwanderer

stell dir vor, es ist europatag, und einer denkt dran!

der heutige 9. mai ist europatag – gedenktag der gründung der (vorläuferorganisation der) eu im jahre 1950 und seit 1985 offiziell begangen. ein geeigneter moment, die scheuklappen der helvetischen politik in dieser sache abzulegen.

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dieter freiburghaus, bei sich zuhause in solothurn, während des interviews zum verhältnis schweiz – europäische union für die unternehmerzeitung

vor einige tagen schrieb ich, zu den kommunikativen folgen des atomunfalls von fukushima gehöre, andere themen von der agenda verdrängt zu haben. damit meinte ich insbesondere, dass es keine eu-debatte mehr gäbe, weder von befürworterInnen noch von der gegnerschaft, aber auch nicht von den bilateralistInnen. ganz zu scheigen von den politexpertInnen.

mit einer ausnahme: dieter freiburghaus, vormals professor für politikwissenschaft am lausanner idheap, nimmt in der unternehmerzeitung kein blatt vor den mund – und stimmt offenbar mit mir überein: “Don’t ask, don’t tell”, zitiert er einen grundsatz der amerikanischen armee. denn sie hätte gewusst, auf schwule in ihren reihen angewiesen zu sein, es aber nie aussprochen.

das schweizerische tabuthema sei, dass die souveränität auch mit den bilateralen leide. die schweiz sei wirtschaftlich auf die integration im eu-binnenmarkt angewiesen. alles andere, wie vermehrte exporte nach china, sei angsichts der grössenordnungen, über die man spreche, augenwischerei. 1992 suchte man mit anderen eine institutionelle lösung über das ewr-abkommen, das in der volksabstimmung scheiterte. 2000 kam es zum abschluss der bilateralen verträge, die 2005 durch die bilateralen II erweiterte werden konnten. bei den bilateralen III steht die schweiz in brüssel indessen an. nach eine vorwarnzeit von rund zwei jahren.

“Wir können der EU beitreten, wir können am EWR teilnehmen, oder wir können die institutionellen Fragen bilateral verhandeln”, bilanziert der eu-experte, der jahrlang die kader des bundes und der kantone in fragen der europäischen union ausgebildet hat. für ihn ist klar: ein eu-beitritt würde scheitern – sicher an der mehrwertsteuer und an den jährlichen kosten. anderseits sieht er die bilateralen in der sackgasse. über den sektoriellen abkommen bestehe die eu auf einer generellen lösung für die übernahme ihres rechts und die schaffung eines schiedsgerichts für die bereiche, in denen man einen gemeinsamem vertrag wolle. doch sei dafür in den sektoriellen abkommen kein wirlicher platz.

aus sicht des politikexperten spricht alles für den ewr. der habe institutionelle lösungen realisiert, die der schweiz entgegen kämen. bei den entscheidungen sei man als nicht-eu-mitglied nicht dabei, bei ihrer vorbereitung jedoch schon. die gegenwärtig lösung sei schlechter, denn das eu-recht fliesse über verordnung in die schweiz – am parlament und volk vorbei.

blockiere die schweiz die von der eu-geforderten institutionellen regelungen wieter, werde es, prophezeit freiburghaus, zu einer ähnlichen situation wie beim bankgeheimnis kommen. über nacht werde man unverhandelbares aufgegeben müssen und damit eine innenpolitische krise ausgelösen. bis es soweit sei, werde der druck auf die schweiz zunehmen, etwa bei der holdingsteuer oder bei den doppelbesteuerungsabkommen.

freiburghaus, im bernischen laupen geboren, studierte in bern, st. gallen und berlin mathematik, ökonomie und politik, bevor er in bern eine eigene forschungsstelle für angewandte politikwissenschaft unterhielt, die ihn zur professur am genfersee führte. während jahren bot er mich in seinen kursen auf, seinen studierenden meine analyse des europabewusstseins der schweizerInnen zu unterbreiten. dabei habe ich einen in der literatur bewanderten, eher nüchtern kalkulierenden menschen kennen gelernt, der das, was ist, nicht einfach für gut hielt.

jetzt, wo er pensioniert ist, sagt er es den schweizer unternehmen unverblümt. “Der EWR wäre in meinen Augen eine schnelle und einfache Lösung.” dafür spreche, dass die gegenwärtigen streitpunkte in einem halben jahr vom tisch wären. dagegen streube man sich aber nach dem trauma von 1992. denn seither hoffe man, unterhalb des ewr-integrationsniveau vergleichbare vorteile zu erhalten, ohne nachteil zu haben. das sei eine illusion, an die bundesrat und parlament weiter glaubten, die von der svp verteufelt werden – und die der analytiker durchschauen müsse.

gerade am europatag!

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kompetenzzentrum für menschenrechte in bern gegründet

seit 1993 verlangen die vereinten nationen von ihren mitgliedsstaaten unabhängige menschenrechtsinstitutionen. die schweiz, seit 2002 mitglied der uno, macht jetzt einen ersten schritt hierzu und gründet in bern ein kompetenzzentrum für menschenrechte. ein zweiter schritt wird folgen müssen.

walter_kalin_unhcrprof. walter kälin, leiter des zentrums für menschenrechte in bern

walter kälin ist weder in bern noch in new york unbekannt. der 60jährigen jurist aus hinterkappelen wirkt seit einem viertel jahrhundert an der berner universität als professor staats- und völkerrecht. nach 2003 vertrat er während fünf jahren die schweiz im menschenrechtsrat der vereinten nationen.
nun ist walter kälin zum ersten leiter des eben eröffneten kompetenzzentrum für menschenrechte in bern ernannt worden.

“Wir sind kein akademisches Institut, sondern ein praxisorientiertes kompetenzzentrum, in dem wir unser akademisches Wissen für ganz konkrete Fragen zur Verfügung stellen”, umriss kälin seine neue aufgabe gestern vor den medien. vorgesehen ist eine fünf jährige pilotphase, nach der entschieden wird, ob man den zweiten schritt macht.
bis dann will man einen informations- und beratungsbedarf decken, der aus der umsetzung internationaler verpflichtungen entsteht. vor augen hat man behörden, private organisationen und firmen der internationalen wirtschaft, denn sie werden regelmässig kritisiert, von der schweiz akzeptierte empfehlungen für menschenrechte nicht genügend umzusetzen.
beraten will man vor allem eidgenössische kommissionen, wie jene für rassismus-, migrations- oder gleichstellungsfragen. die haben zwar direkten zugang zum bundesrat und verwaltung, es fehlt ihnen aber an denkfabriken, die sie informieren und aufklären. koordinieren will man auch die entsprechenden aktivitäten der kantone und die diversen initiativen an den universitäten.

die erste leitung des kompetenzzentrums will auch selber aktiv werden. sie will selber klären, wo beispielsweise volksinitiativen mit der europäischen menschrechtskonvention in konflikt stehen. oder sie will präventiv aufzeigen, wie weit forderungen, die man in der schweiz an fremde erhebt, im ausland gegenüber fremden, zu den wir gehören können, erhoben werden. damit will man zu einem realistischeren bild der weltgesellschaft und weltpolitik beitragen.
zu den ersten beabsichtigten aktivitäten des zentrums zählt, den menschenhandel, insbesondere mit frauen, als moderne form der sklaverei anzugehen. dazu fehle es in der schweiz schon an aussagekräftigen statistiken, betonte kälin bei der eröffnung.

der erste schritt ist auf initiative von bundespräsidentin micheline calmy-rey gemacht worden. der zweite wird 2016 erfolgen. bis dann muss die schweiz entschieden, ob sie für die jetzige initiative ein gesetzesgrundlage schafft, das insbesondere auch das monitoring für menschenrechtsverletzungen regeln würde. verabschieden müsste das das parlament in einem referendumsfähigen entscheid.

der stadtwanderer begrüsst die entwicklung. gerade im internationalen recht wächst der bedarf an angemessener beratung, in ehtischer, kultureller und juristischer hinsicht. die schweizerische friedensstiftung und die denkfabrik foraus haben das wichtige pfade geebnet. nun kommt ein weiterer hinzu, der klar international ausgerichtet ist, aber gut zu den gouvernementalen funktionen einer hauptstadt passt.

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zürcher financier stürzt kanton bern in die krise

es ist ein stück erlebter geschichte, die stefan von bergen in der heutigen bernerzeitung ausbreitet: die wahl von 1986, der konkurs von werner k. rey 1991 und die schlimmen folgen für die kantonsfinanzen sind mir in guter erinnerung. zwar ist der tiefpunkt überwunden, doch sind die folgen nachallend.

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aufstieg und fall von werner k. rey, dessen geldspekulationen den kanton bern viel gekostet haben.

in vielem sind die berner wahlen von 1986 ein einschnitt. unterschätzt hat man aber den wechsel in der finanzpolitik. die alten machtverwalter wie werner martignoni traten unfreiwillig ab, dafür gab es mit ueli augsburger einen finanzdirektor der nicht minder schlimmen sorte.

augsburger, dynamischer svp-regierungsrat, puschte die ansiedlungspolitik der neu geschaffenen wirtschaftsförderung durch eine senkung der unternehmenssteuern. hofiert hat er vor allem dem zürcher financier werner k. rey, dessen omni holding durch die übernahme der thuner selve im kanton aktiv wurde. doch die rechnung ging bei weitem nicht auf. 1991 meldete rey privatkonkurs an, seine omni musste um nachlassstundung ersuchen. das ging nicht spurlos an der kantonalbank vorbei. deren generaldirektor peter kappeler kündigte 1992 in einem brief an die kantonsparlamentarier einen dramatsichen abschreiber von 2 bis 3,5 milliarden franken an und forderte eine kapitalerhöhung für sein geldinstitut. mit der gründung der dezennium ag wurden die schuldner vor ein sofortigen kunkurs bewahrt und der kanton konnte einen massiven verlust vermeiden. bezahlen mussten die sanierung aber die steuerzahler: 1,5 milliarden franken ungedeckte schulden übernahmen sie, als die dezennium ag nach 10 jahren aufgelöst wurde. und beim kanton häuften sich schulden in der höhe von 11 milliarden franken an.

stefan von bergen, der die geschichte in der heutigen bz zusammenfasst, lässt christian pfister, emeritierter professor für wirtschaftsgeschichte, die schreckensbilanz ziehen: “Die Krise der Kantonalbank ist eine tiefe Zäsur und eine Ueberlebensübung, die den Kanton zurückwirft und der Politik jeglichen finanziellen Spielraum für Innovationen und Investitionen raubt.” bern sei, so der schluss, in den 1990er jahren gefangener seiner situation gewesen, ähnlich wie das heute in griechenland, irland oder portugal der fall ist.

wer mehr wissen will, liesst im fünften und letzten teil der berner geschichte nach, wie sich berns finanzen, wirtschaft und hauptstadt vom grossen schlag erholen, die hauptverantwortliche bernische svp darbt, in den sog der zürcher partei gerät, krampfhaft zusammengehalten wurde und sich schliesslich in einen kantonal ausgerichtete bdp und eine schweizerisch integrierte svp spaltete.

meine these ist, dass der kanton, zu stark mit sich selbst beschäftigt, den aufbruch, der 1986 möglich gewesen wäre, nur zögerlich an angriff nahm, insbesondere bei der zentralen frage, dem verhältnis zwischen einem oder mehreren aussenorientierten zentren und dem binnenorientiertem umland, für lange zeit in rückstand geriet. erst mit der hauptstadt-debatte wird man sich schritt für schritt der grösseren zusammenhänge bewusst, die zeithistoriker von bergen in verdankenswerter weise rekonstruiert hat.

stadtwanderer

die serie im original – leider nicht ganz aktuell.

von grossen ideen, meisterhaften erzählungen und dem leben im kleinen raum der geschichten

es ist ein anspruchsvolles, aber spannendes buch. übertitelt ist es mit “Geschichtsphilosophie zur Einführung”. verfasst hat es johannes rohbeck aufgrund von vorlesungen, die er in dresden für technikerInnen gehalten hatte. seit einigen tagen lese ich mit gewinn darin – wenn mir zeit bleibt.

12912052nfür mitte 2011 ist ein weiteres buch des gleichen autors unter “Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie” angekündigt.

bis zur aufklärung haben sich philospophen nicht systematisch mit geschichte beschäftigt, ist der ausgangspunkt des buches. das ist zwar eine mutige annahme, denn in den antiken kulturen dominierte die vorstellung des (immer)wiederkehrenden die gechichtlichkeit, während die christen mit ihrer heilsgeschichte das zeitliche als wirken gottes deuteten bis zum jüngsten tag deuteten. rohbecks entschied, das einleitend zu seinem buch zu erwähnen, dann aber wegzulassen, beschleunigt das lesen. es bleibt auch so voll von tücken, wenn auch im grossartigen überblick vortrefflich vereinfacht und meisterhaft dargestellt.

vom fortschritt in der geschichte
die wichtigste geschichtsphilosophische frage der aufklärung ist die nach dem fortschritt: techniker neigen seither zu einem ja, denn neue technologien setzen sich nur dann durch, wenn sie einen mehrwert haben. kulturhistorikerInnen sind da vorsichtiger. sie verweisen auf das werden und vergehen menschlicher zivilisationen, die immer wieder neue antworten suchen und damit vorübergenden erfolg haben, ohne dass sich ist, ob sich daraus ein fortschreiten der menschheit ergibt.

im ersten buchteil schliesst sich rohbeck der fortschrittsidee voll und ganz an. analysiert wird das entstehen der universalgeschichte im späten 18. und frühen 19. jahrhundert, auf der denker wie rousseau, kant, insbesondere aber auch hegel und marx ihre je eigenen fortschrittsgeschichten verfasst haben. voraussetzung hierfür war die säkularisierung, die kritik am dogmatischen christentum und seiner verfestigung in kirchen, was den raum für aufgeklärte weltbilder eröffnete. die menschheitsgeschichte beginnt seither nicht im judentum als erstem buchvolk, sondern in den frühen hochkulturen, wie der ägyptens. mit der zivilisationsgeschichte des 19. jahrhunderts verlagert sich der ort der ursprünglichen geschichte immer weiter ins ungewisse, während die zeit eine beschleunigung erfährt. weit zurückliegendes veränderte sich in der retrospektive kaum, während die zeitgeschichte durch rasanz bestimmt wird. begründet wird dies alles im fortschreitenden fortschritt. diesem naturwissenschaftlichen verständnis vor allem von entwicklung steht eine neue teleologie gegenüber, die sich im wirken der vernunft zeigt. diese ist seit den alten griechen dort am weitesten ausgebreitet, wo auch immer auf dem erdball die spitze des fortschritts angelangt ist.

von der wissenschaftlichkeit der geschichte
in der folge analysiert rohbeck zwei strömungen, die daran zweifelten: den historiums, der das konzept eine materiell sinnvollen geschichte zugunsten methodischer sicherung der geschichtswissenschaft aufgab, und die posthistorie, die ganz allgemein die möglichkeit von geschichte negiert. ersteres verortet er als typische strömung der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts, zweiteres als phänomen des späten 19. und des ganzen 20. jahrhunderts. beide, ist rohbeck überzeugt, haben ihre berechtigung in der gegenwart, weshalb er auch nach aktuellen vertretern sucht und sie auch findet.

der historismus reflektierte die erfahrung des industriezeitalters, mit dem sich mehr als je zuvor alles änderte. ewige werte wurden diskreditiert, der wandel der menschlichen lebensbedingungen zum neuen massstab. geschichte sollte zur fundmentalsten aller wissenschaften werden, welche das geschichtlich gewordene im menschlichen dasein immer wieder neue darstelle. zentrale autoren wie droysen, dilthey und troeltsch werden hierfür vorrgestellt, weil sie der frage nachgingen, wie historische erkenntnis möglich wird. unzweifelhaft ist geschichte so zur geisteswissenschaft geworden, die nicht mehr spekulativ den fortschritt bestimmt, dafür die quellen sichtet, kritisiert und interpretiert, um zu gesichterten aussagen zu gelangen. die aktuelleste form des historismus ortet rohbeck in den darstellungen des menschlichen bewusstseins von hayden white, der ganz den liguistic turn in den geisteswissenschaft vorwegnehmend, geschichte als poetik neu bestimmt hat. ohne erzählung keine gesichte, und ohne helden keine erzählungen. was die helden in der geschichte geleistet haben, sei aber verschieden, bestimmte white, und gäbe es romanzen, komödien, tragödien und satire nicht nur literatur, auch in der geschichte.

vom ende der geschichte
radikalere noch kritisiert die posthistorie das moderne programm der geschichtsphilosophie. denn die verheissung der aufklärung – fortschritt, wohlstand, demokratie, emanzipation – hätten sich alle nicht erfüllt. begonnen hat alles mit burckhardt weltgeschichtlichen betrachtungen, gesteigert wurde es mit nietzsches abrechnung mit der kultur, und mit adorno erreichte die posthistorische kritik ihren höhepunkt, der angesichts der katastrophe der weltkriege radikal mit dem optimismus der aufklärer abrechnete.

posthistorie meint man natürlich nicht, dass es keine zukunft mehr geben würde. doch bleibt von dem, was man mit der säkularisierung der geschichte in sie hinein proijzierte, nichts übrig. da kommt keiner am geschichtsbild von jean-francois lyotard nherum. nach ihm hat sich der fortschritt nicht in licht, sondern neue dunkelheit gebracht. die menschen seien in der moderne nicht befreit worden, sondern gesellschaftet. ihr horizont habe sich nicht erweitert, vielmehr sei er verstümmelt worden. damit verbunden ist die kritik am ökonomismus, denn “der weltmarkt macht keine allgemeine geschichte im sinne der moderne”. wie viele der posthistoriker misstraut er überragenden erzählungen, aber auch ihren kritikerInnen, weil sie die entwicklung der menscheit nicht mehr beeinflussten – und empfiehlt, sich von den grossen dingen abzuwenden, und sich dem lokalen zuzuwenden, um die entstehung von geschichte im konkreten neu zu bestimmen.

von der faszination geschichte immer wieder neu zu erfinden

während meines studiums der geschichte habe ich mich immer wieder mit fragen der “theorie der geschichte” herumgeschlagen. einerseits stand die herausforderung der sozialwissenschaften an, die theorien für neuen formen der wirtschafts- und sozialgeschichte anboten. anderseits faszinierte die alltagsgeschichten der ethnologie und psychoanalyse, die verhiessen, dass es jenseits der geschriebenen quellen neues material zu entdecken gäbe. selbst wenn ich die theorie der geschichte zum thema meines abschlussexamenes bei walther hofer gemacht hatte, musste ich mir eingestehen: die geschichte als erzählung, als wissenschaft, als philosophie neu zu entdecken, ist mega schwer.

das ist mir beim lesen von rohbeck vorzüglicher einführung wieder in den sinn gekommen: denn so treffend seine übersichten in den drei teilschritten sind, so flach bleibt seine synthese zur zukunft der geschichtsphilosophie. das ist denn auch die einzige kritik, die ich hier äussere, verbunden mit dem gedanken: dass die grosse idee in der geschichte immer noch fasziniert, die kritik an der mangelnden wissenschaftlichkeit der geschichtsphilosophen begründet bleibt und der zweifel am sinn des unterfangen auch mich nagt, aber nicht soweit, dass ich nicht mit wiederkehrender lust erzähle, den kleinsten raum schätze, ohne die grosse geschichte aus den augen zu verlieren.

stadtwanderer

die neu-alte mission

reformiert” – die zeitschrift der reformierten im deutschsprachigen raum, hat mich gebeten, eine analyse der rolle der kirchen in der politik zu schreiben. hier meine these zur unbestrittenen und zur umstrittenen mission.

Druck“Es gibt keine einheitliche Antwort auf die Frage, wie der Konflikt zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu lösen ist. Die Polarisierung zwischen vermittelnden Institutionen und populistischen Akteuren ist scharf; und die Bevölkerung neigt in wirtschaftlichen und kulturell angespannten Situationen dazu, letztere zu unterstützen. Positionen, Angehörige fremder Kulturen per se auszustossen, werden jedoch nur von Minderheiten getragen. Mehr Unterstützung haben Forderungen, die Dominanz der traditionellen Kultur einzufordern, derweil liberale Multikultur-Konzepte im grossstädtischen Umfeld attraktiv sind.
Für den Staat bleibt es ein Gebot, sich nicht in konfessionelle und religiöse Fragen einzumischen. Zwar erlangte er seit dem 19. Jahrhundert Identität, wenn er das tat, jedoch um den Preis, nationalistisches Gedankengut zu unterstützen. Dem modernen Dienstleistungsstaat, der Regelungen zu finden hat, die ausnahmslos für alle gelten, ist das nicht mehr angemessen.
Hier sehe ich die Aufgabe der Landeskirchen. Sich in gemeinschaftlichen Fragen zu engagieren, ist ihre unbestrittene Mission. Politisches Engagement wird immer umstritten sein, wo es die Aufgabe der Parteien tangiert. Gesellschaftliche Aktivität wird dann akzeptiert sein, wenn sie eingreift, um das friedliche Zusammenleben Vieler und Verschiedener in der Schweiz zu ermöglichen.”

den ganzen artikel findet man hier; er leitet ein streitgespräch zwischen gottfried locher und christoph mörgeli zum gleichen thema ein, das nach der letzten abstimmung zur innerkirchlichen kontroverse geworden ist.