von der schweiz lernen

die neueste schweizer geschichte ist eben erschienen. sie irritiert und fasziniert zugleich.

9783406622069

wenn ein historiker aus schleswig-holstein ein werk über die schweiz schreibt, das im nachwort von der bundespräsidentin ruth leuthard berichtet, fragt man sich, wer im deutschen beck-verlag lektoriert hat. wenn der autor zudem als erstes seinen peer steinbrück zitiert, fürchtet man, eine rechtfertigung für die unwürdigen äusserungen des früheren deutschen finanzministers nachgereicht zu erhalten – und fast schon wäre der schinken kräftig zugeklappt im obesten tablar des hintersten büchergestells im estrich verstaut worden.

“das wäre schade gewesen!”, sagt man sich nach 512 seiten, geschrieben von volker reinhardt, mit dem neuesten zur schweizer geschichte.

die verflüchtigung der mythen und die folgen für die geschichtsschreibung ist das grosse thema des professors für allgemeine und schweizer geschichte an der benachbarten universität fribourg. nach ein paar federstrichen, mit den er die vorgeschichte zu 1291 skizziert, seziert er den gründungsmythos rücksichtslos, um ihn definitiv zu verabschieden – und auszurufen: “Zu den neuen Perspektiven und ihren Ergebnissen!”

dazu gehört, die ereignisse an der wende des 13. zum 14. jahrhundert konsequent im lichte der reichsentwicklung zu sehen: mit den habsburgern, den luxemburgern und den wittelsbacher konkurrenzierten sich drei adelshäuser beim neuaufbau des reiches, das nach dem ende der staufer-dynastie weitgehend in sich zusammengefallen war. für die waldstätte entscheidend war, von kaiser friedrich ii, dem weltgewandten sizilianer, 1231 und 1240 freiheitsbriefe ausgestellt bekommen zu haben, die sie von übergriffen der habsburger als adelige landesherren sicherten, einen reichtsvogt jedoch zuliessen.

werner von homberg, ritter und minnesänger mit stammsitz in der nähe oltens, sieht der autor als diesen verwalter unter könig heinrich vii. aus dem hause luxemburg-böhmen. denn für seinen feldzug nach rom, wo er nach 60 jahren unterbruch vom papst zum neuen kaiser gekrönt werden wollte, brauchte er, wie schon zu frühren söldner und gesicherte rückzugsräume. dafür machte er den erfolgreichen condottiere zum reichsvogt über die waldstätte, der den lokalen clans – den von attinghausen in uri, den ab iberg in schwyz und den von hunwil in unterwalden – ihre überlieferten rechte beliess, wenn sie dafür die söhne ihrer bauern als kampftruppe des kaiseranwärters verkauften.

wer zuhause blieb und etwas auf sich hielt, zog pferde auf, betrieb viehzucht, stellte käse her und verkauft fleisch nach mailand, an den hof der visconti, die zum kaiser hielten. zuhause beanspruchte man dafür immer mehr weiderechte, genauso wie das reichskloster einsiedeln mit den habsburgern als vögte. da alles ging zulasten der allmenden, dem lebensunterhalt der einfachen bauern und hirten. die pauperisierten unterschichten wandten sich, am dreikönigstag 1314, gegen den abt in einsiedeln, reichsfürst in weltlichen sachen, wass herzog leopold von habsburg herausforderte, dem kloster schutz und schirm zu gewähren. bekanntlich scheiterte die aktion, doch verband der angriff die landleute von uri, schwyz und unterwalden, die sich mit dem morgartenbrief am 9. dezember 1315 wechselseitige unterstützung und friedenswahrung zusicherten. in dieser zeit, vermutet der autor, seien vorhandene briefe rückdatiert worden, um die ansprüche als hergebracht zu legitimieren, was zu 1291 geführt habe.

von bedeutung wurde dies, als 1320 reichsvogt werner von homberg in der nähe von genua verstarb, und sein sohn 5 jahre später auch verschied. das königtum im reich war unklar gelöst, mit je einem halbkönig aus den häusern habsburg und wittelbach, was den aufstieg des einfachen adels aus dem gotthardgebiet erleichterte. 1322 setzte sich ludwig der baier durch. vom papst gebannt, konnte ihn nur eine selbstorganisierte kaiserkrönung sichern, die er in rom, vom volk bejubelt, durchführen liess. dafür privilegierte er die reichsvogtei erneut, die nun ohne vogt war, dem kaiserantwärter aber den weg in die stadt am tiber sichern musste. so waren, schreibt reinhardt, “die Führungsschichten der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden zu einer Einheit geworden, die aus eigenem Antrieb und für selbst bestimmte Zwecke aktiv zu werden gelernt hatte.”

die so entwickelte linie verfolgend, erzählt reinhardt flüssig und und faktenreich die geschichte der eidgenossenschaft. er berichtet, von den bünden mit luzern, zürich und bern, von der verfestigung der eidgenossenschaft durch die schlachten von sempach und murten, von ihrer bedeutung als zünglein an der waage im frühneuzeitlichen europa, von der abkehr der reformatoren von der expansionsidee, von der kirchlichen und politischen spaltung, von der konsoldierung des gewordenen staates im ancien régime, vom zeitalter der modernen revolutionen, der entwicklung der demokratie und der wirtschaft und von von der insel des friedens während den weltkriegen. das ganze endet mit den gegenwärtigen europäischen herausforderung – mit den neuen inneren reibungsflächen, den bilateralen beziehungen und der bangen frage, allein in europa bevor- oder benachteilt zu sein.

die aussensicht, die hier entwickelt wird, dürfte in deutschland und österreich gut ankommen. sie verbindet europäische geschichte mit lokalen ereignissen. genau das führt dazu, diese nicht zu überbewerten und sie in ein grösseres ganzes einzuordnen. genau das gefällt mir an diesem buch, allerdings mit dem preis, gelegentlich oberflächlich, bisweilen auch spekulativ zu verfahren. genau das dürfte bei den hiesigen historikerInnen zu einer zurückhaltenden aufnahme führen, sodass die neueste geschichte der schweiz faszinieren und irritieren dürfte.

gelungen in der schluss der grossen erzählung, der die eröffnung des neuen basistunnels durch den gotthard gewidmet ist. den so erzielten weltrekord in der beherrschung der berge, sieht volker reinhardt als letztes beweisstück dafür, dass “die Eidgenosenschaft mit ihren unterschiedlichen Sprachen und Kulturen wie kein anderes Land Europas die Fähigkeit, sich neu zu denken, zu erfinden und zu positionieren hat, ohne ihre Vergangenheit zu verleugnen.” fast schon als antwort an peitschen-peer mit der bildlichen peitsche folgert er: “In dieser Hinsicht kann Europa von der Schweiz nur lernen.”

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