stadtwanderer im literaturclub

bald ist es soweit, der stadtwanderer darf im abspann zum literaturclub von sf sein lieblingsbuch an seinem lieblingsort vorstellen. gesendet wird der beitrag am 18. oktober 2011.

trotz tagespolitischer aktualität, habe ich redaktor christian walther vorgeschlagen, eine geschichtsbuch besprechen zu dürfen. und zwar “schweizer geschichte einmal anders” von joelle kuntz. auf französisch ist es vor knapp 5 jahren erschienen, und es war in der romandie wochenlang auf allen bestsellerlisten. 2008 erschien die erste auflage auf deutsch, ohne dass das buch hier den gleichen erfolg gehabt hätte. umso mehr will ich daran arbeiten.

joelle kuntz ist ausgebildete historikerin. seit jahren arbeitet sie als journalistin, hauptsächlich als leitartiklerin für le temps. ihre sich auf die schweiz ist typisch welsch, könnte man sagen: die geschichte als mythos ist nicht ihr vorrangiges ding. sie weiss um die keltische grundierung unserer kultur, um ihre römische zivilisierung, und sie beschreibt unauffällig die einwanderungen der gemanen. die legenden negiert sie nicht, sie räumt ihnen aber nicht einen vorrangigen platz ein. vielmehr interessiert sie sich, wie im zwischen dem 12. und 14. jahrhundert städte entstehen, sich so orte des wirtschaftens bilden, die dauerhaftigkeit in die entwicklung des landes brachten, bis die industrialisierung aus ihnen die zentralen orte der modernisierung und veränderung des landes machte. entsprechend ist ihr buch ein porträt der städte und ihrer regionen, konkret von genf, lausanne, neuenburg, fribourg, bern, basel, zürich, st.gallen und den tessiner städten.

jedes kapitel ist recht kurz gehalten, kenntnisreich aufgebaut und gut erzählt. was daraus entsteht, ist das kaleidoskop der urbanen schweiz. vielfalt ist ihr wichtig, ohne dass der bezug schweiz, die sich zwischen dem 14. und 19. jahrhundert schrittweise zu einem staat entwickelt.

prominente geistesgrössen der schweiz wie jean-francois bergier, aber auch peter von matt haben sich vorteilhaft zu dem regional-urbanen zugang zur historie der schweiz geäussert, der verkehr und wirtschaft in den vordergrund rückt, und die entwicklung der kultur als folge davon sieht. denn das steht effektiv im gegensatz zu dem, was wir sonst erleben, wonach die schweiz in den alpen entstanden, bei menschen, die nichts zu tun, aber viel zeit hatten, und sich zu allem, was rund um sie herum geschah, quer gelegt haben.

genau das hat mich bewogen das lesenswerte büchlein der welschen historiker auch der deutschsprachigen schweiz näher zu bringen. als ort dafür habe ich – natürlich – die stadt bern ausgesucht, die altstadt genauern, noch präziser die lauben, die mich immer wieder ins café postgasse führen.

stadtwanderer

im raume lesen wir die zeit

die geschichte nicht an die diachronie knüpfen, sondern am synchronen studieren, ist das wissenschaftliche programme des deutschen erfolgsautoren unter den historikern unserer zeit karl schlögel.

nach der “abwicklung ost” gehe es jetzt um die “abwicklung west”, diagnostizierte karl schlögel an diesem wochenende im berner kornhausforum die allgemeine lage auf dem kontinent. obwohl der kommunismus stück für stück zusammengekracht sei, seien die menschen weitgehend gelassen geblieben. er hoffe, das geschehe auch jetzt, wo der kapitalismus über den euro ihren alltag bedrohe. und er beobachtet geistreich, ob das alles geschieht.

schlögel, im bayrischen allgäu geboren, ist nicht nur ein historiker in unserer zeit. er ist auch ein historiker unserer zeit. und was für einer! kritiker, an denen es unter konventionellen fachleute nicht mangelt, sehen in ihm immer noch einen berliner maoisten, der besser feuilletonist geblieben wäre, um sein politisches scheitern zu verarbeiten. in der tat, der mann denkt politisch und beschreibt was er sieht, produziert so buch um buch, und sammelt er preis um preis.

seine anhängerInnen in der breiten leserschaft, aber auch unter fachhistoriker haben den spätberufenen auf unkonventionellem weg zum professor gemacht. 1990 wurde er ordninarius für osteuropäische geschichte, zuerst in konstanz, jetzt in frankfurt an der oder, ohne dass schlögel vorher je einen posten an einer uni bekleidet gehabt hätte. zurecht, sage auch ich, denn mit seinen essays hat er die geschichte, die in die chronologie gebunden war, zurück in den raum geführt, dessen veränderungen den schlögelschen rahmen abgibt für den verlauf der geschichte(n).

karl schlögels lieblingslektüre sind fahrpläne. von autobussen, eisenbahnen und flugzeugen. er besitze eine riesige bibliothek davon, gestand er auf dem podium des konhauses. im flug von stockholm nach zürich habe er einige neue hinweise gefunden, wie sich der europäische raum aufbaue. denn anders als die ökonomen unserer zeit, die sich mit dem auseinanderbrechen der eu beschäftigten, sei er überzeugt, europa wachse rasant zusammen. könnte er den aachener karls-preis für hervorragende leistungen auf dem kontinent vergeben, würde er ihn nicht den grossen unter den staatsmännern deutschlands, frankreichs oder luxemburg vergeben. sein favorit für die förderung europäischen bewusstseins wären billiganbieter unter den fluggesellschaft wie easyjet oder ryanair, die den einst so weiten raum europa implodieren liessen, rief er in den gut gefüllten vortragssaal.

schlögel, der sozialen wandel in der gegenwart fliessend und ruhig erzählt, selbst wenn er sich abrupt und laut zeigt, ärgert sich über seine fachkollegInnen in soziologie, anthropologie und geschichte. sie verpassten das leben, warteten bis das spannende vorbei sei, um danach daten hierzu zu erheben, dokumente zu sammeln und rekonstuktionen zu analysieren. die reise in die vergangene zeit ist nicht sein ding, jene in die weite des raumes schon. moskau fasziniert ihn, istanbul auch, er bereist die wolga, fliegt nach kasan reist mit dem zug bis an den pazifik. immer wieder, um die wiederkehr der städte zu lesen, die veränderungen der kulturen zu erforschen und unsere gesellschaften in ihrer ganzen komplexität zu studieren.

die kriechspuren der ameisenhändler aus dem osten, die man berliner bahnhof zoo haben sehen können, hätten die mauer längst vor ihren fall durchlöchert gehabt, war einer der bemerkenswertesten sätze an diesem abend. gemeint ist, dass man historische momente, die durch politische grossereignisse die das ende des kalten krieges ankündigt würden, schon vorher in den ungebändigten strömen der menschlichen kommunikation, den ausflügen der abenteurer und touristInnen, den veränderungen des handels mit waren und symbolen erkannt werden können. denn politik geht dieser dynamik nicht voraus, sie folgt ihr im nachhinein.

und nichts liebt der historiker mehr, als in diesem dynamik einzutauchen. darüber berichtet er, wenn er seine essays schreibt, welche die gegenwart in ihre faszinierenden widersprüchlichkeit ergründen suchen, die stück für stück zu büchern verarbeitet werden, um schliesslich unsere zeit auf bisher unbekannte art und weise zu erhellen.

“im raume lesen wir die zeit”, ist karl schlögels wohl treffendstes diktum zu seinem geschichtsverständnis. dem stadtwanderer von bern wünschte er, genau das noch mehr zu tun. zum beispiel, den bahnhof mit seinen bildern der welt zu erkunden, um die auswirkungen auf unser weltbild zu studieren.

danke schön für die aufmunterung,

stadtwanderer

die rückkehr

seit gestern arbeite ich wieder teilzeit an der uni bern. es war eine rückkehr mit gemischten gefühlen.

es war ein freitag. freitag, der 19. märz 1993. meine anstellung an der uni bern war bereits abgelaufen. ich hatte aber noch projektverbindungen zu den politologen. in den räumen der unitobler fand um 16 uhr 15 eine letzte sitzung hierzu statt. gegen sechs uhr abends war alles zu ende. bevor ich gehen konnte, musste ich noch ein telefon machen. handies gabs damals noch nicht. also wandte ich mich der hausinternen telefonkabine zu. als ich mein gespräch beendet hatte, waren alle weg und alles zu. und ich wollte unbedingt nach zürich ins theater.

eigene schlüssel für das unigebäude hatte ich damals schon keine mehr. eilends klärte ich die fenster ab, um das geeignetste zu finden, aus dem mich aus meiner misslichen lage würde befreien können. 18 uhr 37 fuhr mein zug.

ich wählte den ausgang aus der toillete, dem damen-wc genau, denn das fester gab fast direkt auf den zufahrtsweg zum gebäude. wäre ich gerade nach unten sprungen, wäre es vielleicht 2 oder 3 meter tief gewesen – das war mit zuviel. so entschied ich mich in einer kleinen drehung auf den auf die rampe zu springen, die am haus vorbei zum eingang führte. ich schätze, es würden 1,2 oder 1,5 meter sein.

mit der mappe in der hand sprang ich, nicht einmal den mantel hatte ich ausgezogen. ich machte im sprung eine drehung, um die rampe nicht zu verfehlen.

als ich landete, hörte nur noch ein lautes krachen in den ohren. es waren meine eigenen knochen. den die rampe war nicht eben, und ich landete noch in der drehung nur auf dem linken bein. das war gründlich futsch. das pech wollte es, dass ich mit dem rechten fuss einen moment später genau auf der kante der rampe aufschlug und mir dabei die ferse spaltete.

ich weiss nur noch das ich mit schmerzen einsank und danach bewusstlos liegen blieb.

die bilanz meines meines fenstersturzes war verheerend. insgesamt sieben beinbrüche, sechs links, einen rechts. ich musste eine siebenstündige operation mit vollnarkose über mich ergehen lassen, um das alles wieder zusammenzuflicken. es folgten 6 wochen erholung in gunten, am thurnersee, bevor ich eine muskeltherapie machen musste, um dem rollstuhl, an den ich einige monate gefesselt war, wieder zu entkommen.

wie gesagt, es war mein letzter tag an der uni bern, denn ich hatte mich im frühling 1992 selbständig gemacht, und der übergang ging an diesem tag zu ende. psychoanalytisch gesprochen, brach ich mir beim versuch, auf meinen eigenen beinen zu stehen, diese gründlich.

10 jahre lang hätte ich täglich schwimmen oder auf dem hometrainer radeln sollen. das ist schon nach einer kurzer weile langweilig, deshalb entschied ich mich 2004 täglich eine stunde wandern zu gehen, am ort, wo ich bin. daraus entstand das stadtwandern.

doch damit nicht genug. denn seit gestern bin ich an der uni bern wieder angestellt. just achtzehneinhalb jahre nachdem ich im wörtlichen sinne von der uni geflogen bin. denn ich untersichte im svp-master (nicht schweizerische volkspartei master, sondern schweizerische und vergleichende politik master) erneut wahlforschung. meine veranstaltung findet im raum 007 statt. ein james bond der berner politologie will ich indessen nicht werden. denn dessen waghalsigen sprüngen mag ich mich nicht mehr anschliessen.

zurecht habe ich mir gestern gesagt. nicht zu letzt, weil der unterrichtssaal auf dem omniösen stock ist, aus dem ich damals gesprungen bin. ein wenig mulmig war mir schon.

stolz bin ich, dass es heute am offizellen ausgang des gebäudes heute ein roter alarmknopf ist. wer eingeschlossen wird, kann sich über den risikolos befreien. meine bleibende leistung an der uni bern – wenigstens bis jetzt!

stadtwanderer

schachmatt

bern, treffpunkt bundesplatz. heute geht es um schach und demokratie.

der bundesplatz ist schon fast leer. die wichtigsten verbliebenen gäste spielen noch schach. so auch fridolin marty, stellvertre- tender leiter wirtschaftspolitik bei der economiesuisse. ein junges mitglieder des berner schachvereins ist sein sportlicher gegner.

ich mische mich unter die spärlichen zuschauer. sofort entzündet sich eine debatte. denn der lobbyist des dachverbandes der schweizer wirtschaft wird direkt politisch.

schach sei demokratisch, sagt marty.

ich schlucke (leer).

beide spieler hätte die gleichen voraussetzungen, höre ich weiter zu.

“ausgerechnet”, erwidere ich, “das royalistische aller royalistischen spiele soll demokratisch sein”.

innerlich ist meine reaktion noch härter. denn schach kommt, wenigstens für mich, aus persien, dem heutigen iran. der stosstrupp der demokratie war das nie. nach europa gebracht wurde schach durch die araber. auch das ergibt keinen faden zur demokratietheorie. von der islamischen in die christliche kultur übertragen wurde es im hohen mittelalter. da half die gemeinsamkeit der religion, sinn für unterordnung unter überzeugungen zu haben wohl mit. ein sinn für freiheit, auseinandersetzung und kollektive entscheidungsfindung gehört nicht dazu.

so bringe ich die durch und durch höfische symbolik des schachs aufs tapett. der könig, die königin, die läufer, die springer, die türme. das alles töne nach krone, burg, ritter, befestigungen, nach gelenkter öffentlichkeit durch mächtige dynasten, verbrämt durch etwas spiel und romantik der minnesänger.

mein gesprächspartner, den widerspruch liebend, gibt sich alles andere als geschlagen. wer gewinnen wolle, muss sich dem wettbewerb stellen. mehr aus der eigenen auslangslage machen als das, was der widersacher daraus mache, sei das wesen des politischen kampfes.

jetzt wird es definitiv mythologisch!

“all das versteckt sich hinter einem menschlichen schutzschild, den armen bauern”, kontere ich nochmals.

“nein”, ist die gegenrede.

ich koche.

“die bauern auf dem brett sind stolze angreifer, schauen gerade aus. wenn sie mutig und schlau genug sind, werden sie belohnt: aus ihn wir eine neue königin!”

jetzt bin ich schachmatt. denn in der sache hat dr. marty recht. mir bleibt nur noch die ironie.

“ja, und aus unsern bauern können bundesräte werden!”

einzig, dass hansjörg walther, der oberste bauer der schweiz, die stimmen seiner fraktion nicht hatte, als er wilder kandidat für den svp-sitz im bundesrat war – und nicht einmal sich selber stimmen durfte!

das sage ich aber nicht mehr laut – und verabschiede mich vom treffpunkt bundesplatz.

stadtwanderer

telex vom treffpunkt bundesplatz

heute war auf dem bundesplatz möchtig was los. marktstände am morgen belebten den ort. im bundeshaus war session, und die bdp wettete auf dem bundesplatz auf ihren wahlsieg. und das publikum schaute dem bunten treiben der fernseh- und radiojournalisten gebannt zu. hier mein bericht in telex-form

— roberto zanetti, schnauzträger und ständerat aus dem kanton solothurn, fasst die stimmung im wahlkampf seines wohnkantons wie folgt zusammen: die trennung von melanie und stress gehe den läuten mehr unter die haut als die gegenwärtig politik, ihm übrigens auch!

— peter bertschi, stellvertretender chefradaktor von radio drs, lässt nach meinem beitrag zum lobbying in der schweiz direkt die nationalhymne ertönen. einen sauberen schnitt zwischen vergangenheit und zukunft!

— die bdp-marktleute rechnen mit 5 nationalratssitzen im kanton bern, 2 in zürich, je einem sitz in glarus, thurgau, aargau. denkbar seien auch gewinne in solothurn, baselland und luzern. nur in graubünden werde man einen der bisherigen sitz abgeben. unbestritten sei der ständeratssitz in bern. die neue fraktion zähle demnach mindestens 12 mitglieder. na denn, viel erfolg bei den bundesratswahlen!

— sp-franktionspräsidentin ursula wyss ist heute, ganz anders als gestern, nicht im bundeshaus. sie wurde diese nacht glückliche mutter eines sohnes. ich gratuliere auf diesem weg zum wählerzuwachs im richtigen moment!

— christian miesch, svp-nationalrat aus titterten, flirtet mit wania kohli, bdp-kandidatin aus bern, auf dem bundesplatz obwohl sie in der kleinen sekte politisiere. humor hatte der baselbieter schon immer!

— ruedi baumann, ex-präsident der grünen und heute betreiber des auswandererblogs, kam rechtzeitig zu den wahlen in die schweiz. und schwärmte von seiner frau, die ex-nationalrätin, die in frankreich als ochideenzüchterin furore macht. bald schon wird eine seltene rasse davon nach ihr offiziell benannt sein!

— daniela lager, 10vor10-moderatorin, freut sich, für einmal in bern zu sein, es sei deutlich mehr los als im studio leutschenbach. sag ich schon lange!

— urs buess, chefredaktor der neuen basler wochenzeitung, will den wahlkampf nicht nutzen, um seine zeitung breit zu lancieren. man lasse sich die nötige zeit für eine gründliche vorbereitung. die budgetzusagen reichten für vier jahre!

— urs wiedmer, sf-moderator, empfiehlt mir, mich für die wahlarena von heute warm anzuziehen. am abend werde es frostig, es stehe eine nacht der langen unterhosen an!

stadtwanderer

treffpunkt bundesplatz

heute ging es los, mit der wahlberichterstattung der srg vom berner bundesplatz. mein erster eindruck.

aufbauen der neuen infrastruktur auf dem bundesplatz – bild der letzten tage

noch sah man das bundeshaus nicht, und schon hörte man das hackbrett-spiel. denn die appenzeller waren, wie die st. galler und thurgauer auch, gäste beim “treffpunkt bundesplatz“.

gastgeber ist die stadt bern, gast ist die srg. bis zum 30. september wenigstens. berichtet wird, in auf dem vorplatz des bundeshauses, über die anstehenden parlamentswahlen.

welche partei wann speziell zu wort kommt, entschied das los. heute war sp-tag. das sah man an den roten ballonen auf dem platz – und an cédric wermuth, dem omnipräsenten vize der partei, der sich mit einige passantInnen unterhielt. im studiogebäude wurde sein präsi, christian levrat, in die zange genommen. warum die sp in die eu wolle, brachte ihn ins schwitzen, warum die sp gegen investmentbanking sei, liess ihn erstrahlen.
man hoffe, mit den 12 tagen spezieller politberichterstattung einen beitrag zu leisten, dass die schweizer und schweizerinnen vermehrt wählen gehen, liess die srg verlauten. ganz danach sah es heute nicht aus. das miese wetter war wohl hauptgrund.

vielleicht ändert sich das morgen schon. denn am abend findet die erste von vier wahlarenen statt, während denen sich die spitzenpolitikerInnen von svp, sp, fdp und cvp zu je einem thema raufen. als erstes angesagt ist die migrationspolitik. es folgen die gesundheitspolitik, die energiepolitik und die wirtschaftspolitik.

festgelegt wurden die themen anhand des wahlbarometers von anfangs august 2011. was damals in der sorgenskala top war, bestimmte, worüber man im treffpunkt bundesplatz debattiert.

ich werde an allen vier wahlarenen der nächsten tage ebenfalls teilnehmen – als gast, der die parteien mit ihren positionen zu bewerten hat, was davon wahlrelevant werden könnte. eine grosse aufgabe!

eine grosse herausforderung hat auch die srg zu bewältigen. denn der treffpunkt bundesplatz ist logistisch ein grossanlass. jedoch nur, sagt stadtpräsident alex tshäppät, weil man in der hauptstadt ungenügend präsent sei. am liebsten hätte er es, wenn die online-redaktion von zürich nach bern ziehen würde, um dauerhaft vom politzentrum der schweiz aus zu berichten.

stadtwanderer

ein besonderer freitag in bern

eine namentlich nicht genannte berner zeitung notierte es ganz nüchtern: markus freitag ist seit dem 1. august 2011 einer der fünf professoren an der universität bern, die mit dem nächste woche beginnenden herbstsemester ihr arbeit in der aarestadt aufnehmen.

markus freitag, neuer professor am berner institut für politikwissenschaft

lieber herr freitag, ihr lebenslauf hält fest, dass sie in heidelberg studiert und hier doktoriert haben, zunächst in berlin als juniorprofessor, dann in konstanz als professor für vergleichende politik wirkten, bevor sie nun hoffentlich für lange zeit nach bern kommen. die begrüssung an der uni und am institut für politikwissenschaft als ordinarius für soziologie und psychologie der politik überlasse ich gerne den zuständigen stellen; meinerseits lade ich sie zu einer speziellen stadtwanderung ein.

die führung soll sie und die interessierten mitstreiterInnen am institut in die politische geschichte der stadt einführen. ich zwill ihnen aufzeigen, wie sich die politische kultur in bern entwickelt hat. sie hören von allen helvetischen institutionen und wie ihre entstehung lokalhistorisch zusammenhängt. ich lasse nichts aus, was bernischen charme ausmacht: stadtpräsidenten, frauenmehrheiten, grüne patriziersöhne, staatstragende und falschparkierende svp-politiker werden allesamt ins programm integriert!

ich rede auch über pragmatische staatstheoretiker, politisierende philosophen und den ersten empirischen sozialforscher in bern. deutsche flüchtlinge, biertrinkende burschenschaften, instituts- und universitätsgründungen (ver-)folgen uns an auf schritt und tritt. und last but not least dekonstruiere ich die grössten nationalen und lokalen mythen, wonach die schweiz als staat 1291 und bern als stadt 1191 gegründet worden seien. denn gemäss karl r. popper gibt es nicht ein vernünftiges Argument und keinen gesicherten beleg für die wissenschaftlichkeit dieser behauptungen!

ich bin überzeugt, das eine oder andere wissen sie schon, denn die berner politikwissenschaft hat in den letzten jahrzehnten vieles zum systematischen verständnis gerade auch der schweizer politik beigetragen. mir ist es darüber hinaus aber ein anliegen, das alles in der geschichte zu verorten, weil das dem wissen auch sinn verleiht. ein wenig gruner-schule steckt halt immer noch in mir.

ich bediene mich dabei eines tricks, den quintilianus, der erste kaiserlich besoldete rhetoriklehrer roms, entwickelt hat. aus der beobachtung, dass die meisten menschen den gang des geschehens nicht memorieren, einen weg im raum indessen in guter erinnerung behalten können, leitete er sein pädagogisches prinzip ab: die deschichte beim wandern von ort zu ort zu erzählen, sodass die themen der stationen der veränderungen über die zeit ergeben. schöner könnte man das in der stadt, in der einst albert einstein lebte und den begriff der raumzeit erfand, um seine spezielle relativitätstheorie zu verdeutlichen, nicht formulieren!

doch halt, bei mir soll nicht alles relativ bleiben. eine portion skepsis gegenüber dem common sense gehört sicherlich dazu, darüber hinaus will ich aber handfestes vermitteln. und das sind mine stationen und themen der stadtwanderung: “ein besonderer freitag in bern!”

1. beim justitia-brunnen: gerechtigkeit – das grosse ungelöste thema auch in der berner politik und anderswo.
2. vor dem rathaus: der freiheitsbaum der franzosen im herzen des alten berns.
3. in der matteenge: engländer, patrizier und bauernsöhne begründen den tellenmythos aufs neue.
4. im erlacherhof: der wienerkongress, die staatenbund, die landesgrenzen und die neutralität.
5. vor dem von steiger-haus: auf den spuren des ersten berner politischen instituts bis hin zur universitätsgründung.
6. beim zimmermania: radikale versus liberale und die staatsgründung von 1848.
7. beim casino: der bund – kurz erklärt, aber auf eine ungewohnte Art.
8. auf dem bundesplatz (oder leicht daneben): geschichtspolitik im banne nationaler versöhnungsfeierlichkeiten und ihre kritik.
9. unter dem käfigturm: vom gefängnis der schweizer, in sie sich selber bewachen und aus dem sie sich selber befreien – weiterentwicklungen der hiesigen politischen kultur
10. unter dem baldachin: platon, aristoteles und die politische philosophie der demokratie.
11. entweder vor dem hotel national oder auf der europapromenade: bern, eine europäische stadt, mitten in der schweiz mit viel lokalkolorit am vorabend der wahlen 2011.

wir starten, wie abgemacht, am 23. september 2011 um 17:30 beim gerechtigkeitsbrunnen mitten in der berner altstadt, und wir enden nach anderthalb bis zwei stunden fussmarsch an einem ort, der noch nicht ganz bestimmt ist – genauso wie der wahlausgang genau einen monat später, wenn die schweizer und schweizerinnen ihr neues parlament bestellen werden.

ich hoffe, es wird eine ebenso unterhaltsame wie lehrreiche berner Lektion zu ihrem einstand werden!

stadtwanderer

was tun gegen die krise der konkordanz?

gerufen hatte die münstergass-buchhandlung in bern. seit neuesten stellt das team einmal pro monat ein buch vor. geladen sind die autorin oder der autor und ein kritiker oder eine kritikerin. eine gute formel, denke ich.

am diesen montag nun ging es um das buch von michael hermann zum titel “krise der konkordanz“; der part zu gegenrede war mir übertragen worden. ich glaube wir hatten einen anregenden und vergnüglichen abend.

hermann, als politgeograf an der uni zürich tätig, hielt zuerst ein plädoyer zugunsten der konkordanz. das war aus zwei gründen nicht zu erwarten: erstens ist michael keine vierzig; er hat seine ganzen jahre als bürger aus dem bernischen huttwil und als politbeobachter in der krise der konkordanz erlebt. sein schluss: nicht mehr polarisierung, mehr integration wäre besser. und zweitens wurde das buch von avenir suisse bezahlt, der denkfabrik der schweizer wirtschaft, die in der regel die effizienz der politik höher bewertet als die suche nach dem ausgleich. differenzen hatten wir in diesem punkt kaum. denn auch für mich ist konkordanz eine folge der abwesenheit von herrschaft, ein mittel der selbstorganisation, das unter einbezug aller relevanter kräfte funktioniert. in einem plurikulturellen land halte ich konkordante politik für unabdingbar, angesichts unserer aversion gegenüber starken parteien oder politikerInnen durchaus auch eine probate form, möglichst viele kräfte für den staat zu mobilisieren.

mehr unterschiede traten in den punkten hervor, die der revitalisierung der konkordanz in der krise gewidmet waren: von den drei reformen, die hermann propagierte, hatte eine meine unterstützung, war ich bei einer gespalten, und lehnte ich eine ab.

die grösste übereinstimmung hatten wir bei der regierungsorganisation. in unserem beider verständnisse hapert es da. denn das kollegialsystem ist in den letzten 20 jahren stark umgestaltet worden. ausgebaut wurden die generalsekretariate der departemente, die in erster linie darauf aus sind, sektoriell gute lösungen zu finden und umzusetzen und mehr und mehr den oder die departementsvorsteherin ins beste licht zu rücken. mit integrationsleistungen hat das nichts mehr zu tun, wie es für einen bundesrat im konkordanzsystem zwingend ist. zudem fehlt im bundesrat eine stelle, die sich querschnittsaufgaben in der übersicht annimmt. denn wenn es departementsübergreifend ist, setzt man auf freiwillige zusammenarbeit unter bundesrätInnen, die mal leidlich, mal glücklich funktioniert. hermanns vorschlag ist hier, die bundeskanzlei aufzuwerten und den oder die chefInnen dieses amtes zum regierungspräsidenten zu machen, der oder die in krisenzeiten mit besonderen kompetenzen ausgestattet wird. die diagnose teile ich weitgehend, persönlich befürworte ich indessen einen bundesrat mit 9 departementen, einem mehr als bisher, nämlich einem bildungsdepartement, und einem regierungsdepartement für alles übergeordnete. die besetzung der departemente sollte meines erachtens auf vier jahre geschehen, das regierungsdepartement von einem erprobten mitglied geführt werden.

geteilter meinung bin ich beim zweiten reformvorschlag von hermann. er sieht vor, dass bisherige bundesrätInnen, die weiter amten wollen, gleichzeitig mit der parlamentserneuerung durch eine volkswahl gehen müssen. wer 50 prozent der wählerInnen hinter sich hat, geniesst das vertrauen des souveräns und muss nicht mehr durch eine parlamentswahl. wer das nicht erreicht, muss sich zurückziehen oder dem neuen parlament stellen. hermann hofft, dass damit ungeordnete bundesratswahlen, die dem funktionieren der konkordanz schaden, selten werden oder ganz verschwinden. letzteres möchte ich auch, und dennoch zögere ich. die volkswahl des bundesrates ist mir nicht geheuer. ich befürchte, dass die politikerInnen, die auf volkswahlen angewiesen sind, zu stark auf den support der medien und der werbung setzen, womit die anfälligkeit für populismus und geldmaschienen statt programmen und parteien wächst. ob so ein gutes team mit verschiedenen kompetenzen geformt werden kann, bezweifle ich nämlich. ich ziehe es deshalb vor, wenn erfahrene regierungs- oder nationalrätInnen für den bundesrat kandidieren, und das parlament nach verbesserten konventionen die richtigen mitglieder bestimmt. allerdings habe auch ich da einen reformvorschlag: nach 8 jahren im bundesrat soll schluss sein, um die regelmässige erneuerung des gremiums zu befördern.

wenig anfangen kann ich mit dem dritten vorschlag. hermann möchte die gelegentliche blockierung der parlamentsarbeit, insbesondere dann, wenn national- und ständerat andere mehrheiten haben, durch eine neue art der volksabstimmung entschärfen. seiner meinung nach sollten die bürgerInnen schiedsrichter spielen, wenn das parlament uneins ist. ehrlich gesagt, mir graust davor, denn ich finde, wenn die grosse und die kleine kammer eine differenz produzieren, sollte sie den knopf selber lösen. die stellungnahme des volkes sollte eher richtung grundsatzentscheidungen ausgebaut werden, nicht um die parlamentarischen restposten aufzuräumen.

gerne hätte ich es gehabt, michael hermann hätte sich im knapp gehaltenen platz für ein buch auf die regierungsreform konzentriert, dafür am schluss kapitel angefügt, das über die institutionellen reformen auch anforderungen personeller und kultureller natur zur revitalisierung der konkordanz ausgelassen hätte.

so, wie ich den abend mitbekommen habe, war das eine spannende diskussion. statt der vorgesehenen stunde für die buchbesprechung argumentierten wir zweieinhalb stunden hin und her. auch das publikum beteiligte sich, sodass wir um 10 uhr abends beschlossen, unsere debatte in der beiz fortzusetzen. als symbolisch geeigneten ort schlug ich das cafe fédéral vor dem bundeshaus vor. da nahmen wir am grossen tisch in der veranda platz, und grad nach uns setzen die corona der svp an den nachbarstisch: christoph blocher, toni brunner, caspar baader und christoph mörgeli waren unsere zaungäste, als wir, bei einem glas roten, unserem bürgerInnen-sinn folgend, nach dem besten argument für die beste regierungsform der schweiz suchten.

stadtwanderer

9/12

heute waren die zeitungen voll mit erinnerungen an “9/11”, dem tag als eine neue epoche der weltgeschichte anbrach. ich bin gespannt, ob man morgen ebenso “9/12” gedenken wird, dem tag, als ein neues kapitel der schweizer geschichte eröffnet wurde.

mob182_1268380365bildmontage: der bundesrat von 1848 und das bundeshaus von 2011

1848 ist das geburtsjahr der modernen schweizerischen eidgenossenschaft. und der 12. september ist das eigentliche geburtsdatum. denn an diesem tag wurde die neue bundesverfassung in kraft gesetzt. sie sollte das erste bindeglied werden, um die kantone, sprachregionen und konfessionsgemeinschaften erfolgreich zusammenzuführen und zusammenzuhalten.

sicher, dafür brauchte es zeit. der bürgerkrieg von 1847 wirkte nach. die modernisten und traditionalisten aus den zeiten der französischen revolution standen sich unverändert feindlich gegenüber. die alte konfessionsspaltung blieb noch lange bestehen.

schlimmer noch, die spaltung zwischen wirtschaftlichen aufstrebenden und rückständigen regionen brach eben erst aus, und sie konnte nicht mit der staatsgründung nicht direkt aus dem weg geschaffen werden.

dennoch legte die bundesverfassung von 1848 die voraussetzung für etwas ganz neues. einen solch tiefen einschnitt mit lang anhaltenden folgen gab es vorher nicht, und wohl auch nachher findet man nichts vergleichbares.

fünf institutionen entstanden mit dem 12. september 1848: die nation, die kanton, die bundesverversammlung, neu aus einem national- und einem ständerat bestehend, die regierung mit einem siebenköpfiger bundesrat, präsidiert vom bundespräsidenten und das bundesgericht. alle zusammen formten den bundesstaat, jetzt confoederatio helvetica genannt. abgelöst wurde dadurch der staatsbund mit der tagsatzung über den politisch autonomen ständen, die sich nur fallweise in konkordaten zusammenschlossen.

der prozess, welche die schweizerische eidgenossenschaft begründete, erfolgte schrittweise, und in den verschiedenen kantonen unterschiedlich schnell. der erste vorstoss für eine neue, eigene verfassung scheiterte 1830/1 noch. die kantone, die das gerne gehabt hätten, leiteten in der folge die politische erneuerung bei sich ein, während die anderen bei den verhältnisses seit dem wiener kongress blieben. der sonderbundeskrieg von 1847 schaffte dann die basis für einen neuerlichen anlauf, einen liberale verfassung einzuführen – nun angeführt vom freisinn, der sich als erneuerungsbewegung in zahlreichen kantonen gebildet hatte, aber darüberhinaus als nationale elite in politik und wirtschaft wirkte. ein verfassungsrat entwarf das neue grundgesetz, das die tagsatzung mit ihrer auflösung in kraft setzte, nachdem man in den kantonen darüber befunden hatte.

der politische schwung, der so entstand, die institutionen, die so gebildet wurden, und das rechtsgefüge, das alles zusammenhielt, führten dazu, dass man in der schweiz gerne vom verfassungspatriotismus sprach und spricht. denn die schweiz als staat baut nicht auf bahnbrechneden revolutionen wie in grossbritannien oder frankreich, nicht auf einer einheitlichen kultur auf wie in deutschland oder franzreich, und er ging trotzdem viel weiter als die gebiete, die wie österreich bei der monarchie bleiben.

es fragt sich allerdings, was davon 163 jahre danach geblieben ist!

denn die verfassung ist zweifach mehrfach generell überholt, ohne dass die revisionen die gleich wirkung gehabt hätten wie das 1848 der fall war. uns sie ist in zahllosen anläufen partiell verändert worden, sodass man immer wieder die details kennt, nicht aber den gehalt erinnert.

auch der breite patriotismus von damals ist einem gemisch aus blinder schweiz-verehrung, swissness-freude, internationalismus und gleichgültigkeit gewichen. glokalisierte schweizbezüge stehen individualistischen politikverständnissen gegenüber. wieder gibt es die grenzziehungen zwischen aussen- und binnenorientierung. und wieder polarisieren begriffe wie fortschritt und tradition, wenn sie im politischen gebraucht werden.

an den wahlen, die im herbst 2011 anstehen, will knapp die hälfte der wahlberechtigten teilnehmen. diese weiss darum, und sie wacht streng darüber, das privileg nicht zu verbreitern. weder auf 16jährigen noch auf ausländerInnen. letztes würde wohl soviel verändern, wie die niederlassungsfreiheit von 1848, verbunden mit politischen rechten, die nicht mehr an das kantonale bürgerrecht geknüpft waren.

am schlechtesten mobilisiert erscheint 2011 ausgerechnet die nachfolgepartei des freisinns, die fdp. ihre macht ist seit 1980 stückweise verschwunden. geblieben ist der rumpf der staatsgründungsbewegung. die fortschrittlichen freisinnigen stehen heute links, die traditionellen haben zur svp gewechselt. wer geblieben ist, hofft immer nicht auf rasche karriere in partei und staat, ohne dass klar wir, wofür diese stehen soll. den zwischen iganzio cassis, dem tessiner kantonsarzt, ruedi noser, dem zürcher it-unternehmer, und filippo leutenegger, der politikerjournalisten aus dem irgendwo gibt es keine wirkliche gemeinsamkeit mehr.

eigentlich schockiert bin ich über die wahlabsichten der jungen. die polarisierungen der letzten jahren haben sie bewegt, heute findet davon kaum mehr etwas, ausser in der politwerbung, im guerilla-marketing und auf facebook. das schrägste und die schönsten werden gezeigt, das leben jedoch wird ausgeblendet. jugendparteien haben plattformen, bringen aber keine themen aufs tapet, die von den übrigen politikerInnen diskutiert werden müssten.

ob das reicht?, schreibe ich ganz bewusst als letztes vor dem geburtstag zu 9/12 der schweizerischen eidgenossenschaft.

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keine masseneinwanderung mehr

ich habe mich auf dem bundesplatz mitten ins svp-familienfest gewagt. ich bin erleichtert, dass es zu keine ausschreitungen kam, wie bei der wahlveranstaltung vor vier jahren. dazu beigetragen haben der neue termin, der neuen ablauf, aber auch die entspanntere atmosphäre unter den parteikämpen, die kamen.

HBogDwNu_Pxgen_r_900x621“Massenein- wanderung stoppen” steht auf den plakaten rund herum. gemeint sind die ausländer und ausländerinnen, die in die schweiz kommen können, die löhne tief und die sozialkosten hoch halten. das jedenfall ist die gängige leseweise der svp, die heute auf dem bundesplatz ihr familienfest abhielt.

die stimmung vor dem bundesraus war demonstrativ fröhlich. es dominierten ballone mit schweizer kreuen, fahren aus obwalden, und plakat mit dem sünneli der svp. die festoffiziellen zeigt sich im traditionellen kleid, geschmückt mit kuhglocken oder alphorn. gekommen waren zwar auch manne u froue, junge und alte, aber ebenso väter mit kinder, mütter mit liebhaber, jungverliebte und treugebliebene. wer meinte, an einem svp-fest nur der traditionellen familie zu begegnen, wurde enttäuscht. denn der wandel der individuellen identitäten hat auch an der grenze zur grössten partei der schweiz nicht halt gemacht. umso wichtiger schien es, ist es, die kollektive identität der regierung- und oppositionspartei 6 wochen vor den wahlen noch einmal auf den grössmöglichen gemeinsamen nenner zu bringen.

bundesrat ueli maurer, sechsfacher familienvater, erzählte einmärchen. des kaisers neue kleider von hans-christian andersen. er begann, wie alle märchen beginnen: “Es war einmal …”, und er endete ebenso, wie man es kennt: “Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch”, rief er von der bühne, um mit einem blick auf das bundeshaus zu sagen: er, der viele jahre dort ein- und ausgegangen sei, wisse: diejenigen, die dem herdentrieb folgten, sich von blendern von ihrem eigenen erleben ablenken liessen, um schliesslich das unwahre dem wahren den vorrang zu geben. seien gerade in der politik nicht ausgestorben.

mehr applaus als maurer hatte jedoch sein ernte sein vorgänger im bundesrat. christoph blocher erzählte einmal mehr sein lebenswerk. gedanklich liess er den ewr an den gekommenen vorbeiziehen, quasi als auftakt zum grossen fehler der schweizer politik, der dank der svp verhindert werden konnte. wenn die svp am die wahlen gewinne, werde sie weitere fehler, die man im freiesten land der welt begehen wollte zu verhindern wissen. als garanten gegen die drohende auflösung der schweiz in der europäischen gesellschaft empfahl der die familie, wo demokratie gelernt werde, und die gemeinde, wo der bürger das sagen habe. überhaupt, das volk regiere in der schweiz, dank den volksrechten über das parlament, und dank den wahlen bestimme es die wähler der regierung. als er aus dem bundesrat angewählt worden sei, habe er deshalb von der dritten auf die erste stufe des staates wechseln dürfen.

unter den zuhörerInnen hatte es allerdings zahlreiche, die möglichst auf der zweiten stufe verweilen möchten. denn wer am 23. oktober 2011 (wieder) ins parlament gewählt werden will, war heute nachmittag auch gekommen, um sich dem parteivolk zu zeigen: thomas müller, beispielsweise, der neo-svpler aus st. gallen, der vor vier jahren noch für die cvp kandidierte, oder thomas fuchs, der den einzug um knappe 70 stimmen verpasst. der erste beteuerte mir, er bedauer seinen partei wechsel keinen moment, und der zweite widersprach mir, in bern immer wieder falsch zu parkieren. cool blieb da adrian amstutz, der neo-ständerat aus dem kanton bern, der die blicke der vielen bewunderer für den schönsten parlamentarier an seiner glänzen sonnenbrille abblitzen liess.

da sprach mich ein mann junger mann aus dem aargau an. “Wenn Sie hier eine Umfrage machen würden, was käme da heraus?”, wollte er wissen. “Wohl gegen 100 Prozent überzeugte SVP-Mitglieder”, orakelte ich, und für einmal würde ich sogar kein plus/minus nachschieben müssen. dass man auch hier differenzieren muss, wurde ich von einem ältern mann ebenso aus dem aargau, der sich als parteimitglied seit 1974 outete, indessen nicht immer einverstanden sei mit der parteidoktrin. deshalb blieb er auch ausserhalb der abschrankungen, quasi als distanzierter zuschauer seiner eigenen politischen heimat.

die war am heutigen tag durch verschiedenste sicherheitsringe der bernen polizei und zahlreichen zugewandten einheiten fast schon hermetisch von den passantInnen in der stadt abgeriegelt. hauptgrund waren die bewohner der reitschule, die aufgerufen hatten, heute “ganz Fest gegen Rassismus” sein zu. leute hatte es auf der schützenmatte sehr wohl, bis zum ende der veranstaltung zeigten sie sich im regierungsviertel aber nicht.

reto nause, berns sicherheitsdirektor, der an der bar im eclips am handy stand, um die lage von minute für minute zu bewerten, war jedenfalls erleichtert. vor der veranstaltung sagte er mir, es wäre übertrieben zu sagen, er sei nicht nervös. denn die erinnerung an 10/6, als es damals zu den krawallen zwischen dem schwarzen block und den svp-marschierern am rande der berner altstadt und mittel auf dem bundesplatz kam, leutet das ende der politischen karriere seine vorgängers ein.

überhaupt, demonierten die unterschiede zwischen 2007 und 2011. damals soll 8000 überzeugte svp-ler gespannt an- und frustiert abgereist sein. diesmal schwankten die schätzungen für die beteiligung auf dem bundesplatz 3, vielleicht 4000 teilnehmerInnen. “Keine Masseneinanderung in Bern”, bilanzierte ein zuschauer, als ich erleichert nach hause ging. immerhin, auf dem weg dorthin fiel mir auf, wieviele parteisymbole in form von plakaten der partei und seiner kandidatInnen runter gerissen waren.

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calmy-rey geht …

ich war zum haare schneiden. um 8, bei pia, der coiffeuse mit dem schrägsten aller haarschnitte. da passierte es, als eine radio stimme meine welt durcheinander brachte.

514px-Micheline_Calmy-Rey_2011calmy-rey, unsere bundespräsidentin 2011, soll heute zurücktreten.

pia hiess mich beim kommen hinsetzen. besprechen müssen wir das programm kaum mehr. the same procedure as every time! deshalb lege ich mich gleich mit dem kopf nach hinten in den stuhl. das schamponieren, dass einer kopfmassage von aussen gleicht, kann vertauensvoll beginnen.
diesmal erschrecke ich allerdings. “gerüchte im bundeshaus” vermeldet das lokale radio. es gehe um einen rücktritt sagt die stimme. calmy-rey sei dran …
das ist musik in allen tönen, gleichsam einen kopfmassage von innen.
die szenarien waren klar: der sp-parteipräsident christian levrat wollte, dass die amtierende aussenministerin nochmals kandidiere und so das geschehen am wahltag im dezember bestimme. denn sie wäre gleich zu beginn an der reihe. eine nicht- wiederwahl würde für alle das risiko in sich bergen, eine unübersichtliche situation zu erzeugen.
aus der umgebung der magistratin wusste man allerdings, dass das ist nicht ohne ist. denn die genfer mag seit einiger zeit nicht mehr. ihr präsidialjahr will sie aber in ordnung zu ende bringen. und mit einer abwahl wolle sie nach 9 jahren amtszeit sicher nicht aufhören.
in der romandie stehen mit alain berset und pierre-yves maillard zwei bereit, die heiss auf den posten sind.
freude an einem ordentlichen rücktritt auf ende legislatur hatte allerdings niemand. denn dann würde die nachfolge der genfer bundesrätin als letztes bestimmt. die sp könnte die rechnung bezahlen, für die ansprüche der svp oder der grünen. die haben sich ja in position gebracht.
sp-präsident levrat wurde in jüngster zeit ruhiger. er sprach davon, er können mit beiden varianten leben. die sp müsse ihr wahlziel erreichen, und bei den bundesratswahlen allianzpartner finden. jetzt gilt es ernst
im büro angekommen, sehe ich, wie sich die die mailbox füllt. das gerücht sitzt. denn im bundeshaus ist eine medienkonferenz angesagt.
und ich präsentiere übermorgen das rating der bundesräte. im wahlbarometer. deshalb war ich ja bei pia, der frommen coiffeuse, die ihre arbeit immer so toll macht.

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aufruf zum berner stadtfest 2016

ich rauf mir die haare, wegen der vergebenen chance, in bern ein stadtfest zu feiern, das geschichte vermitteln und die gegenwart spiegeln könnte.

259718795_06841ea3dbwichtigstes symbolbild für die stadt bern im jahre 1513, was der berner stadtrat an seiner letzten sitzung mangels festlaune so misslich interpretierte.

der stadtrat von bern sersenkte vorgestern einen auftrag, der er sich selber gegeben hatte. es ging um eine grosses stadtfest, das 2013 als 500-Jahr-Jubiläum zu “1513” hätte gefeiert werden sollen. die äussere linke konnte dem datum nichts abgewinnen, und die rechts fand, das sei unnütz eingesetztes geld. die unheilige allianz führte zu einer klaren ablehnung des festvorschlages.

“leider!” füge ich an. das datum habe ich auf dem “stadtwanderer” vielfach behandelt. denn es gehört aus meiner sicht unzweifelbar zu dem dutzend momente in der stadtberner geschichte, die geläufig sein sollten. sicher, vorgründig geht es um den schlachtensieg der eidgenossen in novara. es geht auch um die belagerung dijons durch berner truppen. mit dem jahr bringt man auch den bären in verbindung, der erstmals einen bärengraben bekommt. und schliesslich: 1513 rebellierte die die könizer jugend gegen die berner oberschicht.

“1513” ist nicht nur ein symbol in der berner geschichte. es ist auch die wende von den spätmittelalterlichen träumen einer nach aussen gericheteten grossmacht hinzu zur frühneuzeitlichen realität eines stadtstaates, der sich mehr und mehr nach innen orientierte. das ist meine these für heute.

“1513” beginnt 1476. der schlachtensieg in murten, den die eidgenossen, angeführt von der stadt bern, gegen den karl den kühnen, herzog von burgund, und seine verbündeten erfochten hatte, veränderte die eigenossen. man war jetzt wer. die söldner waren reihum gefragt. die jungs auf dem lande konnte geld verdienen, und die söhne der städter karriere machen, wenn sie bei der rekrutierung und führung der söldner in fremden diensten halfen. dem eidgenössischen kriegsrat, der tagsatzung, entglitt die sache beinahe. denn untereinander stritt man nach verteilregeln der beute, während die anwerbungsveranstaltung an den heerführeren vorbei zu gleiten drohten. erst 1481 fand man einen kompromiss, der in das stanser verkommnis als führer verfassung der eidgenossenschaft mündete.
in bern hatte der schlachtensieg gefühle hoheit über sich selber ausgelöst. der deutschorden als kirchliche oberhoheit wurde abgelöst, wann wollte einen eigene weg zum papst. 1494 begann das (vorübergehende) engagement der berner in neapel auf französischer seite. 1499 kämpften die eidgenossen gegen könig maximilian I. und errangen dank ihres sieges im schwabenkrieg autonomie vor der angekündigten reichsreform. 1506 schliesslich nahm auch papst julius Ii die dienste der eidgenossen als seine garde in anspruch und förderte er matthäus schiner, den walliser bischof, den er zu kardninal in rom erhob.
die situation wurde 1511 brenzlig, als der papst die französische expansion in italien, die sich auch auf mailand erstreckte, militärisch zu bekämpfen begann und dabei unter anderem auf die eidgenössischen söldner setzte. 1512 siegten die franzosen und lockten venedig auf ihre seite, scheiterten aber ein jahr danach in der schlacht bei novara gegen die eidgenossen, die so zu statthaltern über mailand wurden.
der überdimensionierte bär neben dem zytgloggenturm in der berner altstadt symbolisiert das prächte bern von 1513. die berner söldner kehren siegreich aus novara zurück, ihre trophäe auf vier beinen stolz zeigend, ebenso mit einem banner, das abschied genommen hatte vom traditionellen bären und eine neues zeitalter ankündigte. bern nutzt in diesem jahr die schwäche ludwigs xii., des französischen königs. man belagerte die stadt dijon, nicht zuletzt um die herrschaftsansprüche geltend zu machen, die man als neue herren der pässe über alpen und jura anmeldete. denn die aarestadt war in diesem moment auf dem weg, einen macht zu werden, die nicht nur schlachten gewinnen konnte, sondern auch den handel über die berge kontrollierte und den weg der franzosen nach italien erfolgreich unterbinden konnte.
françois I., der neue französische könig, analysierte die lage genau so – und griff zur tat. er lockte die eidgenossen mit geldzahlungen. die berner stadtherren stiegen auf das angebot ein. sie wechselten die seite. sie zogen sich aus italien zurück, ebenso aus dem burgund. die söhne der könizer familien merkten es als erste und begehrten bei der kirchweih in diesem jahr auf. denn sie sahen einen teil ihrer einnahmequellen beschnitten, während sie von den pensionen des franzosenkönigs nichts hatten. hart blieben die zürcher, und mit ihnen die innerschweizer, die in mailand verblieben und auf die gekaufte rückgabe der ennetbirgischen vogteien auf dem weg dorthin verzichtete. man weiss es, wie das endete: mit der niederlage der verbliebene eidgenossen in marignano, was das ende des italienengagements auf päpstlicher seite einleitete, bis auf die schweizer garde, die später mehr mit symbolischen aufgaben betraut, bleiben durfte.
der knatsch unter den eidgenossen nach 1513/15 war erheblich. bern drängte die tagsatzung, mit könig franz paris einen soldvertrag einzugehen. die entscheidung stand 1516 auf der kippe, als sich bern durchzusetzen schien. denn man votierte für den vertrag – bis auf zürich.
der leutpriester der stadtzürcher wetterte dagegen. er war selber in italien gewesen. er hatte das leid auf den schlachtfeldern gesehen. und wollte nicht, dass sich die eidgenossen unter berns führung an frankreich anlehnen soweit anlehnen würde, dass sich das alles wiederholen sollte.
der zürcher leutpriester war kein geringerer als huldrich zwingli. er argumentierte theologisch, hatte aber politische wirkung. er sagte: gott sei immer auf der seite der herrschenden gestanden. das seien überall die könige und adligen gewesen. ausser in der eidgenossenschaft, wo die bauern und bürger von gott auserwählt wurden. gott habe ihnen in allen schlachten nach morgarten geholfen, weshalb sie stets siegreich gewesen seien. doch mit dem soldwesen in frankreich und italien habe sich gott von den einfachen eidgenossen abgewendet, weshalb sie in marginano auch verloren hätten. es brauche eine grosse reform des geistes, damit man gott wieder gefalle.
das alles bereitete die reformation vor, die sich in einer generation von zürich aus auf schaffhausen, bern und basel, dann auf lausanne und genf ausbreitete, um zur führenden religion der städten zu werden, die heute der schweiz eines ihrer relevanten gepräge geben.

das alles wäre anlass genug, ein stadtfest zu feiern. zum aufstieg der stadt bern. zur bedeutung des schnellen geldes als verführer der oberschichten. zur abhängigkeit der landsöhne vom entstehenden arbeitsmarkt. zur zerstrittenheit der eidgenossen, die sich auf alle seite verkauften. und zur schwäche der politik, die mit der militärisch-wirtschaftlichen macht, die nach der schlacht von murten aus den eidgenössischen orten geworden war, nicht mithalten konnte. nicht vergebens feiern wird das jahr 1513 als das jahr des beitritt der appenzells zur 13örtigen eidgenossenschaft, die danach keine festen bündnispartern mehr aufnahme, bis napoléon das ancien régime 1798 resp. 1803 neu organisierte. konkret heisst das auch, dass die eidgenossenschaft, die sich im 14. jahrhundert mit “sempach” geformt hatte, zum stillstand gekommen war, ihre optik nach aussen mit dem focus nach innen ersetzte, und ein gleichgewicht unter unterschiedlichen verbündeten zu etablieren sucht.

ein fest zur 1513 in bern scheint passé. zur wende, die in der folge ausgelöst wurde, könnte es aber immer noch entstehen. ich rufe deshalb die stadt bern auf, ein fest 1516 zu planen. dem jahr, als man begann, sich eines besseren zu besinnen, als ein nur dem schnellen reichtum nachzurennen. das gäbe nicht nur genügend zeit, um den stoff von 1513 jenseits der banalitäten, die vorgestern im stadtrat vorgetragen wurden, um den kredit zubdigen, durch einen grossen erzähler vom format eines lukas hartmann (aus köniz) bekannt zu machen. es würden sich auch hinreichende parallelen zu heute finden, wo das streben nach dem schnelle geld in der globalisierung gewisse teile der schweiz soweit verführt hat, dass man sich gelegentlich eine reformation der reformation wünscht.

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