vom fiktionalen in wahlkämpfen

der vorwahlkampf zu den berner gemeinderatswahlen wird immer absurder. nicht wegen seines realitätsgehaltes muss man sich damit beschäftigen, doch das fiktionale, das er hervorbringt, lässt ihn zum lehrstück werden, was man nicht machen sollte.

die theorien
wahlkämpfe sind da, die entscheidung der wählerInnen aus der sicht der parteien und den erfordernissen der öffentlichkeit vorzubereiten. so lehre ich es regelmässig in meinen kursen zur politik, zu wahlen und zu politischer kommunikation.
in verschiedenen lehrbüchern ist diese, letztlich politische optik auf wahlkämpfe, mehr und mehr aufgeweicht worden. selbst in standardwerken liesst man zwischenzeitlich, der hauptzweck von kampagnen der akteure sei es, aufmerksamkeit zu generieren, damit sich die meinungsbildung möglichst auf einen selbst focussierte. das ist zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht mehr ganz richtig. denn die aufmerksamkeit ist kein ziel von wahlkämpfen, sondern ein mittel, kontere ich regelmässig. höhepunkt dieses fehlverständnisses war für mich, als in einer wahlanalyse stand, man habe den wahlkampf gewonnen, aber die wahlen verloren.

die praxis
was ich meine, führt uns die wahlkampfvorbereitung der svp der stadt bern seit geraumer zeit fast schon lehrbuchartig vor augen.
da versprach man der bürgerschaft, aus den wahlen der letzten jahre gelernt zu haben. mit der fdp eine gemeinsame sache zu machen. gemässigte kandidatur zu nominieren, und auch parteiunabhängige vorzuschlagen, die stimmen bis in die mitte machen würden. diese präsidialen ankündigung verschafften der svp aufmerksamkeit, sie erhöhten die spannung – mit blick auf die nomination ende februar und die wahlen gegen ende jahr.
allerdings, muss man diese woche definitiv bilanzieren, was dann kam, war nichts als heisse luft.
zuerst die absage von bernd schildger, dem favorisierten nicht-mitglied, der das pro und contra einer kandidatur erwog, im allerletzten moment, wie es scheint, aber absagte.
dann die gerüchte um marc lüthy, der scb-chef, von dem man nicht einmal recht erfuhr, ob er nur zitiert wurde oder ob er als nicht-politisch denkender mensch sich überhaupt gedanken gemacht habe, ins politgeschäft einzustiegen.
und nun die nominationsrace rund sylvia lafranchi, ex-fdp und neo-svp, von der man hört, sie hätte an der vorstandssitzung, von der ehre der anfrage überwältigt, zugesagt, sei jeodch im gespräch mit ihrer familie zum gegenteiligen schluss gekommen – und ziehe sich zurück, nicht nur von dieser wahl, auch von der politik. durchgesickert ist dabei via facebook und sms auch, dass man, seitens der parteispitze, vor der fraglichen sitzung gar kein gespräch mit ihr geführt habe …

meine zwischenbilanz
meine meinung ist, dass sich die svp mit der so generierten aufmerksam einen bärendienst erwiesen hat. zunächst: alles passt ins bild der partei, das so lange strahlte, seit dem letzten oktober aber von dunklen wolken überlagert wird. das hat sich auch mit dem medienverhalten zu tun, aber nicht nur: die svp hat mit dem fall “zuppiger” anlass gegeben, an ihren internen verfahren zu zweifeln; unrühmlich war ihr verhalten auch bei der wahl für die spitze der bundeshausfraktion, wo nathalie rickli ohne die nötige stimmenzahl durchgedrückt wurde. überall schimmern richtungskämpfe durch, wobei man, wenn das verfahren nicht das bringt, was man will, das ergebnisse der wahlen auch torpediereen kann.
sodann: die stadtberner svp hat sich darüber hinaus auch selber geschadet. der eigentlich chef, präsident peter bernasconmi, wollte die listenverbindung mit der fdp, nicht zuletzt, um einen oder zwei sitze in der stadtregierung zu erobern. gemeinsam erschien das eine weile wenigstens möglich, selbst wenn das risiko bestand, dass die svp dabei leer ausgehen würde. die wahren chefs, die beiden vize thomas fuchs und erich hess, machen jedoch eine andere rechnung: demnach schafft die svp mit ihrem eigenen wähleranteil zwar kein dirketmandat, hat aber aussichten, in der restmandatverteilung bedient zu werden. selbstredend bräuchte es dafür keinen gemässigten kandidaten, sondern ein hardliner, und mit aller wahrscheinlichkeit würde dabei die fdp leer ausgehen. so bleibt auch hier: die svp spricht zwar von lehren aus den nationalratswahlen und dem willen zur kooperation, die internen vetoplayer sind aber stark genug, um das zu verhindern.
meine bilanz zur posse in bern lautet: keiner der beiden flügel hat sich durchgesetzt. die nominationschancen von erich hess sind gegen null gesunken, aber auch der plan des präsidenten wurde mehrfach durchkreuzt – und auch die fdp macht sich gedanken, was die zukunft bringen soll.

von der theorie zur praxis und von der praxis zur theorie
das alles haben wir nun schritt für schritt mitverfolgt. denn nichts sichert die aufmerksamkeit der öffentlichkeit so, wie ein parteiinterner knatsch. gemäss werber-definition also alles paletti! gemäss meinem verständnis von (vor)wahlkämpfen noch keinen einzigen beitrag geleistet, für eine geordnete wahl, bei der man die rechten kandidaturen ernsthaft erwägen könnte.

denn was wir bisher miterlebt haben, ist vor allem fiktional, ein spiel mit den wahlen, statt sie für die bürgerInnen so vorzubereiten, dass sie sich alle ansprüche ernsthaft in erwägung ziehen könnten.

stadtwanderer

christoph stalder: so war er

christoph stalder, der vorkämpfer für ein starkes bern, ist tot. er erlag am sonntag einem herzversagen. das meldet die heutige bernerzeitung.

vor knapp einem monat traf ich christoph stalder auf berns strasse. seine augen waren hell, sein schnurbart bestimmt. sportlich wie immer, kam er direkt auf mich zu und meinte, ich hätte meinen mitgliederbeitrag noch nicht bezahlt. stimmt, erwiderte ich, denn ich war rechnungen machen hinten drein. um keine neuen umstände entstehen zu lassen, zückte ich eine 50er note aus dem portemonnaie und übergab sie mitten in bern meinem präsidenten.

ja, christoph stalder war nicht nur aufmerksamer präsident, er war auch die gute seele von “bern neu gründen”.

letztlich war es seine idee gewesen, damals, 2001, als er stadtratspräsident war, lancierte stlder während der traditionellen 1. august feier die idee, bern durch fusionen mit den umliegenden gemeinden neu zu begründen. sein anliegen blieb nicht ohne widersprüche. denn rund herum fürchtete man sich, ob der offensive aus der kernstadt, und auch in der stadt gab es warnungen, mit eingemeindungen würde bern verbürgerlichen.

trotzdem, die idee der agglomerationsstadt gewann zug um zug neue anhängerInnen. der verein mit dem gleichen namen wurde gegründet, und im grossen rat, wo christoph 2002 als vertreter der fdp eingezogen war, setzt sich die gedanke fest, die gemeindestrukturen müssten vereinfacht werden. am besten geschehe dies mit gemeindefusionen – nicht nur bei mittellosen kleinstgemeinden, sondern auch in den zentren. den grösse erlaubt eine bessere steuerung, einen effizienteren mitteleinsatz und die vermeidung von doppelspurigkeiten.

zurecht nannte man christoph stalder auf berns strassen trotzdem nicht den “monsieur fusion”, sondern den “monsieur mobiliar”. denn er verkörperte bei seinem ganzen politischen engagement den mehr und mehr verschwindenden typ des milizpolitikers, der fest im berufsleben stand und sich für die öffentliche sache engagierte. sein arbeitgeber, seit 1977 die mobiliar versicherung, hatte den wert dieser aktivitäten erkannt, und sein direktionsmitglied soweit freigestellt, dass er die politik im betrieb und das unternehmen in der öffentlichkeit vertreten konnte. der berner politik hat es genützt, in vielen projekten, wie dem bärenpark, aber auch bei zahllosen kulturellen initiative.

berns zukunft hat mit dem tod seines unermüdlichen, aber immer respektvollen kämpfers mit einer unvergleichlichen gesinnungsethik einen dämpfer erhalten. dennoch wage ich hier zu prognostizieren: der von christoph stalder ausgelöste prozess ist nicht mehr zu stoppen. und so lebt der liebenswürdige mensch, den engagierte mitbürger und der helle politiker unter uns weiter.

stadtwanderer

wenn ich 83 sein werde

zugegeben, an das jahr 2030 habe ich auch schon gedacht. dannzumal wäre ich 73. und so hoffe ich in 18 jahren pensioniert und zur ruhe gekommen zu sein. was mich in dieser lebenslage, sollte ich noch leben, umtreiben könnte, was der anlass für die spekulation zu meinem lebensplan. jetzt bin ich gefordert, denn die bz plant mein leben im jahr 2040.

bern ungebremst: eines der vier szenarien, mit denen sich die neue serie der berner zeitung zu bern zukunft beschäftig (bild: bz).

die “berner zeitung“ veröffentlicht ab heute in einer vierteiligen serie. bern im jahre 2040 ist das generelle thema. in der ersten ausgabe glauben die journalisten, dass es den „stadtwanderer“ immer noch geben wird, vom 83jährigen unermüdlichen tv-analysen, blogger und bern-fan claude longchamp betrieben. voilà!

für soviel vorschusslorbeeren an die adresse des bald 6jährigen blogs, betrieben vom bald 55jährigen historiker-politologen schon mal ganz herzlichen dank an stephen von bergen und jürg steiner, die beiden mindestens so unermüdlichen „zeitbild“-redaktoren, die sich im kleinklein der stadt und kantonpolitik gut auskennen, ohne das grossgross aus den augen zu verlieren.

anlass für die serie ist nämich die gegenwart: am nächsten freitag präsentiert der verein hauptstadtregion erstmals konkrete massnahmen, wie bern als politzentrum der schweiz positioniert werden soll. bald schon werden auch die stimmbürgerInnen gefordert sein, denn voraussichtlich in diesem herbst 2012 befinden sie über die möglichkeit systematischer gemeindefusionen. schliesslich stehen in der stadt bern wahlen an: parlament, regierung und präsident werden neu bestimmt, was immer auch ein zukunftsschritt ist.

die optik weit darüber hinaus haben der historiker und geograf in der redaktion der bernerzeitung inform von szenarien, gut deutsch wohl zukünfte berns, entwickelt. die methode wirkt ein wenig utopisch, vielleicht auch idealistisch, ganz sicher platonisch. denn für sie ist bern alles andere als ein stoff, vielmehr eine idee, die weiter zu entwickeln gilt.

vier logisch abgrenzte vorstellungen des kommenden haben sie: alles dreht sich um die frage, ob bern die vielfach diagnostizierte krise meistert oder nicht. in beiden varianten interessieren sie sich für eine krassen und einen gemässigten fall.

„krise frontal“ meint: der kanton fährt an die wand; er gerät unter erheblichen spardruck. der politik gelingt es nicht, zu reagieren – stadt und land blockieren sich gegenseitig. die bevölkerung schrumpft und altert bedenklich. der wohlstand sinkt, die steuerlast steigt. firmen wandern ab. der pessimismus nimmt überhand – der kanton versinkt.

halb so schlimm sieht das szenario „krise gedämpft“ aus, auch wenn der anfang gleich ist. doch gelingt dem kanton der durchbruch, indem er auf die städte setzt, die über raumplanung und gemeindefusionen staatlich gesteuert werden, während die subventionen an das land verringert werden. es erwacht ein neuer glaube an bern, die stimmung steigt insgesamt, wenn auch nicht überall.

besser noch wird es mit der perspektive „boom kontrolliert“. voraussetzung ist der schuldenabbau, denn nur das zieht wieder mehr menschen nach bern. die städte wachsen, fangen so die alterung auf. das belebt die wirtschaft, verlangt aber einen rigorosen sparkurs, um die konjunktur aufrecht erhalten zu können.

sollte der „boom ungebremst“ sein, mindert das den reformdruck. die vielfalt bleibt, die agglomerationen wachsen, der steuerwettbewerb macht senkungen von abgaben an den staat mehrheitsfähig. die stimmung schwankt, denn nicht alle profitieren vom boom: ökonomisch wird der kanton top, ökologisch indessen entwickelt er sich zum flop..
im ersten teil der serie geht um die gebremste krise. das ist wohl das realistischste szenario. ich wette mal, dass die beiden autoren selber mit dem kontrollierten boom liebäugeln. die ankündigung der vier perspektiven lässt das vermuten.

selber lasse ich mich überraschen. und halte es mit imanuel kant, wenn es um unsere zukunft geht. er fragte sich: was können wir wissen? was dürfen wir hoffen? was sollen wir tun? oder anders gesagt: kümmern wir uns zuerst um das reale. dann um das ideale. und schliesslich um das wirkliche, das wir selber schaffen können.

stadtwanderer

die stadt im zeichen des bären

18. februar 2012: im kino club findet die vernissage zum film “bärn” statt. in den kleinen lichtspielsälen ist er schon mal gezeigt worden, der auftritt in den grossen soll nun folgen. ich werde mithelfen, den film zu lancieren.

der film “bärn 1191” von daniel bodenmann erzählt die geschichte der stadt, von den anfängen bis heute. der bär, genauer der neue bärenpark, bildet die plattform in der gegenwart für den dokumentarstreifen, der weit ausholt, mit der stadtgründung beginnt, die stadtentwicklung nachzeichnet, und die frage nach der seele berns stellt. diese erkennen die filmer ohne jeden zweifel in der wesensverwandtschaft der einwohnerInnen mit den bären.

das hat nicht nur mit der (eher sprachlich als sachlich begründeten) allusion im namen der stadt zu tun. es ist mehr das ergebnis einer langen symbiose aus bär und mensch, aus bärenmentalitäten und berner lebensgewohnheiten.

lange schläft er, doch wehe, wenn er geweckt wird. dann hat er nichts von seiner wilden kraft verloren, auf wenn er bisweilen eher putzig erscheint. der bär – und wohl auch die stadtbewohnerInnen.

aktuell schlafen die berner bären tatsächlich in den höhlen des bärenparkes. bald aber werden sie geweckt werden, und sich ausgeruht wieder den interessierten zuschauern und einwohnerinnen zeigen. genau das will die vernissage am 18. februar symbolisch vorwegnehmen. indem sie die energie der berner seele weckt und damit berns kraft im zeichen des bären stärkt.

notabene genau an dem tag, an dem der erste energiespender, der stadtgründen berchtold v., im jahres des herren 1218 kinderlos verstarb und die stadt ihrem schicksal überlassen musste. zwischen diesem tag und der jetztzeit werde ich mit meinen geschichten zur stadt und zum bären vermitteln.

bald schon, am übernächsten samstag ab 10 uhr morgens genau gesagt.

stadtwanderer

im herzen der macht. hauptstädte und ihre funktionen

endlich erwacht die uni bern und merkt sie, ein teil der gesuchten hauptstadtfunktionen sein zu müssen.

europäische universitäten haben ihre vor- und nachteile. zu den nachteilen gehört, zu autonom zu funktionieren. zu ihren vorteilen zählt, gerade deshalb quellen der gesellschaftlichen erneuerung zu sein.

die uni bern hat sich bisher wenig mit ihrem standort auseinander gesetzt. das soll sich aber nachhaltig ändern. das rektorat hat die bedeutung der hochschule für die region jüngst herausgestrichen. ein neuer lehrstuhl für regionalökonomie wurde geschaffen, und unverschiedene disziplinen, von geografie bis betriebswirtschaft beschäftigen sich neuerdings mit chancen und risiken der angedachten hauptstadtregion.

davon zeugt auch das collegium generale im frühjahrssemester 2012. “capital cities”, steht in der ankündigung, spielen eine wichtige rolle für die kulturelle, soziale und politische identität eines landes. sie gelten als schaltzentralen und ihre macht drückt sich nicht nur in ihrem repräsentativen stadtbild aus, sondern auch in der art und weise, wie sich diese städte in nationalen und internationalen netzwerken positionieren. städte wie washington d.c., berlin oder wien stellen sich einem zunehmenden standortwettbewerb und entwickeln strategien, um herausforderungen wie staatlichem wandel und globalisierung zu begegnen.

genau da setzt die vorlesungsreihe ein. neben der allgemeinen relevanz hat sich auch einen lokalen aktualitätsbezug. die bundesstadt bern stellt sich derzeit die frage nach ihrer rolle im schweizerischen städtesystem. stadt, kanton sowie bund diskutieren konzepte und ideen für eine sogenannte hauptstadtregion schweiz. diese diskussion soll mit hintergrundsinformationen bereichert werden. vorgestellt wird der aktuelle forschungsstand zum thema “hauptstädte”, und den hörerInnen soll so möglichkeiten der eigenen meinungsbildung geboten werden.

es werden politiker, spitzenbeamtInnen und wissenschafter referieren und debattieren. dabei wird es nicht nur um bern, auch um ottawa, washington und berlin gehen. man darf gespannt sein, denn nebst einigen bekannten gesichtern wie andre holenstein vom historischen institut oder reto steiner vom kpm bern, werden auch neue mit heike mayer vom hiesigen geografischen institut zu sehen sein, und eine reihe von ausländischen referenten, die ausser fachleute niemandem geläufig sind, konnten verpflichtet werden.

mehr zu den ausflügen in geschichte, gegenwart und zukunft, gibt es hier. werde mehrfach zugegen sein.

stadtwanderer

die wärmende philosophie in der klirrenden kälte

“philosophie” heisst das magazin. populärwissenschaftlich ist es, und seit neuestem gibt es die zeitschrift auch auf deutsch. meine heutige stadtwanderung in der klirrenden kälte hat sie aufzuwärmen geholfen. ein einblick.


“Normen sind restriktiv, Werte sind attraktiv”, formuliert der deutsche sozialphilosoph hans joas in der neuesten ausgabe der zeitschrift “philosophie”. und meint damit, dass normen bestimmt handlungen aus juristischen oder moralischen gründen ausschliessen. sein interesse gilt jedoch den werten. sie zeigen bei bestimmte weise der lebensgestaltung auf, die man womöglich nicht kennt. genau das mache sie zu sinnstiftenden vorbildern.

entscheid, so das argument von joas, ist die subjektive evidenz von werten. damit ist gemeint, dass werte nicht gelehrt, nur vorgelebt werden können. “du musst!”, ist keine werteerziehung, auch nicht, wenn da im lehrplan stehen sollte. denn nur ein lehrer, eine lehrerin, der oder die von etwas überzeugt ist, ist ein vorbild. von werten überzeugt zu sein, heisst auch, dass es eine einsicht in ihr wesen braucht. sie existieren, weil sie sich kollektiv bewährt haben, und sie sind einladungen, weil sie individuelle klärungen bringen, was gut ist.

hans joas, vizepräsident der internationalen soziologenvereinigung und bis vor kurzen professor für kultur- und sozialwissenschaftliche studien an der uni erfurt, vertritt ein entsprechendes bildungsideal. selbstverwirklichung sei das erste ziel. bildung solle den menschen sich auf ziele hin entwickeln lassen, die er für sich selber entdecken und sich selber vorgeben muss. da zeigt er sich in der griechischen philosophie eines aristoteles verhaftet: übergeordnete ziele, etwas von der kirche bestimmt und verordnet, akzeptiert er nicht. denn die aufklärung hat damit aufgeräumt, dass es vorgebene ziele gäbe.

beispielsweise den weg des menschen, der auf bild zielt, das gott von ihm hat. das wiederum vertritt annette schavan, die theologin im gleichen gespräch. sie postuliert, bildung sei, dass der mensch nicht hinter den möglichkeiten, die er habe, zurückbleiben dürfe. und, bildung sei die aufgabe von institutionen, der schule, der hochschule, der berufsschule, für die sich die politik einsetzen, gegebenfalls auch gerade stehen müsse.

schon in ihrer dissertation beschäftigte sich die heutige bildungsministerin deutschlands mit der frage, ob und wie es gelinge, empfindsamkeit für gewissenhaftigkeit zu wecken. und nähert sie sich joas an, denn auch sie setzt dabei auf die erfahrung, die einen lehre, wenn auch nicht die individuelle, so doch die kollektive erfahrung, von der man profitieren könne.

und so überrascht es nicht, wenn das gespräch zwischen den beiden beim thema “leitkultur” kulminiert. für schawan ist es die quelle, aus der sich die gesellschaft speist. zum beispiel, dass der mensch ein herausragende stellung beanprucht, dass die wissenschaft eine relevante quelle des selbstverständnisses von moderner gesellschaft ist, und man durch wissenserwerb einen erkenntniszuwachs habe.

hans joas gibt sich das zurückhaltender. denn leitkultur werde vorschnell mit der idee von europa in verbindung gebracht, ja mit westlicher identität gleich gesetzt. da ziehe er die deutung des deutschen philosophen karl jaspers vor, die 1949 gegeben hatte: demnach leben wir in einer welt koexistierender und hoffentlich auch kooperierender universalismen, gegen die ebenfalls koexistierenden und kooperierenden partikularismen.

durchaus wärmende gedanken, zu meinem wärmenden ingwer-tee, angesichts der kälte von heute, welche die neue populärwissenschaftliche zeitschrift “philosophie” da bietet!

stadtwanderer

der stadtwanderer war eine weile lang ausser betrieb. das soll sich wieder ändern.

zugegeben, ich war eine zeitlang abwesend, im internet. denn im frostigen januar ’12 waren tage zwischen “sensation und reflexion” angesagt.

das wahljahr hatte mich gepackt und fest im griff. nach den bundesratswahlen kam ein veritables loch. nein, kein burnout – aber eine müdigkeit.
zudem hatte mich der hilde(flächen)brand schockiert. wegen der hefigkeit der persönlichen attacke, aber auch wegen der ignoranz des topbankers. beides hat mich nicht beflügelt zu bloggen – eher stumm gemacht.

der januar ’12 hat mich auch beruflich stark in anspruch genommen. ein wichtiger arbeitskollege brach sich am neujahrestag beide beine. ich kenne das. statt die seele baumeln lassen, rück- und ausschau zu halten, war tägliches molochen angesagt. und denn bald schon beginnt der
abstimmungszirkus, am 11. märz fünf vorlagen, am 17. juni kommen drei weitere. so wenigstens will es der bundesrat – und mich betrifft es direkt.

meine freizeit stand, zu beginn des jahres, wann immer es ging, unter dem motto “reflexion statt sensation”. meinen medienkonsum habe ich eingeschränkt. wanderungen in die stadt auch. es war häufig auch zu kalt. ein paar mal war ich auf dem land unterwegs – um die augen zu entspannen und den geist dazu. statt werbung studieren, hiess es bücher lesen. statt menschen anhand ihrer kleidungen und wohnungen zu beobachten, ging es um sinnfragen.

“wer bin ich und wenn ja wieviele” von david percht habe ich des nachts gelesen. denn die frage – und die suggerierte antwort – gefielen mir. das
buch ist spannend gemacht, hat viel information drin und liesst sich gut. berührt hat es mich trotzdem nicht. irgendwie fehlte dem ganzen die klarheit.

mehr profitiert habe ich dafür von reiner ruffings einführung in die philosophie. das buch geht geradeaus zu sache. zum beispiel im kapitel 1.5., wo es darum geht, was wahrheit ist:

wenn eine aussage mit dem realen übereinstimmt.
wenn sie kohärent, das heisst frei von widersprüchen ist.
wenn sie unter kontrahenten einen konsens im offenen diskurs ermöglicht.
wenn sie etwas bewirkt.

und seit dem wochenende hat mich die politik wieder: “amstutz oder rickli: wer lügt?” fragt der “blick” heute provokativ zur holprigen wahl von nathalie rickli als fraktionsvize der svp. und die boulevardzeitung folgert hart:

“Stimmt die Version von Amstutz, dann geht es im Streit um einen internen Machtkampf zwischen unzufriedenen SVP-Parlamentariern wie Alex Kuprecht gegen die in der SVP immer noch dominante Blocher-Fraktion. Ein Richtungsstreit.
Stimmt die Version von Kuprecht, hat die SVP ein massives Problem: Bei seiner ersten Amtshandlung als Fraktionspräsident hätten Amstutz und sein
Vorgänger Caspar Baader ihre Kollegen im Stich gelassen. Sie hätten die Fraktion offenbar nicht darüber informiert, dass die Ständeräte eine Kandidatur planten und einbringen würden.”

vielleicht erfahren wir, was da real war. wie kohärent die aussagen sind, die in die welt gesetzt wurden, ob sich die streithäne konsensual auf eine version einigen können – oder was nationalrätin rickli bewirkt, wenn sie gerade mal nicht megasauer auf facebook ist.

aber morgen wieder mehr zu sensation und reflexion.

stadtwanderer