stadtwandern, um die entwicklung des konkordanzsystems verstehen zu lernen

dass ich eine neue stadtwanderung durch bern habe, stand jüngst auf diesem blog. neu ist seit gestern, dass stadtwandern ein fester programmpunkt der jahrestagung der schweizerischen vereinigung für politikwissenschaft wird.


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morgen startet die probetour zu meiner neuen stadtführung. sie wird dem thema “konkordanz: woher? und wohin?” gewidmet sein. der erster teil der wanderung ist den historischen spuren der konkordanz gewidmet: zum beispiel vergangenen adelsheiraten, die konkurrierende herrschaften befriedeten. zum beispiel dem beuteverteilprinzip nach der schlacht von murten, wonach jedes fähnlein unabhängig von der zahl der krieger gleich viel bekam. zum beispiel der konsensbildung unter reformierten predigern, die ihre unterschiedlichen ansichten angesichts der gegenreformation einandern anzugleichen. und zum beispiel den männerbünden, welche die schweiz regier(t)en.

seit jeher ist man so versucht, regionale partikularismen, religiöse spaltungen und ausgrenzung von minderheiten zu überwinden. das heisst nicht, dass es in der schweizer geschichte keine konfliktreichen phasen gegeben hätte. ganz im gegenteil! zum beispiel der alte zürichkrieg, rund um die frage, ob eidgenössische stände jener der limmatstadt mit den habsburgern paktieren dürfen. zum beispiel die kappelerkriege, während der sich die konfessionellen lager mitunter heftig bekämpften. zum beispiel auch die bauernkriege, während denen die bauersleute aufbegehrten, und die herrschaften ohne rücksicht auf verluste zurückschlugen.

der zweiten teil der stadtwanderung gehört der rekonstruktion des politsystems. der aufbau des geltenden bundesstaates verlief nicht in grosser minne. die liberalen hatten sich im sonderbundeskrieg gegen die konservativen durchzusetzen, bevor die sozialdemokraten ihren zusammenschluss beförderten, was den gegensatz zwischen bürgertum und arbeiterschaft mit dem generalstreik am ende des ersten weltkrieges als höhepunkt mobilisierte. damit begann die eigentliche integrationsgeschichte der mderne. mit dem fall des majorzsystems für die wahl des nationalrates in einer volksabstimmung endet die die absolute mehrheit für den freisinn im eidgenössischen parlament. schrittweise wird die präsenz der vorläufer von cvp und svp im bundesrat gestärkt, bevor das klassendenken angesichts der äussern bedrohung durch wirtschaftskrise und nationalsozialimus auch den einbezug der sp ins regierungslager überwunden wird.

definitiv im gleichen boot sassen fdp, cvp, svp und sp zwischen 1959 und 2008, um gemeinsam die geschicke des landes zu steuern. bis ende 2003 galt, dass je zwei fdpler, cvpler und spler mit einem svpler den bundesrat bildeten. dann war der zauber vorbei; was blieb, war die formel, angepasst an die neuen parteistärken, mit einem sitzgewinn für die svp und einem verlust für die cvp. gehalten hat das nicht lange, denn 2008 verliess die svp erbost die bundesregierung, weil ihr bundesrat, christoph blocher, abgewählt wurde. seither befinden wir uns in einer übergangsphase in der regierungsbildung: weder die inhaltliche noch die nummerische konkordanz zählt, sondern das wieder eherne gesetz der bundesratswahlen, kein mitglied der landesregierung ohne äusserste not abzuwählen. parallel dazu mehren sich die zeichen der desintegration: der stadt/land-gegensatz erreichte bei der waffeninitiativen seinen historischen tiefpunkt; das politische erdbeben bei den national- und ständeratswahlen 2011 wird nur durch die auswirkungen einschnitt von 1919 übertroffen; keine vorlage des parlamentes scheiterte seit dem 2. weltkrieg so klar wie die managed care reform für das gesundheitswesen; und der zustimmungswert zur minder-initiative gegen die abzockerei knüpft an die seltenen grosserfolge der volksbegehren am ende des 1. weltkrieges an.

dennoch: einiges spricht dafür, dass wir systemisch gesprochen weiterhin ein konkordanzsystem haben, dass durch föderalismus und direkte demokratie bedingt ist, aber auch durch die abwesenheit von mehrheitsparteien und koalitionsvereinbarungen bestimmt wird. und so überrascht es nicht, dass es anhängerschaft des beibehalts gibt, genauso wie es reformvorschläge gibt: zum beispiel den übergang zu einer kleinen konkordanz mit nur einer polpartei in der regierung; zum die zusammensetzung des bundesrates ganz dem volk zu überlassen; oder die diskussion über den zusammenschluss von cvp und bdp eine gestärkte, neue mitte entstehen zu lassen.

zwei tiefgreifende konfliktlinien prägten die letzten jahre, ohne dass ihre verarbeitung im politsystem definitiv geregelt werden konnte: mein dritter teil der stadtwanderung beschäftigt sich deshalb mit der emanzipation der frauen, die ihre anteil an der politischen macht reklamieren, und mit dem verhältnis der schweiz zur europäischen union, das einer beidseitig akzeptierten dauerlösung harrt. ersters stärkte sp und gps namentlich in den 90er jahren des 20. jahrhunderts; letzteres beflügelte die svp in den nullerjahren des 21. jahrhunderts. gewachsen ist so der anteil der frauen in den behörden, bis sie vorübergehend eine mehrheit des bundesrates stellten; erstarkt ist aber auch die neue svp, welche das parteinsystem der schweiz vom moderaten zum polarisierten pluralismus übergehen liess. ohne verbindliche aussage, was in diesen beiden bereichen sache in der schweizer politik sein soll, wird die unruhe, wie sie sich beispielhaft während den letzten jahren zeigte, anhalten, wird die bürgergesellschaft die vorherrschaft von verbänden und ihren dachorganisationen in volksabstimmungen wiederkehrend anzweifeln, und wird die kritik an den behördenpolitik in der medienöffentlichkeit nicht abreissen.

genau diesem grundthema ist meine führung gewidmet. sie beginnt beim bärenpark als zeichen der genuinen macht, die aus der symbiose von bär und mensch entsteht, und sie endet mit einem offenen spaziergang auf der europaallee hinter den blicken aus dem bundesratszimmer. den genauen weg findet man auf obiger karte. sie markiert die wegstrecke der morgigen wanderung, dem testlauf für den grossen event am kongress der schweizerischen vereinigung für politikwissenschaft, der ende januar 2014 in der hauptstadt der schweiz stattfindet und die schweizer politologInnen aufrütteln will, sich mit der revolution, in der wir uns befinden, vermehrt auseinander zu setzen.

stadtwanderer