Basketballern mit Kim Jong Un

Jetzt weiss man, wo Kim Jong Un in jungen Jahren im Berner Liebefeld lebte – und leidenschaftlich Basketball spielte.

Ein Artikel in der Washington Post brachte es ins Rollen. Beschrieben wurde, wie der heutige Diktator Nordkoreas Kim Jong Un bei seiner Tante Ko Yong Suk in Bern lebte. Begonnen habe alles vor 2 Dezennien, hiess es da, und gedauert habe es etwas mehr als zwei Jahre. Kim war 12, als er in die Schweiz kam, und 14, als er sie wieder verliess.
Auf Twitter habe ich damals den Artikel verlinkt und bemerkt, wenn ich nur wüsste, wo Kim gewohnt hätte, würde ich ihn auf meinen Standwanderungen gerne mit einbeziehen. Lenin habe ich ja schon, Mussolini kommt bald, sodass sich der Sprung zum nordkoreanischen Leader anbot.
Es vergingen keine 10 Minuten, da hatte ich die erste Reaktion auf meinen Tweet. Es meldete sich ein früherer Nachbar von Kim. Wenn ich wolle, würde er mir zeigen, wo das alles war.
Der Twitter-Kollege war kein geringer als Victor Schmid, einst persönlicher Mitarbeiter von Aussenminister Falvio Cotti und späterer Teilhaber der Kommunikationsagentur bei Hirzel, Neff & Schmid. Mit ihm habe ich mich jüngst getroffen.

kimwohnstrase
Wo einst die Tante Kims mit seinem Bruder im Berner Liebefeld wohnte

Ortstermin war im Liebefeld, genau genommen an der Kirchstrasse 10. Schmid zeigte mir, wo die Jungs Basketball gespielt hatten. Die Wand steht noch, doch leider hängt der Korb nicht mehr. Gewichen ist er der Werbung für die Berner Münsterkellerei, die heute noch ihr Lager im nahegelegenen Hügel hat. Der Platz steht noch, und man kann sich gut vorstellen, dass man hier den Ball gerne hoch hinaus warf.
Gewusst habe man, dass es Nordkoreaner seien, erzählt mein Gewährsmann. Angenommen habe man, es handle sich um Botschaftsangestellte. Meist seien es ein paar Buben gewesen, die draussen stundenlang gespielt hätten. Der Jüngste sei immer etwas herausgestochen. Nie seien sie unbegleitet draussen gewesen. Stets hätten sie vier erwachsene Männer umgeben. Im Bus seien sie jeweils mit einer gedrungenen Frau unterwegs gewesen.

kim basket
Wand gegen die Kim leidenschaftlich Basketball spielte

Die Nachbar sprachen damals viel über die etwas sonderbaren Zeitgenossen. Direkte Kontakte hatten sie aber kaum. Selbst unter Alterskollegen sei das nicht üblich gewesen. Erwachsene hätten die Nordkoreaner wie Luft behandelt, durch die man hindurch geschaut habe. Emotionen hätten sie nie gezeigt.
Bisweilen habe es Klagen wegen des anhaltenden Basketball-Spiels gegeben. Sanktionen seien aber nie ausgesprochen worden. Distanzierter Respekt habe das Verhältnis zu den Leute aus dem fernen Osten geprägt.
Die Schmids hatten damals in der Tiefgarage der Siedlung zwei Parkplätze. Unmittelbar daneben stand ein neuer VW-Bus, ganz in schwarz, mit eingefärbten Scheiben. Der habe den Nordkoreanern gehört, erläutert mit der Kommunikationsprofi. Kim habe man die in der Garage gesehen. Ein Chauffeur holte sie stets vor dem Haus ab. Für die Legende vom protzigen Mercedes, mit dem die Nordkoreaner unterwegs gewesen sei, kenne er keinen einzigen Hinweise. Das hätte auch nicht zu ihrem eher diskreten Auftreten gepasst.

kim
“Berner Zweig” der Familie von Kim Jong Un

Die Nummer 10 an der Kirchstrasse war das Zentrum der Nordkoreaner, erzählt Schmid, als wir wieder im Freien sind. Er nehme an, dass die jungen Nordkoreaner Kontakte zum Haus Nummer 8 gelebt hätten. Jedenfalls sah man sie da häufig dort aus dem Garten kommen.
Als erstmals bekannt wurde, dass Kim, seit Ende 2011 Nordkoreas Chef, in den 90ern des 20. Jahrhunderts irgendwo in Bern gelebt habe, war man sich in der Familie Schmid schnell einig. Das musste die früherer Nachbar gewesen sein.
Jetzt weiss man mehr!
Der Ort selber hat durchaus einen Bezug zur globalisierten Welt. Vormals stand das Headquarter der Brauerei Hess am Ort. Dann wurde diese abgerissen, und die CS machte sich im Viertel breit. Wo einst das Zentrum des Hess Family Estates stand, ist heute Verwaltungszentrum der Münsterkellerei vor Ort, auch das ein Teil des Hess-Imperiums.
Auf deren Parkplatz spielte einst der Jungdiktator sein berühmt gewordenes Basketball.

Stadtwanderer

Helvetische Revolution – mehr als ein Theater


Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Diese starken Worte der Französischen Revolution stehen über dem Freilufttheater in Murten, das von der Helvetischen Revolution vor gut 200 Jahren erzählt. Mein Bericht nach dem Besuch.

murten
Bühnenbild oberhalb Murtens, kurz vor der Vorstellung “Helvetische Revolution”.

Gut gefallen hat mir zum Beispiel das Bühnenbild. Es ist schlicht gehalten. Ohne umgebaut zu werden, taugte es für die verschiedenartigsten Szenen. Weniger überzeugend war jedenfalls bei meinem Besuch der Einstieg ins Stück. Wegen des drohenden Regens (?) schien die Spiellust zu fehlen. Und auch der Schluss mit dem Ausblick der Hauptdarsteller auf den Murtensee wirkte für ein Revolutionsstück reichlich unpolitisch.

Was ich dazwischen sah, war jedoch echt toll!

Gezeigt wurden das ausgehende Ancien Regime und die Jahre der Revolution. Bestrichen wurden die Jahre zwischen 1768 und 1803. Protagonisten der damaligen Zeit im Theater sind beispielsweise die liberale NZZ, deren Redaktor von Daphné, einer revolutionär gesinnten Journalistin, bedrängt wird, Heinrich Pestalozzi, dessen Frau Anna unter seinen praktischen Misserfolgen leidet, aber auch der Berner Schultheiss Niklaus von Steiger, der sich im Berner Rat nur knapp halten kann, denn Säckelmeister von Frisching paktiert offen mit den Franzosenfreunden.

Das dramatische Ende des Ancien Régimes fand in der Schlacht am Grauholz seinen effektiven und theatralischen Höhepunkt kurz vor der Pause. Die war präzise dann, als es regnete. Wer glaubte, danach sei es vorbei mit dem wilden Krieg, sah sich jäh getäuscht. Denn die zweite Spielzeit beginnt mit dem Massaker der Franzosen an den aufständischen Nidwaldnern, welches die neue Helvetische Regierung in arge Verlegenheit bringt. Schliesslich ist es Pestalozzi, der in Stans ein Waisenheim aufbauen soll, um die akute Not zu lindern. Gefördert wird er von Philipp A. Stapfer, dem Bildungsminister der neuen Republik, der wissen will, was die viel gelobten Erziehungsmethoden des Pädagogen taugen. Doch auch dieses Duo verkracht sich. Denn Peter Ochs, der starke Mann in der Helvetischen Regierung, verlangt Berichte über Erfolge, welche die Geldzahlungen rechtfertigen sollen. Das wiederum interessiert den Waisenvater nicht im geringsten, bis er schliesslich abgesetzt wird.

Ueberhaupt hat man den Eindruck, die Helvetische Revolution misslinge Stück für Stück, denn die Volksabstimmung über die neue Verfassung ist manipuliert, die Presseberichte der jungen Journalistin werden zensuriert, und schliesslich zerbricht auch das Verhältnis von Pestalozzi zu seiner Frau. Am Ende der Vorstellung fragt man sich ernsthaft, ob da Revolutionäres geschaffen wurde!

Vielleicht ist es genau das, was ich an der nacherzählten Helvetischen Revolution in Murten vermisst habe. So kläglich die Revolution von 1798 bis 1083 in ihren Teilschritten scheiterte, so grossartig wirkte sie auf die Befreiung von der Tradition der alten Eidgenossenschaft aus. Ohne sie hätte die Zukunft anders ausgesehen. Typisch für die Schweiz ist, dass nicht alles in fünf Jahren auf den Kopf gestellt wurde. Schrittweise entsteht der Bundesstaat von 1848, der in seinem Grundfesten noch Gültigkeit hat. Ebenso entwickelt sich nach 1830 das Gerüst des Parteiensystems mit den liberalen Kräften im Zentrum, den konservativen und sozialen Stimmen an den Flügeln. Zudem gilt 1815 als Moment in der Schweizer Geschichte, an dem sich völkerrechtliche Anerkennung durch Schweizerischen Eidgenossenschaft unwiderruflich durchsetzte. Das alles wäre nicht möglich gewesen, wären die alten Schichten mit ihrem Geflecht an Beziehungen der Ungleicheit 1798 nicht gestürzt worden, hätte nicht der Geist der Französischen Revolution mit der Gleichheit der Kantone, der Sprachen und der Konfessionen jene Grundlage geschaffen, auf der ein modernen Staat überhaupt erst entstehen konnte.

So ist die Helvetische Revolution mehr als nur französische Besatzungszeit, die viel Elend ins Land brachte. Sie ist auch der Anfang des Bildungsbürgertums, das Hoch-, Gewerbe- und Volksschulen gründen wird, wohlwissend dass Demokratie ohne Bildung nicht funktioniert. Es ist auch der Startschuss der Unternehmer, die ihren Erfindungsreichtum einsetzen, um die wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern, weil allen klar ist, dass sie die wichtigste materielle Basis einer jeden modernen Staatsform darstellt. Und es ist der Beginn der Politiker und Medien, die sich an das heran tasten, was man heute öffentliche Meinung nennt, deren Vorteil es ist, den Informationsfluss an den Patrizierhöfen, in den Zunftshäusern und auf den Landgemeinden zum freien Medium des raisonierenden Geistes über das Gute gemacht zu haben.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind die Grundsätze, welche nicht nur die Französische, vielmehr auch die Helvetische Revolution vorangetrieben haben. Gerne hätte man im Theaterstück mehr hierzu erfahren. Denn das ist es, was bis heute von den kriegerischen Tagen bleibt, die nach den Umwälzungen der Reformation und vor den Umstürzten der Klassenkampfes die wichtigste Phase der Schweizer Geschichte sind.

Stadtwanderer

Die grosse Stadtwanderung zur Berner Migrationsgeschichte und -gegenwart

Im September 2017 lanciere ich meine neue eintägige Tour durch Bern. Sie wird ganz dem Thema “Migration” gewidmet sein.

das_haus_der_religionen_wird_eingeweiht@1x

Wie gewohnt soll sie einmal Bern als Stadt zeigen, sodann Bern als Geschichte erlebbar machen. Dafür braucht es Orte mit hoher Symbolik, die der Zeit entrissen sind, sprich bis heute von Vergangenem berichten: Berns Brunnen, Kirchen, Türme, Denkmäler, Friedhöfe aber auch grossen Infrastrukturprojekte eigenen sich hierfür besondern.

Momentan arbeite ich an 13 Stationen der Berner Migrationsgeschichte, nachstehend kurz aufgezählt. Das Ganze ist chronologisch zu verstehen, von der Stadtgründung bis in die Gegenwart, wo beidie angesprochenen Themen vom thematischen Ausgangspunkt in der Vergangenheit mit Ausführungen im grossen Bogen bis in die Jetzt-Zeit erzählt werden.

Der Ansatz ist in erster Linie struktur- und kulturgeschichtlich – mit Anspielungen zur Politik in Vergangenheit und Gegenwart.

Konkret als Stationen ausgewählt habe ich:

. Das Bundeshaus: zur Migrationssymbolik der Fassade
. Der Zähringerbrunnen: Adelige auf dem Breisgau gründen Bern
. Der Chindlifresserbrunnen: Juden bringen Geld und Schulden, werden aufgenommen und vertrieben
. Das Münster: die Burgunderkriege, die Tapisserien, die Kanonen, der Schmuck und die burgundischen Waschfrauen
. Die Franzosenkirche: Hugenotten – Glaubensflüchtlinge zwischen Kulturbereicherung und Kulturschock im alten Bern
. Der Käfigturm: Arbeitslosigkeit, Dumpinglöhne, Gewerkschaften und politische Regulierungen
. Das Weltpostdenkmal: Bern, die vergessene Alternative zu Genf als Sitz internationaler Organisation
. Der Bahnhof: Brennpunkt des städtischen Bevölkerungswachstums, bis das Auto die Agglos anwachsen lässt
. Die Universität: Mediziner und Medizinerinnen aus Russland als Teil der sozialen Entwicklung
. Die Länggasse: wo Lenin seine Ideen der Weltrevolution entwickelte
. Der Bremgartenfriedhof: lokale, nationale und internationale Prominenz in Bern
. Das Inselspital: der multikulturellste Ort der Stadt
. Das Haus der Religionen: Vorbild für das Leben im 21. Jahrhundert?

Die Führungen sind jeweils am Samstag, von 0930 bis zirka 1600, mit einem Unterbruch zum gemeinsamen Mittagessen. Gedacht sind sie für Gruppen von 10-25 Personen. Interessenten können sich direkt bei mir melden. Der grösste Teil findet zu Fuss statt, einzelne Stationen werden mit Bernmobil zurückgelegt.

Stadtwanderer

Berns Migrationsgeschichte(n) (6): im Zeitalter der Globalisierung

Globalisierung bezeichnet die Entwicklung vor allem der modernsten Welt über nationale Grenzen hinaus. Sinnbild dafür ist das Denkmal des Weltpostvereins.

Weltpostdenkmal_Bern
Autour du Monde, Denkmal des Weltpostvereins in Bern

Der Globalisierungsindex der ETH unterscheidet drei Dimensionen: die wirtschaftliche, die gesellschaftlichen und die politische Globalisierung. Die Schweiz zählt zu den Ländern, die am meisten globalisiert sind. Bei der wirtschaftlichen Globalisierung figurieren wir regelmässig unter den ersten 30 Nationen. Bei der politischen sind wir meist unter den ersten 20. Bei der Globalisierung der Gesellschaft rangieren wir immer wieder unter den ersten 10 – gegenwärtig sogar an erster Stelle. Wir sind die globalste Gesellschaft. Das hat natürlich auch mit der Definition der KOF-Oekonomen zu tun. Ueber den Grad der wirtschaftlichen Globalisierung entscheiden ausländische Firmen und Investitionen. Botschaften und Friedensmission kennzeichnen die politische Globalisierung. Von sozialer Globalisierung spricht man vor allem angesichts von Tourismus und Migration.

Das Inselspital ist der multinationalste Ort der Stadt Bern. 2015 liessen sich Menschen aus 159 Nationen im führenden Universitätsspital operieren. Menschen aus 86 Nationen leisteten die hierfür nötigen medizinischen Behandlungen. Viele Leute, auch viele Bernerinnen!, haben vergessen, dass Bern schon zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Zentrum der Medizin war. Am Anfang dieser Entwicklung steht die Verleihung des ersten Nobelpreises für Medizin überhaupt. Er ging an den Berner Chirurgen Theodor Kocher. Seinetwegen kamen viele Leute nach Bern, so auch Wladimir Iljitsch Uljanov, besser bekannt als Lenin. Auch seine kranke Frau, Nadeschda Konstantinowna Krupskaja, die spätere sowjetischen Bildungskommissarin, wurde von Kocher behandelt. Beide genossen sie während ihrer Berner Zeit die Weisheiten, die sie in den Büchern der Universitätsbibliothek fanden. Meist hielten sie sich jedoch unter russischen Emigranten auf. Daselbst schmiedeten sie Pläne, wie das russische Zarenreich gestürzt werden könnte. Was in Mansarden in Berner Länggassquartier entstand, sollte ab 1917 von St. Petersburg aus Weltgeschichte schreiben.

Zahlreich sind berühmt gewordene Russinnen. Anna Tumarkin, genau genommen aus dem heutigen Moldawien, studierte in Bern Medizin. Sie wurde hier zur Jahrhundertwende die erste Professorin Europas überhaupt, die an einer Universität Prüfungen und Arbeiten abnehmen durfte. Seinen Anfang nahm das Medizinstudium der Russinnen bereits im 19. Jahrhundert. Um 1900 zählte die medizinische Fakultät rund 600 Studierende. 400 davon waren AusländerInnen, die meisten Frauen aus Russland. Ihr Förderer war der Bernische Erziehungsdirektor Charles-Albert Gobat, ein freisinniger aus dem Jura von altem Schrot und Korn. Für seine frühe Zulassung von Frauen zum Medizinstudium wurde er von der Berner Bevölkerung gar nicht belohnt. 1906 kam es zu einem Aufstand gegen die selbstbewussten Russinnen. Gobat wurde in der Folge aus der Erziehungsdirektion spediert. Den politischen Dienst quittierte er, um sich ganz seiner eigentlichen Leidenschaft, der Friedenförderung im internationalen Friedensbüro, zu widmen. Hierfür erhielt er den Friedensnobelpreis – übrigens bis heute als einziger Schweizer Politiker.

Berühmte Migranten in Bern waren zudem Albert Einstein und Hermann Hesse. Beide lebten und wirkten hier, und auch sie zwei erhielten einen Nobelpreis, der eine für Physik, der andere für Literatur. Getrud Kurz, die Flüchtlingsmutter im zweiten Weltkrieg war mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert. Leider hat sie ihn nie erhalten.

Warum dieser Rundgang durch illustre MigrantInnen an dieser Stelle? Das Geheimnis will ich als Letztes lüften. Hinter uns ist das Denkmal des Weltpostvereins. Genannt wird es “Autour du Monde”; symbolisiert sind die fünf Kontinente durch Frauen, die sich rund um den Erdball die Hand reichen. Der Verein selber entstand in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts auf Initiative der Deutschen Post, um den Briefverkehr, der mit den Wanderungen durch die Industrialisierung zugenommen hatte, zuerst in Europa, dann weltweit zu vereinheitlich. Sitz der Organisation wurde Bern. Das ist bis heute so. Zwischenzeitlich ist es eine Unterorganisation der UNO. Seine Rolle als Stadt für internationale Organisationen, die mit dem Weltpostverein begann, hat Bern nach dem 1. Weltkrieg nach Genf verloren, als der Völkerbund in der Rhonestadt ihre Tore öffnete. Seither ist Bern “nur” Bundesstadt. Wirtschaftlich macht das Sinn, denn namentlich die Post, die SBB und die Swisscom als grösste Arbeitgeber sind klar national ausgerichtet. International ist Bern speziell wegen den zahlreichen Botschaften. Früher kam die bürgerliche Friedensbewegung hinzu. Erheblich globalisiert ist dafür die heutige Berner Gesellschaft. Menschen fast aller Nationen machen hier Ferien, kommen, um zu arbeiten. Oder flüchten, weil sie sich ein besseres Leben erhoffen.

Im Migrationsprodukt der Zähringer zu Zeiten des modernen Klimawandels.

Stadtwanderer

Berns Migrationsgeschichte(n) (5): soziale und nationale Konflikte

Fremdenfeindliche Uebergriffe im modernen Sinne kennt man in Berns Geschichte seit dem Ende der Industrialisierung.Typisch ist, dass sich dabei soziale und nationale Problemlagen mischen.

Bern_Käfigturmkrawall_1893_2
Käfigturmkrawall 1893

“Chäfig” meint im Berndeutschen Gefängnis. Der Chäfigturm ist jener Turm, der damals das Untersuchungsgefängnis der Berner Polizei herbergte. Im Sommer 1893 kam es hier, wo wir jetzt stehen, zu einem fürchterlichen Krawall, der einem kleinen Bürgerkrieg glich.

Ausgangspunkt war eine Demonstration von Berner Handlangern, die meisten von ihnen arbeitslos. Die Gruppe von rund 50 Mann bewegte sich vom Bahnhof Richtung Kirchenfeld, wo man mit englischem Kapital und italienischen Arbeitern ein neues Stadtquartier baute. Grund der Demonstration waren die Dumpinglöhne, zu denen die Fremdarbeiter hier schufteten. Um ihrer Wut Auslauf zu geben, demolierten die Randalierer die Baugerüste, und verklopften sie die Fremdländischen. Es schritt die Berner Polizei ein, gegen die Handlanger, die zur Aufnahme der Personalien in den Käfigturm gesperrt wurden. Das machte in der Stadt rasch die Runde, was zu einer Solidaritätskundgebung zugunsten der Eingesperrten führte. Die Polizei griff drei Mal in die gewerkschaftliche Kundgebung ein, stets erfolglos. Schliesslich befahl der freisinnige Stadtpräsident Eduard Müller Berns zwei Kompanien Militär auf den Platz. Thuner Artilleristen stoppten den Auflauf; die Stadt blieb in der Folge aber unruhig und musste vier ganze Wochen militärisch besetzt bleiben.

Nun wurde Niklaus Wassilieff, der die organisierte Arbeiterschaft vertrat, wegen Anstiftung zur Aufruhr ins Gefängnis gesteckt. Beim Bürgertum der russische Migrant verhasst. In ihrer Erinnerung ist er bis heute der “WaschliSepp”. Dennoch profitierte die junge Arbeiterbewegung vom Käfigturmkrawall. Er ist der Startschuss zur Arbeiterbewegung Bern. Nur zwei Jahre später wurde erstmals ein Sozialdemokrat in die Berner Stadtregierung gewählt.

Möglich geworden war der Krawall durch die Umstände. 1888 wurde mit der SP die erste linke Partei der Schweiz gegründet, die mit dem 1. Mai den internationalen Tag der Arbeit feierte. Das Bürgertum reagierte mit einem Schulterschluss. Am 1. August 1891 feierten Freisinnige und Katholisch-Konservative die legendäre Gründung der Eidgenossenschaft von 1291. Das polarisierte die angespannte Situation in Bern. Den Anfang der Spannungen machte die Gründung der Arbeiterunion 1890. Zwei Jahre später entstand der bürgerliche Einwohnerverein als Gegenstück. Dieser reagierte scharf auf Arbeiterproteste, die ihren Ursprung in der wirtschaftlichen und sozialen Lage der einheimischen wie ausländischen Unterschichten, mit dem bürgerlichen Leben in Bern jedoch nichts gemeinsam hatten.

Belle epoque nennt man diese Zeit in der bürgerlichen Rückschau. Linke Historiker ziehen den Begriff des Klassenkampfes vor. Beiden Sichtweisen geht es um das industrielle Bern, seine neue soziale Spaltung. Politisch sollte sich der Ende des 19. Jahrhunderts eingeschlagene Weg der Demokratisierung von Institutionen ein geeignetes Mittel der Mässigung erweisen. Die Berner SP schwor nach der Weltwirtschaftskrise dem Klassenkampf ab, befürwortete die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, um die soziale Lage der Arbeiter zu verbessern. Das Bürgertum verzichtete dafür Vergeltungsmassnahmen. Belohnt wurde die SP mit der Aufnahme in die Kantonsregierung 1937. 1943 folgte der erste sozialdemokratische Bundesrat. Die Zauberformel mit je 2 FDP, CVP, SP und 1 SVP Vertreter galt von 1959 bis 2003.

Die 80er Jahre brachten der Linke eine vorübergehende Krise. Das Dogma des Fortschritts durch Wirtschaftswachstum wurde aufgebrochen. Die Verheissungen der nachindustriellen Gesellschaft brachten die Grünen mit ihrer Wachstumskritik auf den Plan, Sie politisieren seither vor allem in den Parlamenten, in Kantonen und Städte auch in zahlreichen Regierungen. Dank ihnen wurde der Umweltschutz populär. Wie die SP brachten auch sie viele Frauen in die Politik.

Seit 24 Jahren ist die Linke in Stadt Bern in der Mehrheit. RGM heisst das Zauberwort, das SP, linke und moderate Grüne zusammenfasst. Nötig war es hierfür, die Fixierung der Gewerkschaften auf benachteiligte Schweizer aufzugeben und von Diskriminierung aufgrund verschiedenster nationaler Herkünfte auszugehen. Das hat einen Teil der klassisch ausgerichteten Arbeiterschaft in die Hände der Rechtsparteien getrieben. Zu den offensichtlichen Leistungen des rotgrünen Bündnisses in Bern zählt jedoch, die Stadtfinanzen in Ordnung gebracht zu haben. Gefördert wurde in der Folge das urbane Leben für junge Familien, umweltbewusste Velofahrer und kulturell interessierte Zeitgenossen.

Sinnigerweise ist das alles am 6. Dezember 1992 entstanden. Seither bildet Bern die Antithese zum Rechtsrutsch der Schweiz unter Führung der SVP. Migrationspolitik bildet bis heute einen der Zankapfel zwischen links und rechts. geblieben. So lehnte die Stadt die Masseneinwanderungsinitiative mit 72.3 Prozent ab, derweil sie landesweit mit 50.3 Prozent angenommen wurde. Ueberhaupt zeigen statistische Analysen, dass Bern heute bei Abstimmungen die linkste Stadt der deutschsprachigen Schweiz ist. Das erklärt auch, dass sich den Luxus leisten kann, gleich mit drei linken KandidatInnen zu den Stadtpräsidentenwahlen Ende Jahr anzutreten.

Stadtwanderer

Berns Migrationsgeschichte(n) (4): das Asyl der Hugenotten

Die Hugenotten waren zwar auch reformiert, aber eben anders als die orthodoxen Berner. Nach 8 Jahren der Gastfreundschaft werden viele von ihnen ausgewiesen. Zum Teil zum Vorteil der Untertanen, die sie aufnehmen mussten.

450px-ChorFranzKircheBern
Franzosenkirche Bern

Der Gebäudeteil, in dem wir uns befinden, ist der älteste noch bestehende Steinbau Berns. Er stammt aus dem beginnenden 14. Jahrhundert. Ursprünglich war das die Kirche des Dominikanerklosters, gestiftet zu Zeiten der savoyischen Stadtherrschaft. Heute heisst die Kirche Franzosenkirche, denn sie wurden nach einer Umnutzung im Gefolge der Reformation ab dem 17. Jahrhundert zur Kirche der Hugenotten.

Ohne die Definition staatlicher Herrschaft im modernen Sinnen, gibt es auch keine Grenzen. Deshalb gibt es auch fast kein örtlich gebundenes Recht. Dieses etablierte sich ausgehend von den Städten und löste das mittelalterliche Feudalrecht ab, wonach man einem Herrn gehörte, wo auch immer man war. Der Begriff des Flüchtlings hängt eng damit zusammen. Denn erst mit der Flucht aus einem Gebiet mit eigenem Recht in das Gebiet mit anderem Recht macht die Bezeichnung überhaupt Sinn.

Ihre rechtliche Autonomie erreichte die Stadt Bern 1499, jene der Eidgenossenschaft wurde 1648 im westfälischen Frieden definitiv gewährleistet. Die erste grosse Flüchtlingsbewegung, welche die Eidgenossenschaft erreicht, datiert aus dem Jahr 1685. Ausgelöst wurde sie durch die Kündigung des Edikts von Nantes, das die Reformierten in Frankreich den Katholiken gleichstellt hatte. In der Folge bewegten sie die Hugenotten über Genf auf das Gebiet der Eidgenossenschaft zu. 60’000 der 150’000 Flüchtenden durchquerten das Land. 20’000 liessen sich hier nieder. Nötig war hierfür ein gemeinsamer Plan der Eidgenossenschaft. Die katholischen Orte weigerten sich, Flüchtlinge einer anderen Konfession aufzunehmen. So teilten sich Bern, Zürich, Basel und Schaffhausen in die Aufgabe. Bern gab dabei die Merkel und übernahm die Hälfte der Flüchtlinge.

Für die Stadt bedeutete dies zuerst eine Kulturbereicherungen. Jetzt lernten die Berner französisch; später sollte dies gar zum Abgrenzungsmerkmal werden, denn die Patrizier zeichneten sich im 18. Jahrhundert unter anderem dadurch aus, dass sie untereinander französisch parlierten, was das gemeine Volks nicht verstand. Bei der religiösen Kulturbegegnung scheiterte man dagegen. Denn die Berner waren ausgesprochen orthodox- reformiert, ganz anders als die Hugenotten. Deshalb bekamen sie ein eigenes Kirchengebäude. Ueberhaupt, der Habitus blieb verschieden. Die Berner Patrizier zelebrierten auf ihren Campagnen ihre Landlust, derweil die Hugenotten zu geschäftstüchtigen Fabrikanten waren.

Nach nur 8 Jahren kam die Aufnahmebereitschaft in der reformierten Eidgenossenschaft zum erliegen. Zwei Drittel der Hugenotten wurden bis 1699 ausgeschafft – entweder in den Norden nach Preussen oder Skandinavien, oder aber in die Untertanengebiete. Viele der Berner Hugenotten gingen damals in die Waadt, wo sie sich als Gewerbetreibende und Industrielle hervortaten, und so eine Basis dafür schafften, dass sich nach der französischen Revolution die Untertanengebiete gegen das alte Bern erhob.

Heute sind die Hugenotten in der Schweiz kaum mehr von den reformierten unterscheidbar. Fast niemand nahm Notiz, dass mit Adolph Ogi erstmals ein Bundesrat aus einer hugenottischen Familie in die Landesregierung gewählt wurde. Hätte er es mir nicht selber erzählt, wäre es mir auch entgangen.

Der Einwanderung im 17. Jahrhundert steht 18. Jahrhundert auch eine Auswanderung gegenüber. Amerika wurde zum grossen Ziel. New Berne entsteht in North Carolina. Pepsi-Cola sollte daselbst begründet werden. Und Laura Bush ist eine späte Nachfahrin der ausgewanderten von Graffenrieds. Viele der Berner Auswanderer waren sind nicht nur politisch konservativ, sie blieben es auch kulturell. Denn unter den Migranten die Bern verliessen befanden sich viele mit streng orthodoxem protestantischem Glaube, der in der Heimat zusehends kritisiert wurde. Um weitere Auswanderer aus Not zu verhindern, schafft man nun Kornhäuser, Vorratskammer für Getreide, das man den Treuen ganz im paternalistischen Stil abgab.

Stadtwanderer

Berns Migrationsgeschichte(n) (3): Kriegsdienste mit Folgen

Die Migrationsgeschichte im Spätmittelalter ist fast deckungsgleich mit Kriegsgeschichte. Bern bringt dieser bis heute geltende Zusammenhang Reichtum – und eine unerwartete Blutauffrischung.

resized_750x375_750x375_berner-muenster-innen
Im Berner Münster

Im 15. Jahrhundert etabliert sich das Soldwesen in der werdenden Eidgenossenschaft. Begehrt wurden die Jungs der Bauern durch den Sieg der Eidgenossen in den Burgunderkriegen zwischen 1474 und 1777. Angefangen haben sie mit der Kriegserklärung der Eidgenossen an den burgundischen Herzog Karl den Tollkühnen. Denn am 16. Oktober 1474 unterzeichnete man in der Sakristei der Kirche, in der wir jetzt sind, den berühmten Brief, der das Ende des mittelalterlichen Burgunds einleiten sollte.

Herzog Karl griff die feindlichen Eidgenossen über Pontarlier und Grandson an, wo es zum ersten Kräftemessen kam. Das zweite war in Murten. Beide mal siegten die Berner militärisch, in Murten von erstmals von den gemeinsam kämpfenden Eidgenossen unterstützt. Zu den grossen Fehlern des Burgunder gehörte, dass sie noch ganz in der Tradition der burgundischen Wanderkönige ihren ganzen Reichtum mitschleppten, wohin sie gingen. In Grandson, aber auch Murten verloren sie wesentliche Teile davon. So eroberten die Eidgenossen die berühmten Tapisserien mit einer Darstellung der damals bekannten Weltgeschichte. Noch heute sind sie im historischen Museum zu Bern zu besichtigen. Erobert wurde auch die Artillerie der Burgunder. Vor allem aber kam man zu viel Geld und Schmuck, der wiederum zu Geld gemacht wurden.

Die wichtigste Eroberung der Eidgenossen. betraf jedoch die Marketenderinnen, offiziell die Waschfrauen der burgundischen Söldner, faktisch ihre Prostituierten. 3000 Frauen übernahm die Eidgenossen, die wichtigste Blutauffrischung in unseren Landen. Auf jeden Fall war dies die wichtigste Migrationsbewegung im Spätmittelalter. Nicht auszuschliessen, dass in uns allen ein wenig burgundisches Blut fliesst.

Tapeten, Kanonen, Schmuck und Marketenderinnen machten die Eidgenossen schlagartig reich. Sie veränderten auch die Lebensweisen, auf die sie gar nicht vorbereitet waren. Nötig wurde ein Beuteverteilplan. Erst 5 Jahre nach der Schlacht einigte man sich im Stanser Verkommnis. Die Beute wurde entlang der Zahl Soldaten verteilt, Eroberungen an Land sollten gleichmässig an die beteiligten Orte gehen. Man erkennt mindestens eine Vorstufe der Entscheidungsfindung zwischen National- und Ständerat in diesem frühen Verfassungswerk.

Begründet wurde in dieser Zeit auch die Geschichtsschreibung sowie der Mythos von Wilhelm Tell. Je nationalistischer diese ist, desto eher glaubt man, dass sich die Schweiz durch Abgrenzung von Ausland konstituiert hat. Viele Historiker sehen das heute anders. Sie sehen die Schweiz eher als Teil in einem sich vernetzenden Europa, mit Schweizer Eigenheiten, auch europäischen Kennzeichen. Migration im Gefolge von Krieg ist dabei ein verbindendes Element.

Stadtwanderer

Berns Migrationsgeschichte(n) (2): das Los der Juden

Die Juden in Bern boten den ersten Anlass für Kulturkonflikte in unserer Stadt. Dreimal wurden sie ausgewiesen. Heute leben sie unauffällig in Bern.

Bern 4 (78) - and a close-up of the guy who eats kids Oct 14
Berner Chindlifresserbrunnen

Ich weiss, die Symbolik des Chindlifresser-Brunnens ist umstritten. Unbestritten hat er erzieherische Wirkung für Kinder, die nicht gehorchen wollen. Denn sie werden vom bösen Mann gefressen. Umstritten ist, ob der böse Mann ein Jude ist oder nicht. Unbestritten ist wiederum, dass man die Juden in Bern des rituellen Knabenmordes bezichtigt hat.

1254 zerfällt die Herrschaft der kaiserlichen Staufer-Dynastie. In Bern übernehmen die Savoyer, bis heute bekannt für das Schloss Chillon, die Stadtherrschaft. Orientiert waren sie am Stadtverständnis im Süden: Städte sind Orte mit einer Stadtmauer, mit Klöstern und mit Juden als Geldgeber. Die Zähringerstädte hatten nichts davon. Eher waren sie Flecken in der Landschaft. Nicht einmal eine historischen Marktplatz haben die Zähringerstädte.

Die kulturelle Integration der Juden ins zähringische Bern missriet. Die Juden waren als Bankiers akzeptiert, mehr indessen nicht. 1289 eroberte König Rudolf von Habsburg Bern von den Savoyern zurück. Bern wurde erneut Reichsstadt, muss jedoch eine hohe Kriegskontribution bezahlen. Das Geld dafür leiht sich die Stadt bei den Juden. Kaum war es dem König überwiesen worden, bezichtigten die Berner die Juden, Bruno, einen Berner Jungen, des Nachts rituell geopfert zu haben. Zur Strafe wurden sie aus der Stadt verwiesen. Die Berner verbrannten danach die Schuldschein. Man kann auch von der mittelalterlichen Art des Schuldenschnitts sprechen. Bezahlt haben die Kriegskontribution die Juden, nicht die Berner.

Die Juden durften nochmals zurückkommen, wurden 1349, nach der grossen Pest, aber erneut vertrieben. Jetzt galten sie als Brunnenvergifter, dem typischen Sündenbocksyndrom der damaligen Zeit. Auch ihre Zweite Rückkehr war nicht von Dauer. 1415 eroberten die Berner, gemeinsam mit den Zürchern und Luzernern den habsburgischen Aargau, 1422 regelte man die Eroberung vertraglich, und nur fünf Jahre danach wurden die Juden ins neue Untertanengebiet ausgeschafft. Angesiedelt wurden sie vor allem im Surbtal südlich von Zurzach. Erst 1866 bekamen sie die minimalen Grundrechte, die der junge Bundestaat nur den christlichen Glaubensbrüdern gewähren wollte, zu gestanden. Möglich wurde dies nur, weil der französischen Kaiser Napoléon III. der Schweiz mit einem Handelskrieg droht. Deshalb führten wir die erstmals eine Volksabstimmung für eine Verfassungsänderung durch. Die Niederlassungsrechte wurde so auch auf Juden übertragen. Politische Rechte blieben ihnen genau so wie Religionsfreiheit vorerst verwehrt.

In der Folge siedelten sich wieder Juden in Bern an. Diesmal gelang ihre Integration besser, nicht zuletzt, weil sie wirtschaftlich aktiv werden konnten. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es jedoch erneut zu einer Krise. Es brauchte die Vermittlung des grossen Berner Schriftstellers Karl Albert Loosli, dass die Situation nach einem Gerichtsprozess nicht eskalierte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg verringerten sich die Spannungen. Heute sind die Berner Juden eher liberal, gesellschaftlich gut integriert; ihre konfessionellen Ueberzeugungen leben sie vor allem im Privaten. In der Bundesstadt dienen sie regelmässig als Ansprechspersonen für den Bundesrat, der sich heute um ihre diskriminierungsfreie Gleichberechtigung kümmert.

Antisemitismus ist zwar nicht ganz verschwunden, aber auch kein dominantes Phänomen mehr. Zirka 10 Prozent der Bevölkerung zeigen entsprechende Einstellungen, sagt der Rassismusmonitor. Politisch funktioniert die Abwehr allfälliger Strömungen in diesem Sinne ganz gut. Ohne politischen und sozialen Willen, gegen Diskriminierungen einzuschreiten, funktioniert das Zusammenleben religiös oder kulturell verschiedenartiger Gruppen nicht.

Dennoch, ohne Probleme ist die Geschichte der Berner Juden bis heute nicht geblieben. Im 15. Jahrhundert verschwand der erste jüdische Friedhof in Bern. Der zweite steht seit dem 19. Jahrhundert am heutigen Stadtrand. Berühmtheiten wie der deutsche Sozialphilosoph Max Horkheimer, der Begründer der Frankfurter Schule, ruhe daselbst. Vom ersten Friedhof sieht man gar nichts mehr. Denn das Bundeshaus Ost steht an seiner Stelle.

Stadtwanderer

Weiter zu Teil 3

Berns Migrationsgeschichte(n) (1): Stadtgründung durch südschwäbische Adlige

Bern ist in höchstem Masse ein Migrationsprodukt. Und Migration ist eine Folge des Klimawandels. Viele der ersten Zuwanderer waren gekommen um zu bleiben. Teils bis heute.

389px-Bern_Zähringerbrunnen-1
Zähringerbrunnen in Bern

Meine Damen und Herren, Sie kennen mich wohl aus dem Fernsehen, und sie glauben zu wissen, ich sei Politologe, befasse mich nur mit Volksabstimmungen und rechne gelegentlich falsch hoch.
Weit gefehlt! Von meiner Ausbildung her bin ich Historiker, mit Schwerpunkten bei der Schweizer und der europäischen Geschichte. Seit über 10 Jahren beschäftige ich mich zudem intensiv mit Lokalgeschichte oder der/den Geschichte(n) des Ortes. In Bern kennt man mich als Stadtwanderer, der fast täglich auf der Pirsch nach neuen Entdeckungen ist. Davon will ich Ihnen heute unter dem Titel “Berns Migrationsgeschichte(n)” erzählen.

Um zu verstehen, wie es zu Bern kam, muss man kurz ins fünfte und sechste Jahrhundert zurück, der Zeit der Völkerwanderung. Ausgelöst wurde sie, als durch die Wanderungen der Goten aus der heutigen Ukraine nach Westen einsetze. Das römische Kaiserreich war ihr Ziel. Diese verteidigte den Osten um Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, überliess den Wanderungsvölkern aber grosse Teil des Westens. Nur Rom verteidigten die Römer vorerst mit allen Mitteln, weshalb sie nördlich der Alpen ihre Truppen zurückzogen. Das machte Platz für Zuwanderer.

Das erste Einwanderungsvolk in unserem Gebiet nannte man die “Burgunden”. Sie kaum aus dem heutigen Thüringen und wollten nach Trier, der römischen Kaiserstadt im Norden. Die Römer mochten sie nicht, schlugen sie kurz und klein. 20’000 sollen überlebt haben, die als Föderaten zur Bewachung der Grenzen eingesetzt wurden. Genf war damals der heikelste Punkt auf der Nord-Süd-Achse. Denn wer da durch kam, war schnell in Lyon und Marseille, und von aus war der Weg nach Rom einfach. So bekamen die Burgunden den Auftrag, das Dreieck zwischen Jura, Aare und Alpenkamm nördlich von Genf zu beschützen. Sie passten sich der spätrömischen Kultur weitgehend an. Sie übernahmen deren Sprache und Religion, und sie lebten gerne in den römischen Städten. Genf erhoben sie bald schon zu ihrer Königsstadt. Auch ihre Essen und Trinken mit wenig gebratenem Fleisch und Wein passten sie der neuen Umgebung an. Als sich die Römer zurückzogen, dehnten sich die Burgunden aus, bevölkerten das Rhone-, Saone- und Doubstal, wie sie ein Königreich gründeten, das zuletzt als Herzogtum Burgund existierte, wie wir es kennen.

Ganz anders verhielten sich die Alemannen, das zweite Wanderungsvolk. Sie kam, etwas später, als die Römer schon weg waren. Die römischen Zentren hassten sie. Was noch stand, zerstörten sie. Sie adaptierten sich weder in Sprache noch in Religion der Römer. Am liebsten lebten sie in Wäldern, wo sie ein wenig rodeten, um ein Haus für sich und ihre Schweine zu bauen. Deren Fleisch verzehrten sie einmal jährlich reichlich, mit Met oder Bier als bevorzugtem Getränk. Ein Königtum entstand daraus nicht, höchstens ein Herzogtum, das schliesslich im Herzogtum Schwaben dies- und jenseits des Oberrheins aufging.

Zwischen beiden Volksgruppen auf beiden Seiten Berns blieb ein unbewohnter Streifen. Erst im 12. Jahrhundert begann man den Zwischenraum, der vor unliebsamen Zusammenstössen geschützt hatte, zu erschliessen. Ursache hierfür war die mittelalterliche Klimaerwärmung zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert. Die landwirtschaftliche Produktion stieg an, weshalb man mehr Menschen ernähren konnte. Die wachsende Bevölkerung migrierte in die jungen Städte, die ab Mitte des 12. Jahrhunderts im auch Mittelland zwischen Jura und Alpen wie Pilze aus dem Boden spriessten. Gross waren die mittelalterlichen Städte nicht. Vielleicht 1000 Einwohnerinnen hatte Bern, als es sich als Ort über der Aare verfestigte. Fast alle waren sie Zugewanderte. Gekommen mit den Zähringern, oder angezogen von den Möglichkeiten einer Stadt. Viele von ihnen mit der Absicht zu bleiben.

In unserem Gebiet waren die Herzöge von Zähringen führende Stadtgründer. Genau genommen waren sie Strassenbauer, die etwa alle dreissig Kilometer eine Raststätte bauten. Aus diesen mittelalterliche Städte wie Burgdorf, Bern, Freiburg, Milden (Moudon), Murten und Thun. Die Strasse legten sie an, weil sie zu Gouverneuren Burgunds ernannte wurde. Um von ihrem Hauptsitz bei Freiburg im Breisgau nach Genf, Lyon und Marseille zu gelangen, war die Herrschaft über die Wegstrecke zwischen Rhein und Rhone unerlässlich. Ihr grossartiger Plan missriet jedoch. Denn am Bischof von Lausanne, einem mächtigen Herrn über Seelen und Körper seiner Untertanen kamen die Zähringer nicht vorbei. So blieb ihnen der Weg in den Süden versperrt. Geblieben ist jedoch ein System von mittelalterlichen Städten, die bis heute die westliche Hälfte des Mittellandes prägt. In dessen Mitte war Bern, die wichtigste Stadt, denn sie sicherte den Uebergang über die Aare, dem mächtigsten Fluss im Mittelland.

1218 sterben die Zähringer in der Manneslinie aus. Der Kaiser legt Hand auf die Stadt, die auf seinem Gebiet stand. Auch das zeichnete Bern im westlichen Mittelland aus. Das sollte bleiben!

Stadtwanderer

babel. in bern. oder in der schweiz.

wer kennt sie nicht, die biblische geschichte vom turmbau zu babel, mit dem die menschheit versuchte, gott gleichzukommen? sicher geläufig bleibt einem, dass der versuch scheitert, an der babylonischen sprachverwirrung, welche das grossprojekt mit sich gebracht hatte.

bael
zwei bilingue aus fribourg: kulturminister alain berset und der stadtwanderer

olivier suter, künstler aus bern, der in biel/bienne lebt, hat im auftrag des forum du bilinguisme kulturminister alain berset gebeten, einen text zur mehrsprachigkeit der schweiz zu verfassen. den hat er anschliessend der reihe nach in die 25 meist gesprochenen sprachen in der schweiz übersetzen lassen, nicht von profis, sondern von laien. genauso wie es im alltag geschieht, wenn angehörige verschiedener sprachen aufeinander treffen.
das ergebnis kommentiert alain berset gestern so: uebersetzen sei, fast das gleiche in einer anderen sprache auszudrücken. wobei er “fast” betonte. bestes anschauungsmaterial hierfür bot sein eigener text, der in der 23. sprache, dem schwedischen, zwar über das gleiche berichte, bisweilen jedoch im umgekehrten sinn.
nationalratspräsidentin christa markwalder betonte an der gestrigen vernissage halbernst, die stärke der schweiz sei das missverständnis. sie fragte, ob sie die menschen der verschiedenen sprachregionen verstehen würden, wenn sie sich verstehen würden.
der anwesende botschafter luxemburgs meinte anschliessend zu mir, wenigstens humor hätten schweizer spitzenpolitikerInnen in der durchaus ernsthaften sache.
meinerseits weiss ich, wovon die rede ist. in fribourg geboren, war unsere familiensprache französisch. meine mutter sprach aber auch deutsch mit uns kindern. das schätzte ich spätestens dann, als wir von fribourg wegzogen. denn ohne die kulturell bereichernde voraussetzung wäre ich in der deutschsprachigen schweiz effektiv nicht sonderlich gut angekommen.
frei von missverständnissen ist das leben rund um die sprachgrenze nicht. mein göttibued meinte später einmal, als ich mich mit seinen ältern auf französisch unterhielt, immer wenn es um ihn gehe, würden wir katholisch reden.
göttlich, die verwirrungen, die uns die sprachen erlauben. oder, es ist unwahrscheinlich, dass kommunikation gelingt, meinte der soziologe niklas luhmann ohne jeden gram!

stadtwanderer