Die Murtner Pantschau aus nationaler und aus persönlicher Sicht (10. und letzter Teil meiner Stadtwanderung)

Wie soll man eine Führung durch Murten beenden? Ich denke, der Sprung der traditionsreichen Stadt in die Moderne ist angezeigt. An Ereignissen und Stationen bieten sich an:

 der Eisenbahnbau und der Bahnhof
 der Tourismus und der Hafen
 die Juragewässerkorrektion und Seesenkung.

Ich habe mich für letzteres entschieden. Und so stehen wir, mit wunderbarem Ausblick, vor dem Wasserstandsmelder.

Ohne die Juragewässerkorrektion wäre das Seeland immer noch das, was der Name sagt: ein Seengebiet bei steigendem Wasser, ein Sumpfgebiet bei sinkendem. Denn ohne tiefgreifende Eingriffen in die Natur waren trat die Aare immer wieder über das Flussbett hinaus in die Weite. Überschwemmungen waren die Regel. Hauptgrund war, dass die Aare zwischen Thun und Büren fast kein Gefälle hat. Deshalb wurde sie an vielen Orten schnell vom Fluss zum See. Betroffen waren auch verschiedene Zuflüsse: die Emme ab Burgdorf, die Schüss ab Biel/Bienne und die Broye bis fast ins Quellengebiet hinauf. Letzteres hatte zur Folge, dass auch der Murtensee wiederkehrend anschwoll.
Für die Betroffenen stellten die Überschwemmungen eine dauerhafte Gefahr dar. Eine Naturgewalt zeigte sich beispiellos. Und Seuchen breiteten sich aus. Es ist absolut verständlich, dass man das zu verhindern suchte.
Lange reichte die Technik nicht aus, um die Katastrophen zu bewältigen. Den nötigen Fortschritt brachte erst das 19. Jahrhundert. Doch es brauchte mehr: Es war auch ein Verbund nötig, um die Herausforderungen politisch zu meistern.

Die Geschichte des Juragewässerkorrektion ist eine Geschichte des frühen Schweizer Bundesstaates. Die Kantone, die vormals wie Kleinstaaten auftraten, waren nicht in der Lage, ein solches Grossprojekt zu stemmen. Planung, Finanzen und Durchführung waren eine exemplarisch nationale Aufgabe.
Die Initiative kam aus Nidau, genauer gesagt vom Arzt Rudolf Schneider. Dieser gründete 1833 in Murten eine private Aktiengesellschaft, die das Projekt vorantreiben sollte. 1840 kam der Bündner Ingenieur Richard La Nicca hinzu, Er hatte schon mehrere Grossprojekte in der Ostschweiz geleitet. Bereits nach zwei Jahren stand sein Plan: Die drei Seen – Murten-, Neuenburger- und Bielersee – sollten zusammen ein Ausgleichsbecken bilden, das Überschwemmungen vermeiden konnte. Dazu musste man deren Seespiegel im Schnitt jedoch um 2,5 Meter senken.
Ein Bauwerk von bisher unbekannter Grösse wurde nötig!
Es brauchte vier Kanäle, um die mäandernde Aare zwischen Aarberg und Büren still zulegen. Durch den Hageneck-Kanal sollte sie neu in den Bielersee fliessen und mit dem Nidau-Büren-Kanal wieder in das alte Flussbett zurückgeführt werden. Korrigiert werden sollte auch die Zihl mit einem Kanal zwischen dem Neuenburger- und Bielersee, ebenso die Broye zwischen dem Murten- und Bielersee.

1868, 20 Jahre nach der Gründung des Bundesstaates, legte man los. Nach 23 Jahren war die erste Phase vorbei. Die zweite begann 1935 und ging weitere 38 Jahre. Dabei erreichte man den heutigen Stand. 2018 leitete man eine dritte Phase ein, die nochmals 30 Jahre dauern und das Grosse Moos betreffen soll.
Der Murtensee wurde zwischen 1876 und 1880 gesenkt. Der Seespiegel verringerte sich von 433 auf 430 Metern. So entstand ein trockengelegter Streifen von 40 bis 60 Meter Breite, der den See von Murten wegrückte. Nötig wurde dadurch ein neuer Hafen, den man nach einigem hin und her 1895 eröffnen konnte.

2015 ergab eine Umfrage von economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Unternehmen, bei 13000 Menschen in der ganzen Schweiz, Murten sei die Stadt mit der höchsten zugeschriebenen Lebensqualität. Die Ordentlichkeit der Kleinstadt trägt dazu bei, aber auch die Schönheit der Landschaft war ausschlaggebend. Ohne Melioration des Sumpfgebietes wäre es nie so weit gekommen.
Wie wichtig die Bändigung des Seelandes ist, wissen wir aus Erfahrung. In guten Zeiten ist das Seeland unser nationaler Gemüsegarten. In schlechten können sich die Überschwemmungen der Aare bis tief in den Aargau hinunter auswirken. Das haben uns die grossen Unwetter im 21. Jahrhundert mehrfach gezeigt.
Heute nutzt man das neu entstandene Hafengebiet vor allem touristisch. Ein Teil der Expo.02 fand hier statt.

Nun ist die Pantschau, wie man das Flachgebiet zwischen dem Murtner Ryf und dem See nennt, nicht nur ein Ort von nationaler Bedeutung. Auch in meiner Biografie spielt sie eine Rolle.
Ich habe da 1977 meine ersten Drillübungen in der Rekrutenschule erlebt. Ich habe versprochen, auf meiner Führung ausser der Story rund um meine Fliege darüber nichts Genaues zu erzählen. Eine Ausnahme mache ich noch.
In den ersten RS-Tagen lernten wir auf der Pantschau das militärische Antreten:
«In Formation Sammlung!»
Das bedeutet, man solle in Reih und Glied antreten.
Der gesellschaftlich interessierte Rekrut, der ich damals schon war, verstand allerdings:
«Information Sammlung!».
Ich nahm das als Befehl, die Gäste am See zu befragen, was sie von der Armee hielten. Es war quasi meine erste Umfrage!
Mir gefiel das, meinen Vorgesetzten deutlich weniger.
Damals litt ich; heute lache ich!
Fertig.