tempi passati

auch wenn ich es bisweilen müde bin, das thema auf berns strassen ist gesetzt. am morgen, beim kauf der weltwoche (nur ausgabe dieser woche), spricht mich meine kioskverkäuferin unvermittelt an. den ganzen vormittag geht es so weiter, bis ich über mittag, von einem ehemaligen justizdirektor eines gewichtigen kantons konsultiert werde. einmal mehr interessiert (nur) blocher. und es geht um seine immunität. die souveränität, mit der angriffe zu parieren scheint, und die animosität, die er dabei manchenorts streut.


bild: az medien

“überlebt die svp diese krise?” das ist die mir am häufigsten gestellte frage. und ich habe in der regel die immergleiche antwort parat: “jein”.

zuerst mein “ja”: aus meiner sicht hat sich die svp in den letzten 20 jahren zu der nationalkonservativen partei der schweiz gemausert. wer sich traditionellen werten des landes verbunden fühlt, wer die schweiz als antithese zur eu liebt, der oder die hat nach dem ewr-nein bei der svp eine neue (oder alte) heimat gefunden (oder bewahrt). wie kaum eine andere partei hat die neue svp die konfliktlinie, die sich in den 90er jahren des 20. jahrhunderts auftat, früh analysiert, verstanden, geschürt und für sich zu nutzen gewusst. alles begann mit dem drohenden eu-beitritt, ging dann mit der tabuisierten asylfrage weiter, bis man schliesslich bei der polarität von offener oder geschlossener schweiz ankam. mitgeteilt wurden auf diese weise aber nicht nur themen und positionen, welche viele bürgerInnen auch überfordern. erfolgreich kommuniziert wurden vielmehr die werte der freien, unabhängigen, neutralen schweiz, die sich nicht schämt, gegenüber dem ausland stets den fünfer und das weggli zu verlangen. das alles wirkte gemeinschaftsbildend, das was bürgerlichen wählerInnen früher bei der cvp und der fdp fanden, was sie heute angesichts machtverwaltern im staat und freiheitspredigern aus der teppichetage gerade bei diesen parteien so vermissen. meine prognose hierzu ist: das ändert sich so schnell nicht und deshalb kann die svp auch in zukunft auf ein breites wählerInnen-segment zählen.

und hier mein “nein”: ob die wählerschaft gleich gross bleibt wie 2007, kann man zwischenzeitlich mit fug bezweifeln. denn, so meine analyse, die besonderheit der schweizerischen volkspartei war es, dass sie gleichzeitig nationalkonservativ war und rechtspopulistisch agierte. ersteres ist in der schweiz problemlos als teil der regierung möglich; zweiteres eckt immer wieder und immer mehr an. denn die lautstarke diskreditierung der classe politique war zu beginn vielleicht noch angezeigt. heute scheint alles und jedes enttabuisiert, und was, wie die parteienfinanzierung, noch bleibt, trifft auch die svp. so ist die institutionenkritik zum selbstläufer geworden, die immer nach dem gleichen schema abläuft. lageanalyse, anklage, beschuldigung, beseitigung. auch das polarisierende freund/feind-denken ist an seine grenzen gestossen. nicht jeder linke ist ein kommunist, nicht jeder freisinnig ein weichei und nicht jeder, der für eine wirtschaftlich und politisch offene schweiz plädiert, kann man zum lakaiden der eu abstempeln. umgekehrt: ganz so harmlos ist auch die svp nicht, wenn es um wahlkampffinanzierung geht, wenn sie unliebsame konkurrenten ins visier nimmt, und wenn ihre exponenten ihre macht im mediensystem klammheimlich ausbaut.

und so mein “jein”: seit die synthese der beiden politischen strömungen nciht mehr klappt, ist die kritik an der partei heftig geworden, nicht ohne ihr zu schaden. denn ohne die rechtspopulistische technik wird der sonderfall svp zum europäischen normalfall einer nationalkonervativen rechtspartei. die mobilisierung, ihre stärke bis 2007 und etwas darüber hinaus, will offensichtlich nicht mehr gelingen. ihr themensetting ist heute schwächer denn je, seit gleich mehrere medien verzichten, den populismus der partei als populismus der medien zu multiplizieren. zwar ist es noch nicht soweit wie in genf oder im tessin, wo sich die rechtspopulisten fast dauerhaft ausserhalb der svp organisiren konnten. doch die verbindung zwischen einfachem schwer konservativem mit staatsneigung und rechspopulistischem oppositionellen der sich über alle und jedes empört, zerbröckelt landesweit zusehens – auch ohne ein auffangbecken zu haben. steigende wahlbeteiligung und wahlniederlage für die svp im kanton st.gallen sind ein klares zeichen dafür!

so bleibt die frage, wie hat es die svp mit ihrem übervater christoph blocher? stürzen wird sie ihn nicht, dafür verdanken zu viele gewählte und funktionäre ihre karriere dem grossen manitu. unverändert behalten wird man ihn nicht können. dem zum elder statesman taugt blocher nicht; zum frontkämpfer schon, wenn auch ohne rücksicht auf verluste. so bleibt die prognose: es bleibt die nationalkonservative svp, es vergeht die rechspopulistische.

denn den garant für beides, christoph blocher, wird die svp stück für stück ins zweite glied zurücknehmen müssen. selbst wenn sie ziemlich genau weiss, dass die synthese, von der ich heute auf der strasse und auch hier im blog sprach, ohne ihn nicht mehr möglich sein wird, bleibt ihr kaum mehr eine wahl. denn was sie ohne den übervater anstreben muss, muss sie zwischenzeitlich erst recht mit ihm. eine neue partei zu sein.

für einmal stärkt die vergangenheit die svp der zukunft nicht mehr. tempi passati!

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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