der erste, der es wusste, aber der letzte, der es merkte

6. dezember 1992: volksabstimmung zum bundesbeschluss über den europäischen wirtschaftsraum, wie man die ewr-entscheidung offiziell nannte. ein wenig erinnerungsarbeit.

nach tagen der spannung mit einem ausserordentlichen abstimmungskampf war es soweit: die schweiz stimmte über ihren beitritt zum ewr ab. im aussenland wunderte man sich ein wenig, denn solche entscheidungen fällt in der regel die regierung, um sich in der folge die zustimmung im parlament zu holen. ganz anders hierzulande: das volk und die kantone legten nach ausführlicher information durch die behörden und kontroversen, ausgetragen durch die verschiedenen verbände und parteien, verbindlich fest, ob der ewr-vertrag in der schweiz gültigkeit haben würde oder nicht.


rene felber, 1992 bundespräsident, gibt seine stimme zum ewr-beitritt der schweiz ab.

gemeinsam mit dem gfs-forschungsinstitut (wie unser institut damals noch hiess) führte ich bei der entscheidung über den ewr erstmals die srg-hochrechnung durch. die grundlage dafür war damals noch bescheiden: die computer brachten wir selber mit. das programm hatte mein kollege peter spichiger in freiwilligenarbeit entwickelt. die idee, wie man das machen könnte, hatte ich einige jahre zuvor an der uni entwickelt gehabt.

radio und fernsehen berichteten darüber – mit vorsicht: denn das fernsehen hatte viel früher schon eine tv-serie (die „die sechs kummerbuben“) eingekauft gehabt, die sie regelmässig am sonntagsnachmittag ausstrahlte. so war es auch am 6. dezember 1992. deshalb hiess die vorgabe an unser team „eile mit weile“. vor 14 uhr 30 durften wir nichts aussagekräftiges haben – um jegliche programmkolission zu vermeiden.

die large anforderung war an diesem tag unser glück, denn gerechnet wurde im technikraum des tv-studios. die platzverhältnisse waren sehr eng, und es kamen dauernd leute rein und gingen ebenso schnell wieder raus. da passierte es: ein fernsehmitarbeiter stolperte über das stromkabel – und weg war die ganze enerige. betroffen war auch unser compi und mit ihm das hochrechnungsprogramm. eine sicherheitskopie hatten wir nicht dabei; es blieb nur, dass mein kollege eilends ins seefeld radelte, um das original auf seinem arbeitsgerät zuhause kopieren zu gehen, damit wir die panne nach dem absturz beheben konnten.

dank den „kummerbuben“ haben die zuschauerInnen davon nichts mitbekommen. nichts erfuhren sie auch von einer ominösen umfrage, im allerletzten moment gemacht und den tv-gewaltigen zugestellt, wonach es ein positiver volksmehr geben würde. gesehen haben wir vom hochrechnungsteam das dokument nie, erfahren haben wir es dennoch. zu gut hätte das vermutete ergebnis zu den verbreiteten erwartung gepasst, wonach der ewr-beitritt am ständemehr scheitere, das volk aber mehrheitlich dafür sein werde. doch wollten das alles partout nicht zum hochrechnungsergebnis passen, das sich an diesem frühen nachmittag abgezeichnete. denn demnach würde es einen nein von volk und ständen bedeute.

als die ersten effektiven kantonsergebnisse eintrafen, war es rasch klar: der beitritt der schweiz zum ewr war gescheitert! das vorläufige endergebnis der bundeskanzlei zeigte 16 kantone im nein, 7 im ja; eine klare sache also. beim volksmehr war es effektiv knapp: 50,3 prozent dagegen und 49,7 prozent dafür. ausgesprochen hoch war die stimmbeteiligung, die mit 78.7 prozent einen rekordwert für die nachkriegszeit erreichte.

gut in erinnerung ist mir, wie gegen abend christoph blocher das tv-studio betrat, um eine erste erklärung als abstimmungssieger abzugeben. geblieben ist mir der moment, weil sein kommentar präzise die stilbildende regel vorweg nahm, die nach 1992 von der „neuen“ svp so oft praktiziert werden sollte: fixiere den schuldigen, nicht das problem! jede verantwortung, das nein verursacht zu haben, wies der zürcher nationalrat weit von sich; vielmehr machte er sofort den bundesrat für die abstimmungsniederlage verantwortlich, da er schlecht verhandelt habe und dem volk einen kolonialvertrag verkaufen wollte, sodass es nötig gewesen sei, konsequent nein zu sagen. denn bei einem ja, wäre die schweiz im nu in der eu gewesen.


medienkonferenz des bundesrates nach dem abgelehnten ewr-beitritt der schweiz, 6. dezember 1992

der bundesrat reagierte an diesem abend betreten. dem vernehmen nach waren flavio cotti von der tessiner cvp, rene felber von der neuenburger sp, jean-pascal delamuraz von der waadtländer fdp und auch adolph ogi von der berner svp in der landesregierung für einen eu-beitritt eingetreten. der appenzeller arnold koller (von der cvp), der luzerner kaspar villiger (von der fdp) seien für den ewr, aber gegen einen folgeschritt mit dem eu-beitritt gewesen, munkelte man. wo der solothurner otto stich (von der sp) stand, wusste man auch halböffentlich nicht so genau; für den eu beitritt war er aber mit sicherheit nicht gewesen.

am abend spät verlies ich das tv-studio, um in zürich in einem hotel zu übernachten – denn für den montag waren erste analysen angesagt. als ich im lift in meine zimmeretage fuhr, sagte ich zu mir: „das ist ja nein!“ den ganzen tag hatte ich als analytiker funktioniert, war als einer der ersten im bilde, was kommen sollte. doch sollte ich es als einer der letzten merken, was geschehen war. erst als ich meine rolle niedergelegt hatte, begann ich zu begreifen, dass die schweiz am 6. dezember 1992 nicht beigetreten war.

stadtwanderer

frühere artikel zum ewr-entscheid und seinen folgen:

auf dem stadtwanderer:
20 jahre nach dem nein zum ewr – was ist daraus geworden?
die vox-analyse des landwanderers
stell dir vor, es ist europatag, und einer denkt dran
lachen, selbst lächeln tut der schweizer europapolitik gut
die schweiz, der diskurs und der zusammenhalt
nom de dieu!
mauluege …
auf der such nach sternstunden der schweizer geschichte
finale! – finale? – finale!
das unvollendete werk des konservativen revolutionärs
was ist das für eine zeit, in der wir leben?
meinen autonomen nachvollzug nachvollziehen

auf Zoon Politicion:
Mit Aktionismus ins Abseits
20 Jahre Institutsleiter am gfs.bern
20 Jahre Hochrechnungen zu Volksabstimmungen
Sackgasse Bilaterale?
Die Geburt der Opposition am 6. Dezember 1992
Immer wieder dieser Röschtigraben!
Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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