die minuskeln des stadtwanderers

kürzlich hat mich luigi delfini wegen meiner kleinschreibung getadelt. ich hätte schon lange reagieren sollen, doch wusste ich nicht wie. jetzt habe ich den dreh gefunden: ein prominenter tritt in meinen zeugenstand: ihm verdankt das weströmische kaisertum seine wiedergeburt, er war der gelehrteste mensch seiner zeit, und er erfand die kleinbuchstaben!

die verpassten chancen der kleinschreibung

“Im Wesentlichen” – “im wesentlichen”?
nein, ganz einfach: “wesentlich” …
“aaach, jetzt habe ich das Wesentliche, das ich sagen wollte, schon mal vergessen!”

leider wurde die jüngste rechtschreibereform nicht bis

zu Ende?
zu ende oder gar
zuende

durchbuchstabiert! sonst würden jetzt alle,

im Deutschen!,
im deutschen?,

wie

im Englischen,
im englischen?

und

im Französischen?,
im französischen?

ziemlich konsequent nur kleinbuchstaben verwenden.

ich frage deshalb: welch grosse schwierigkeiten hätte man damit umgehen können? wieviele gestresste schulkinder wären schon mal erleichtert gewesen? und wie mancher deutschlehrer hätte sich endlich mit ganzem elan der verbesserung des sprachgefühles seiner schülerinnen zuwenden können?

wer alles hätte profitiert, hätte man die durchgezogene kleinschreibung systematisch eingeführt?

– die schulzeit wäre glatt um ein jahr verkürzt worden.
– hurrah!, hätte die FDP an ihrer jüngsten delegiertenversammlung ausrufen können.
– endlich ein staatlich verordneter leerlauf weniger, hätte die erstaunte SVP nur noch hinten nach kommentieren können.
– die wirtschaftsanalysten wiederum hätten mit sicherheit diese steilvorlage aufgenommen und weiter optimismus verbreitet: „je schneller, desto kräftiger!“
– auch die verleger hätten nach kurzem überlegen mitgezogen: „in tagebüchern wird sie schon lange praktiziert, im persönlichen brief nimmt sie seit längerem zu, und mit dem e-mail hat die kleinschreibung zum finalen siegeszug angesetzt“, hätte ihre spezialkommission bilanziert. wann kippen die websites, wann die elektronischen zeitschriften – und wann die tageszeitungen?, hätte der vorstand der verlegervereinigung nachgefragt. in der tat: bei schnellem handeln wären sie so zu retten gewesen, und das wäre für verleger zum entscheidenden argument geworden.

doch nichts davon im schweizerlande!

– wir sind blockiert!
– es fehlt an mut!
– allenthalben die zersetzenden nörgler!

die verleger verpassen die wende zu ihrer kulturhistorisch grössten tat seit gutembergs zeiten!
die analysten versagen wie immer, weil sie ja nur das extrapolieren, was andere schon interpolitiert haben.
und die fdp, die muss in murten über uniformen nachdenken, um massenmedial gehört zu werden, wenn auch nur mit der botschaft: strohfeuer!

vom formen der gedanken beim schreiben

ich bin weder avantgardistisch, noch revolutionär! ein wenig eigenbrötlerisch, – das bin ich aber schon …

meine artikel für die kundschaft und die fachwelt und die kundschaft schreibe ich anstandslos konventionell. meine eigenen Notizen, meinen blog hingegen verfasse ich unkonventionell.

ich gebe zu: ein bisschen schizo ist das! und es gibt leute in meinem umfeld, die das beklagen. sie hätten es lieber, ich würde alles wie die andern schreiben, genauso, wie die korrekturprogramme es auch wollen.

also muss ich mich immer wieder erklären: an allem schuld sind die mail! und ich frage gleich nach: sind sie eine autopoetische oder eine kommunikative form des schreibens? sind sie mehr als verfasste ideen, vorläufige gedanken oder erste entwürfe? – „delete!“, und schon sind sie weg, unwiderruflich zerstört: schreiben für den müllhaufen, könnte man das nennen.

seit ich das gemerkt habe, schreibe ich mir häufig selber mails. ich verfasse zwar solche an andere, mache mir aber ein bcc. so bleibe ich dokumentiert, quasi in meinem bild. und so kann ich auch mitverfolgen, wie meine gedanken wachsen, wie aus internen versuchen schon mal externe mitteilungen werden: schritt für schritt wird dokumentiert, wie gedanken geformt werden.

mein blog entstand genau so:

zuerst nur für mich, denn es interessierte sich gar niemand für das stadtwandern;
sodann für ausgewählte, denen ich schon mal einblick in meine vorläufigen texte gewährte;
schliesslich für die wachsende stadtwanderergemeinde,
– und die trittbrettfahren, die nur neugierig und kopfschüttelnd reagieren.

zitat: “Schade, dass diese Blog nur in Kleinbuchstaben abgefasst wird! ld blogs.delfini.ch/”

ich weiss, einmal in dieser kette der gedankenentwicklung hätte ich umstellen müssen. da das ganze jedoch nicht geordnet, sondern fliessend geschah, hat es sich seinen eigenen weg gesucht, und ich habe den richtigen moment nicht gefunden. und so sind meine blogs in kleinschrift verfasst!

sorry, sage ich all jene, denen das nicht passt!
schade, den wenigen, die es stört!
aber es ist nun mal so: ich werde mich nicht ändern, und ich habe eine wichtigen zeugen für meine konsequenz!

der prominente begründer der kleinbuchstaben


wer nach meiner einleitung meinte, ich würde auf karl den grossen anspielen, hat sich mächtig getäuscht. er war zwar der erste kaiser des neu begründeten, römisch-fränkischen kaiserreiches. doch war er nicht dessen erfinder! Also falsch …


der römische papst leio III. krönt im jahre 800 den fränkischen könig karl zum neuen römischen kaiser

wer nun auf papst leo III. tippt, der könig karl zum kaiser krönte, hat ebenso wenig recht! der war zwar der grosse nutzniesser des wiedergeborenen kaiserreiches. denn nur er konnte bestimmen, wer römischer kaiser und damit beschützer der christenheit werden dürfe. doch auch er war es auch nicht! warum nur hätte ein römer eine neue schrift gebraucht!


der gelehrte alkuin inspirierte die karolingische renaissance

meine einleitung zielte einzig auf alkuin, den angelsächsischen gelehrten, der 782 nach aachen kam, um in der lieblingspfalz des fränkischen königs die karolingische renaissance zu inspirieren. 14 jahre arbeitete alkuin daselbst. systematisch baut er die hofschule auf, widmet sich der pflege der wissenschaft, und vermittelt er den staunenden franken die werke der antike. mit dem könig arbeitete alkuin an einer umfassenden bildungsreform. sie sollte die klöster auffordern, schulen für das ungebildete volk einzurichten. um das christentum zu verbreiten, vereinte der gelehrte alte und neue testament gekürzt in einem band: „alkuin-bibel“, nannte man das damals, „best of …“ würde man es heute nennen.


die bibel von moutier-grandval aus dem 9. jahrhundert steht ganz in der tradition der alkuin-bibel

dabei kam er zu einem schluss: die römische schrift eignet sich nicht für die fränkische sprache. die grossbuchstaben erschweren das lesen der schlecht gegliederten texte. so entwickelte er am ende des 8. jahrhunderts die „karolingische minuskeln“, – die eigentliche ausgangsform aller späteren kleinbuchstaben der deutsche schrift und sprache.

die bleibende kulturelle leistung alkuins


das ist, bei aller vergesslichkeit der individuellen gedächtnisse, die bleibende kulturelle leistung alkuins.

zum schutzherrn der mailschreiben sollte ihn lotus notes erheben!
zum patron des stadtwanderers werden wir ihn bei der kommenden halbrunden geburtstagsfeier des “stadtwanderers” küren!

zwar hatte auch alkuins kaiserprojekt erfolg. der pilger karl wurde an weihnachten des jahres 800 in rom zum römischen kaiser gekrönt. der patriarch von jerusalem frohlockte und schickte karl reliquien vom heiligen grab sowie die schlüssel der stadt. der kalif harun al-raschid, der damals über die heiligen stätten der christenheit in jerusalem herrschte, übergab dem neuen kaiser die verfügungsmacht über das grab christi und schenkte karl sogar einen weissen elefanten. 812 wurde karl selbst vom oströmischen kaiser als imperator anerkannt, und er durfte den bisher höchsten weltlichen würdenträger in der christlichen welt „bruder“ nennen. wahrlich, alkuins idee, im westen ein imperium christianum zu schaffen, hatte seine zeit beeinflusst!


bleibende kulturtat alkuins: die minuskeln in der kaolingischen schrift, den vorläufern unserer kleinbuchstaben

doch den kaiser gibt es nicht mehr! sein reich ist zerfallen, und der kirchenstaat des papstes, den der kaiser zu beschützen hatte, ist auf eine kleine insel in rom, den vatikanstaat, zusammengeschrumpft. deshalb sollte man alkuin wegen seinen minuskeln nicht vergessen. dauerhafter haben sie unsere kultur geprägt als kaiser und päpste, als reich und reiche das je konnten

wie die schrift von method und kyrill, das kyrillische, die sich in der oströmischen und slawischen Welt durchsetzte und bis heute der wichtigste kulturspeicher im osten europas ist, so sind die karolingischen minuskeln im westen europas grundlage für die schrift geworden. politische herrschaften, religiöse strömungen, philosophische grundsätze hatten alle ihre zeit, – die kleinbuchstaben von alkuin haben sie ermöglicht, begleitet, gestaltet, – und in nur leicht modifizierter form überlebt!

es ist also jedes mal auch eine kleine lobrede auf den gelehrten aus york, wenn ich seine buchstaben so überaus zahlreich verwende. fast vergessen ist er heute; nicht mehr zeitgemäss ist er den meisten. er ist halt wie ich keiner gewesen, der mit der masse ging. auch er war letztlich ein eigenbrötler, einen autopoetischen kommunikator würde man ihn heute nennen.

wider die herrschaft, wider den mainstream

als nämlich karl in sachsen seinen langwierigsten, grausamsten und anstrengendsten krieg führte, um das nachbarvolk der franken mit dem schwert zum christentum zu zwingen, stellte sich der gelehrte quer. diese art der mission war für alkuin

„bekehrungsterror“!

er verwies seinen weltlichen gebieter auf den kirchenvater augustinus, der von der freiwilligkeit des glaubens sprach. als karl nicht hören wollte, entfremdete sich alkuin von ihm, kehrte sich mit folgender begründung vom könig ab und ging ins kloster:

„man kann den menschen zum glauben erziehen, aber nicht zwingen. er kann gezwungen werden zur taufe, aber das ist kein fortschritt im glauben … wer fälschlich den glauben bekennt, der wird in wahrheit das heil nicht haben. daher müssen die prediger der heidenvölker mit friedlichen und klugen worten den glauben lehren. sollen doch die lehrer des glaubens von den beispielen der apostel lernen; sie sollen prediger sein, nicht plünderer!“


stationen eines reichen lebens: alkuins weg von york nach aachen und tours

harte worte aus prominentem mund, an einen nicht minder promenten absender gerichtet! mir bleibt da nur, sie ins 21 jahrhundert zu übersetzen:

man kann einen blogger zu grossbuchstaben erziehen, aber nicht zwingen. wird er dazu gezwungen, ist es kein fortschritt im denken. wer sich nur äusserlich dazu bekennt, der wird in wahrheit durch das schreiben nicht beflügelt. daher müssen die deutschlehrerInnen der ungebildeten völker mit friedlichen und klugen worte ihre ansichten verbreiten. vorbilder sollen sie sein, nicht polizisten!

NICHT GROSS REDEN! klein schreiben, sollten sie …

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „die minuskeln des stadtwanderers“

  1. Kleinschrift ist absolut i.O. Aber es ist auch eine Form von implizitem Statement: man mag es praktisch, mag es eher unkonventionell, ist eher progressiv denkend und gerne bereit, Bestehendes zu hinterfragen.

    Vielleicht wäre der "Bund für vereinfachte rechtschreibung", mit dem ich immer etwas sympathisiert habe, etwas für den Stadtwanderer: http://www.sprache.org/

    Der Eintrag unter http://de.wikipedia.org/wiki/Kleinschreibung bringt (nach der netten Stadtwanderer-Einführung über Kleinschrift-Pioniere weit vergangener Zeiten) noch einiges – sogar Bern-Relevantes – aus dem 20. Jahrhundert zum Vorschein:

    -Im Jahr 1934 verwendete die Stadtverwaltung von Biel, Kanton Bern, für ein halbes Jahr die Kleinschreibung.
    -Kunstbewegungen wie Bauhaus und Dada hatten auch einen Hang zur Kleinschreibung.
    -Auch die deutsche linke Tageszeitung "taz" schreibt seit 1982 ihren Titel klein. Und die "Rote Armee Fraktion" schrieb Schriftstücke durchwegs klein.

    Ich habe zudem immer wieder festgestellt, dass politisch links-aktivistische Gruppierungen im Allgemeinen gerne Kleinschreibung benützen. Ich habe es meist als Erkennungszeichen untereinander interpretiert, das Betonung auf das Unkonventionelle legt und sich gegen vorherrschende Regeln und Normen wendet.

    Eine Studie von 1999 des Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung fand:
    "Die deutsche Gross- und Kleinschreibung erleichtere den Leseprozess und minimiere Fehler."
    Während der Schreibprozess viel leichter sein mag, würde man sich keine Gedanken machen müssen über Gross- und Kleinschreibung, scheint es, als ob das leichtere Erkennen von Wortarten (z.B. grossgeschriebene Substantive), das Lesen vereinfacht.

  2. paaahhhhh! da bin gleich mal platt geschrieben worden. wiederum in rekordzeit eine meldung aus der hautpstadt. die historischen belege des kleinschreibens aus bern kannte ich gar nicht, genauso wenig wie die erkennungszeichen politisch-links-aktivistischer gruppierungen. dachte immer, die würden laut demonstrieren, viel reden, aber gar nicht schreiben … bin jetzt also gewarnt, grosses merci nach berlin

    stadtwanderer

  3. Lieber Herr Longchamp

    ich bin begeisterter Blogleser und bin seit kurzem auch auf Ihrer Seite
    anzutreffen.
    Da hätte ich eine Bemerkung bzw. eine Bitte:
    Es würde der Lesbarkeit sehr dienen, wenn Sie sich entschliessen
    könnten, die Grossschreibung zu benützen, wie es in den meisten Medien
    üblich ist.
    Begründung: das Lesen von Text auf dem Bildschirm (ich habe einen neuen
    Flachbildschirm bester Qualität) ist wesentlich anstrengender als in
    gedruckter Form. Kleinschreibung erschwert auch das Verstehen. Wir sind
    nun mal mit der Grossschreibung aufgewachsen und ich sehe eigentlich
    keinen plausiblen Grund, davon abzuweichen. Ausser der Bequemlichkeit
    des Schreibenden.
    Ich möchte richtig verstanden werden: Ich bin kein Sprachpuritaner,
    obwohl ich gutes Deutsch sehr schätze, es geht mir nur um das bessere
    Erfassen des Textes, was ja auch im Interesse des Verfassers ist.

    Mit freundlichen Grüssen
    H. Haug

  4. Guten Tag Herr Haug
    ich kenne Ihr Anliegen. Es wird nicht häufig, aber regelmässig an mich herangetragen.
    Ich habe mich, als ich mit dem Blog begann, für Kleinschrit entschieden. Ich schreibe nämlich alle mails (aus diesem) in Minusklen. Und der Blog ist eigentlich aus meinen mail-Antworten aus Anfragen entstanden.
    Wenn ich französisch oder englisch schreibe, stört man sich daran ja auch nicht. Deshalb fand ich das nicht so schlimm.
    Texte, die ich veröffentliche, lasse ich umschreiben. Mir ist klar, dass Publikationen auf Deutsch etwas anderes sind. Beim Bloggen bin ich aber unsicher, es sind ja so etwas wie vorläufige Publikation. Entwürfe, essays, die man leicht ergänzen, aber nur schwer ganz ändern kann!
    Mit freundlichem Gruss
    Claude Longchamp

  5. Sehr interessanter Eintrag! Allerdings bin ich beim Lesen über folgenden Satz gestolpert:

    auch die verleger hätten nach kurzem überlegen mitgezogen

    Ein tolles Beispiel für die Zweideutigkeit der Minuskeln. Hätten sie \"nach Kurzem überlegen mitgezogen\", oder \"nach kurzem Überlegen\"? Zugegeben, das kommt so selten vor, daß man es als Argument getrost vernachlässigen kann.

  6. Anfangs war ich auch leicht irritiert, ob stadtwanderers Hyroglyphen. Aber ich hab mich schneller daran gewöhnt, als mir lieb war, muss ich gestehen. Und deine These ist eine bedenkenswerte. Spannend auch, Sarahs Bemerkungen.
    Ich kann mir vorstellen, dass unsere heutigen Jungs und Mädels, die in windesschnelle (Windesschnelle?) ihre Botschaften via Händy verbreiten, tutti frutti kleingeschrieben, das Ihrige (ihrige) zu einem Wandel zur kleinschreiberei beitragen werden. – Zu bedenken ist auch, dass jede Kultur komplexer Schreibregeln auch eine Art Ausschlussverfahren beinhaltet. Wie viele Menschen schreiben nicht, weil sie Angst haben, Fehler zu machen. Im Englischen wird zwar das Meiste kleingeschrieben, dafür gibt es Wörter, die kaum zu buchstabieren sind: although!!! oldau – obwohl…. Hmmm? – Oder die arabische oder persische Schrift? Wo einfach alle Vokale mit Pünktchen markiert sind. In der gedruckten Schrift allerdings werden, so viel ich weiss, alle Pünktchen weggelassen. Dann steht z.B. wrm. Heisst das jetzt warm oder wurm.

    What ever, die Diskussion ist spannend, und wird noch viele Diskussionen nach sich ziehen. DIE Schrift wird überleben, die gelesen wird. Und gelesen wird, was Menschen bewegt – also schreib einfach weiter….

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert