“erfahrungen in der versuchsphase zum roadpricing …

die stadt stockholm hat am wochenende das roadprincing in einer volksabstimmung angenommen. 51,7 prozent haben sich für, 45,6 prozent gegen die einführung einer fahrzeuggebühr in der innenstadt entschieden. für den stadtwanderer gleich mehrfach eine interessante veränderung:

. erstens wird der stadtverkehr eingeschränkt.
. zweitens folgen immer mehr städte dem beispiel londons.
. drittens direktdemokratische instrumente breiten sich auf der städtischen ebene aus.
. und viertens: schweden, das der stadtwanderer so liebt, scheint in der ära des schwindenden sozialstaates in einer neuen frage eine viel beachtete vorreiterrolle zu übernehmen.

doch gerade beim letzten punkt muss genau hinsehen, um zu verstehen, was sich ändert. deshalb hat der stadtwanderer die gelegenheit genutzt, bruno kaufmann, den schweizer politikwissenschafter, korrespondenten und förderer der direkten demokratie weltweit, zu interviewen. hier seine erhellenden und teilweise auch korrigierenden ausführungen über die bisherigen tagesmeldungen in der schweiz hinaus. hier seine thesen:

. der vorgängige versuch war entscheidend, dass man mit dem thema erfahrungen sammeln konnte.
. die taxifahrer, die berufspendler waren genauso wie die zentrumsbewohnerInnen, die jungen menschen und die rot-grünen sympathisantInnen dafür.
. die zustimmung resultierte aber nur, weil die aussengemeinden offiziell nicht an der abstimmung teilnahmen.
. die kurzfristig nachgeschobenen plebiszite in den bürgerlich dominierten vororten zeigten eine deutliche ablehnung.
. unabhängig davon will die neuen konservative bürgermeisterin von stockholm das roadpricing in ihrer stadt einführen.


stockholm gestern: verkehr dominiert über alles (foto: flickr_maltR)

stadtwanderer: bist du vom abstimmungsresultat überrascht?

bruno kaufmann: “nein.”

bist du über das ergebnis erfreut?

“ja.”

was haben die befürworter besser gemacht, dass sie obsiegt haben?

“entscheidend war das learning by doing, so hat man in seinem alltag erfahrungen gesammelt. die kampagnen waren dann gar nicht mehr so wichtig.”

hat man die stimme der pendler mitberücksichtigt?

“nur zum teil! es fanden befragungen vor allem in jenen agglomerationsgemeinden statt, wo klare nein-merheiten erwartet wurden.”

wie soll man das verstehen?

“das ist meines erachtens einer der knackpunkte der entscheidung. das ursprüngliche begehren der autoverbände verlangte eine volksasbtimmung in der ganzen provinz. offiziell machte aber nur die stadt mit, während die bürgerlichen beherrschten agglogemeinden in der schlussphase inoffizielle plebisizte durchführen liessen. die stadt hat zugestimmt, die vororte hätten aber abgelehnt.”

was ändert sich nun in stockholm?

“effektiv ist das noch offen. das zentrale problem ist, dass die lokale volksabstimmung juristisch nur konsultativen charakter hat, dass in den agglomerationsgemeinden zum teil manipulative befragungen durchgeführt worden sind und dass die neuen mehrheiten im stadtparlament in der sachfrage eher negativ eingestellt sind. schliesslich muss auch das nationale parlament einer einer permanenten strassensteuer mit einer in stockholm mit einer gesetzesänder zustimmen.”

immerhin, die neue konservative stadtregierung hat angekündigt, sich beim nationalen parlament für das roadpricing einzusetzen. was ist also konkret zu erwarten?

“der oev wurde ausgebaut und das städtische verkehrsaufkommen ging zurück. die einzelnen autofahrer zahlen selbstverständlich mehr, und es gab auch zusätzlich bussen.”

weiss man schon, wer dafür und wer dagegen gestimmt hat?

“dafür war die bevölkerung ganz im zentrum stockholms, und auch jüngere menschen haben dafür gestimmt; ältere personnen und die aussenquartiere waren eher dagegen.”

wie haben die parteilager votiert?

“rot-grün mehrheitlich dafür, und das zentrum auch. bei den liberalen und christlichdemokraten waren minderheiten auf der ja-seite, während die konservativen dagegen waren.”

wie haben die verschiedenen verkehrsteilnehmer gestimmt?

“sie stimmten, wie zu erwarten war: die benutzerInnen des öffentlichen verkehrs waren dafür, die berufsfahrer mehrheitlich auch, während die pendler und gelegenheitsautofahrer mehrheitlich dagegen stimmten.”

wie haben die verschiedenen berufsgruppen reagiert?

“die taxifahren stellten sich auf die ja-seite, während gewerbetreibende im nein-lager waren.”

wie war der mitteleinsatz?

“interessanterweise haben sowohl die umwelt- wie auch die automobilverbände von den politischen parteien geld für ihre kampagnen bekommen und diese paritätisch auf beide seiten aufgeteilt.”


stockholm heute: pv-verkehr soll erschwert, oev soll ausgebaut werden (foto: flickr_maltR)

was war das für ein entscheid: gegen das verkehrschaos in den
städten, für mehr lebensqualität der urbanen bevölkerung oder für höhere steuern gegenüber den automobilisiten?

“es war eine mischung aus der ersten und zweiten annahme. mit steuererhöhungen hat man nicht dafür, nur dagegen argumentiert.”

ist der moderne schwedische mythos “alle macht dem volvofahrer?” am
wochenende zu ende gegangen?

“in den städtischen gebieten sicher, ausserhalb jedoch nicht. vor allem nicht in arboga …”

ist mit auswirkungen in weiteren grossstädten des nordens zu rechnen?

“ich gehe von ähnlichen bestrebnungen in kopenhagen aus, eventuell auch in helsinki und göteborg. oslo selber hat schon seit 1990 ein eigenes verfahren für eine verkehrssteuer.”

im kanton bern diskutiert man ähnliche ideen: was sind die wichtigsten lehren, welche aus der willens- und meinungsbildung in stockholm ziehen können?

“es braucht einen versuch, mit welchem die konsequenzen geprüft werden können. sicher sollte das nicht so viel kosten wie in stockholm, wo man im voraus fast 100 millionen franken investiert hat. und es braucht eine klare regelung, wer über was entscheidend kann. schweden ist im ersten teil vorbild, die schweiz wäre es im zweiten teil.”

noch etwas, quasi in eigener sache: ist mit einem aufschwung der stadtwandererbewegung in stockholm zu rechnen?

“da bin ich unsicher, denn die distanzen in stockholm sind gross und die kalte saison langwas zu lang. man müsste eher eine gemütliche schiffroute finden, welche die verschiedenen inseln vor rund um stockholm miteinander kombinieren würde …”

stadtwanderer: trotz diesem dämpfer für die stadtwanderer, besten dank für das erhellende gespräch!


stockholm morgen: kalt und eisig, aber verkehrsberuhigt und fussgängerfreundlich (foto: flick_maltR)

verwirrliche abstimmungsanlage

das ursprüngliche referendum der autoverbände im jahre 2003 gegen das
roadpricing in stockholm schlug eine volksasbtimmung in der ganzen provinz vor. das provinzparlament lehnte dies jedoch ab (was in schweden erlaubt ist). die autoverbände richteten darauf hin begehren für konsultative abstimmungen an die stadt stockholm und die anderen gemeinden der provinz einzeln. das stadtparlament liess das ansinnen gelten und ordnete die volksasbtimmung vom kommenden sonntag an. ebenso wurde 2004 entschieden, den vorgängigen versuch innerhalb stockholms vorzubereiten. in den agglo-gemeinden mit bürgerlichen, dem roadpricing gegenüber negativ eingestellten mehrheiten wurden bereits 2003 12 lokale abstimmungen angeordnet. sie fanden aber weitgehend ohne erfahrungen und debatten statt. in den meisten dieser gemeinden wurden die konsultativen abstimmungen nun kurzfristig wiederholt. es sind nach wie vor mehrheiten dagegen, doch gingen die ablehnenden voten um über 15 prozent zurück. es bleibt die verwirrliche bilanz zu einem verwirrlichen verfahren: die stadt stockholm hat knapp zugestimmt, die vororte haben wuchtig verworfen. wenn man die ergebnisse zusammenzählen würde, ergäbe sich eine ablehnung. politisch wäre aber das unkorrekt!

klärender bruno kaufmann

luzerner von geburt, studierte in zürich, cambridge und göteborg (schweden) politikwissenschaft, bereiste die ganze welt, lebte mit seiner familie in der schweiz und ist seit einigen jahren im schwedische falun heimisch. er berichtet als korrespondent für radio drs und den tages.anzeiger regelmässig über den norden; die hälfte seiner berufsarbeitet widmet er dem direktdemokratischen institut iri, dessen europäisches netzwerk er präsidiert. im mai 2008 wird er in luzern den weltweiten kongress für direkten demokratie, den er organisiert, eröffnen. vorher aber noch wird er mit uns stadtwandern, am kommenden freitag mit einer delegation von ausländischen direktdemorkatie-interessierte aus spanien resp. der eu-administration.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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