mein bücherherbst 2006

nun ist die frankfurter buchmesse vorbei, sodass man wieder für bücher werben darf, ohne im verdacht zu stehen, verlaggeschäfte zu betreiben!


bookstore everywhere (quelle: flickr_bluehour)

die empfehlungen der “damals”-jury

was sollen profi-historiker heute lesen? dieser frage geht die anspruchsvolle zeitschrift “damals” einmal jährlich nach. sieben empfehlungen gibt es jeweils; 2006 heissen die top-bücher:

einzelstudien:
Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex.
Die Deutschen und der Osten 1900-1945. C.H. Beck, 2006.

überblick:
Peter Hersche: Muße und Verschwendung.
Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter. 2 Bände. Herder, 2006.

unterhaltung:
Adolph Freiherr Knigge: Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien.
Eichborn, 2006.

ästhetik:
Jacques Dalarun (Hrsg.): Das leuchtende Mittelalter.
Primus, 2006.

denkanstöße: Joachim Radkau: Max Weber.
Die Leidenschaft des Denkens. Hanser, 2006.

autobiographisches:
Karl Dedecius: Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen.
Suhrkamp, 2006.

thema des Jahres “Familienporträts”:
Harold James: Familienunternehmen in Europa.
C.H. Beck 2006.

und das historische buch des jahres 2006: gleich nochmals

Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Hanser 2006.

radkaus werk wurde von der damals-jury geehrt, weil es sich mit dem übervater der historischen sozialwissenschaften, dem deutschen soziologen max weber, beschäftigt. Es macht dies aber eben nicht als werkanalyse, sondern als lebensbericht zur ihrer zeit: webers leidenschaften kommen zur sprache, seine depressionen und seine beurteilungen der damaligen politik.

mehr noch als diese würdigung hat mich peter hersches würdigung gefreut. als studenten habe ich ihn kennen gelernt; ein junger dozent, aus dem appenzellischen, war er damals. nun ist er emeritierter professor, dessen karriere nicht immer so gradlinig verlaufen ist, wie man sich das gewünscht hätte. dafür wird sein momumentales lebenswerk, das über die frühe neuzeit europas berichtet, den konfessionellen kämpfen nachgeht, und die kultur ausbreitet, die so entstanden ist. genau diese welt verstehe ich gut, wenn auch nicht aus europäischer sicht, so doch aus lokaler: genau von diesen gegensätzen ist mein heimatort geprägt, von ihnen zehrt man in echallens.


berns altstadtgassen laden schon mal zum bücherherbst ein (foto: stadtwanderer, anclickbar)

mein katalysator zum stadtwandern

heute bin ich ja wieder ein richtiger bücherwurm, ich war es schon während und nach dem studium. mit meiner arbeiten, nicht selten schreibend …, verging die lust am lesen jedoch zunehmen. das hat sich 2003 fast schlagartig geändert. über die äusseren umstände habe ich ja jüngst berichtet; das buch, das ich damals zu weihnachten geschenkt bekommen habe, und bei mir das licht der erleuchtung durch bücher wieder angezündet hat, will ich hier speziell erwähnen:

Theo Tschuy: 5. März 1798. Der Tag, an dem Bern fiel, Bern 1998.

das buch war schnell vergriffen, und man kann es nur noch antiquarisch bestellen. dafür haben es die fachhistoriker haben es mit verdacht aufgenommen; zu viel aversion auf die berner aristokratie, die falsch eingeschätzt würde, war die kritik. mit hat der dramaturgische aufbau besonders gefallen: das buch handelt im hauptteil den 5. märz 1798 im sinne eines tatsachenberichtes ab. mit jedem kapitel rücken die französischen truppen näher auf bern vor, und es rückt auch die zeit immer eine stunde vor, – bis dann berns letzte schlägt. das ganze wird, geschickt, durchbrochen, mit historischen exkursen, die das geschehen aus der geschichte verständlich machen.

das buch passte damals gut zu meiner stimmungslage, dem ende der zauberformel, und nahm die frage auf, ob die wende, die sich 2003 wie 1798 ankündigte, gut ausgehen würde. es lässt die antwort jedoch offen, genauso wie heute, ordnet aber das breit berichtete geschehen von 1798 in die bernische geschichte ein. das hat mir eingeleuchtet, und meinen hunger nach lokaler geschichte, nach kulturellen bestimmungsgründen von entscheidungen und nach grösseren zeitraum-horizonten als in der politikwissenschaft geweckt. das stadtwandern und bücherwurmen ist daraus entstanden.


… und auch der frienisberg empfiehlt sich, in den frühen abendstunden ein wenig in büchern zu schmöckern und den herbst zu geniesen (foto: stadtwanderer, anclickbar)

die empfehlungen des stadtwanderers

und ich will den wunderbaren bücherherbst, gleich wie “damals” mit meinen empfehlungen anreichern. anders als die promi-jury richte ich mich aber nicht an die profi-historiker, sondern richte ich mich an die hobby-historikerInnen, die sich gerne weiter entwickeln möchten; hier ist sie die top-ten-liste des stadtwanderer-bücherwurms, die er, seit dem 9. dezember 2003, dem tag, an dem die zauberformel fiel, mit dem grössten gewinn gelesen hat:

bern:
Berner Zeiten (Hg): Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt. Stämpfli-Verlag, Bern 2003 (seither verschiedene Neuauflagen).

schweiz heute:
Tobias Kästli: Die Schweiz – eine Republik in Europa. Geschichte des Nationalstaates, NZZ-Verlag, Zürich 1998.

schweiz damals:
Ulrich Im Hof: Mythos Schweiz. Identität – Nation – Geschichte, 1291-1991, NZZ-Verlag, Zürich 1991.

nationen:
Monica Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Köhler&Amlang, München/Berlin 1998 (seither verschiedene Neuauflagen).

europa:
Silvio Vietta:Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Wilhelm Fink Verlag, Berlin 2005.

zeitgeschichte:
Photografie des 20. Jahrhunderts, Taschen, Köln 2005.

weltbürger:
Ze’ev Rosenkranz: Albert Einstein. Privat und ganz persönlich. Historisches Museum Bern/NZZ-Verlage, Bern/Zürich 2005.

philosophie:
Ingeborg Gleichauf: Ich will verstehen. Geschichte der Philosophinnen, dtv, München 2005.

geschichtswissenschaft:
Jan Assmann, Klaus E. Müller: Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Aegypten und das frühe Griechenland, Stuttgart 2005.

unerreicht bibliophil, schön und kompetent, didaktisch und spannend zugleich ist aber mein top-favorit der letzten drei jahre:

Jan Peter Jankrift: Das Mittelalter. Ein Jahrtausend in 12 Kapiteln. Thorbecke, Ostfildern 2004.


an die 2000 bücher stehen bei mir zuhause in der bibliothek, und gleich viele in meinem büro, sie fast so aus wie auf der foto: “bibliothek” (quelle: flickr_dreamer7112)

viel erfolg beim selber lesen!

stadtwanderer

ps:
gleich noch eine empfehlung. auch anderer bloggInnen haben zum mittel der persönliche bücherliste gegriffen, um ihre lieblinge weiter zu empfehlen. allen voran natürlich apropos, unverändert der ästhetischste unter den blogs, der aber in sache bücher zu ganz anderen schlüssen kommt:

apropos’ bücherliste

ps2:
das ist übrigens mein 200. blogeintrag als stadtwanderer!

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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