nie mehr grau

jürg ist tot. ein freund ist von uns gegangen. nicht freiwillig, aber für immer. ohne grosse worte, aber nicht ohne botschaft!


veränderungen im zürcher stadtbild, die ihren anfang bei jürg grau haben (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

der stadtmensch

jürg grau habe ich erst vor einigen jahren persönlich kennen gelernt. wir waren eingeladen, bei seiner zweiten ehefrau, charlotte, von der eher einige jahre getrennt gelebt hatte. sie arbeitete in bern, und sie stellte uns ihren jürg, der zu ihr zurückgekehrt war, bei einem fulminanten persischen essen vor.

jürg war ein ebenso fulminanter erzähler. über vieles, was das leben bewegte, konnte er reden. vor allem über städte. da kannte er sich auch besonders gut aus, – egal, ob er sie erfand, zeichnerisch plante, im computer simulierte oder selber besuchte.

als jürg 60 und charlotte 50 wurden, lud ich beide in meine städte ein. der stadtwanderer wollte ihnen die romandie zeigen und das burgund vermitteln. zwei tage waren wir ohne unterbruch unterwegs. wir überblicktem das seeland vom untergegangenen oppidum auf dem mont vully aus. wir spürten römischem erbe in avenches nach. wir erkundeten die enge der kleinststadt romainmôtier. wir stand mitten in payernes kloster. wir staunten hoch über cudrefin. wir vermassen murten mit schritten, und wir waren in grandson geschichte wandern.

wir haben gemeinssam gesehen, wie sich kultur entwickelte, wie migration alles veränderte, wie das erbe überdauerte, wie es zu neuem leben erweckt wurde, und wie welsche stadtkultur eine basis des eidgenössischen bewusstseins wurde. charlotte und jürg haben mir diese reise vielmals gedankt. ein herrliches buch über burgund in der schweiz ist aus ihren händen entstanden, das fotos und texte zum persönlich erlebten sprechen lässt.

anders als ich, der nur der vergangenheit etwas voraus hat, war jürg stets seiner gegenwart voraus. die heutigen städte faszinierten und nervten ihn. ändern wollte sie der zürcher stadtplaner. der öffentliche raum sollte wieder mit leben erfüllt werden. aber nicht mehr so wie im mittelalter, sondern so, wie in der postmoderne.

zuerst bremste jürg den autoverkehr mit schwellen, und dann verschönerte er plätze mit pyramiden oder lichtspielen. das alles weiss man, wenn man zürich kennt, und wenn man jürg kannte. doch wenn er an einem sonntag sagte, ich zeige euch jetzt zürich, wenn er von seinem zürich sprach, war er unübertrefflich: denn jenen winkel dieser stadt kannte er, jede strasse war ihm vertaut, und zu jedem platz wusste er eine geschichte. unterirdisch und in luftiger höhe.

auf dem „uezgi“, dem ütliberg, erzählte jürg gerne von stallikon, der ersten zürcher siedlung für verdichtetes bauen, die man vom turm aus sehen konnte. als architekt hatte er da mitgewirkt, und selber hatte er mit seiner familie eines der pionierhäuser bewohnt. ausgerechnet in hinterkappelen, wo ich heute wohne, hatte er die neue bauweise in der praxis studiert. sofort war ihm klar, dass das eine zukunftsform sein würde, um sinnvoll mit räumen, land und menschen umzugehen. „check it out“, könnte damals auf seinem t-shirt gestanden haben, und vor unserem haus hat er sicher schon damals gesagt: „das wird de plausch!“ so war er!

der lebenskünstler

doch jürg war kein sprücheklopfer. er war ein künstler, ein vielseitiger lebenskünstler. erst sehr spät begriff ich, wo ich ihm schon überall begegnet war, bevor ich ihn kennen gelernt hatte: in der reprise von kurt frühs fernsehfilm „oberstadtgass“, wo der 12jährige jürg mit „mäni“ eine hauptrolle spielte. oder in jazzkonzerten, die ich mit irene schweizer, pierre favre und alexander von schlippenbach, organisiert hatte, mit denen der jazzer grau gerne experimentierte.

jürg war leidenschaftlicher trompeter. selber gelernt, und zur meisteschaft gebracht, könnte man sein musikalisches treiben zusammenfassen. und: je kleiner sein instrument war, um so quirrliger verzauberte er dich damit. frank zappa war sein vorbild, vor und nachdem er ihn in den usa getroffen hatte. ganze generationen von zürcher musikerInnen hat er mit dieser faszination inspiriert. „Vaterfigur der Jazzszene“ umschreibt der zürcher tages-anzeiger das in seinem nachruf.

je später der abend war, umso ausgelassener wurde jürgs spiel meist. und es konnte spät, sehr spät werden. nicht jedes mal konnte ich ihm bis ans ende folgen. einmal, es war spät geworden und wir hatten ein wenig getrunken, musste ich andern tags früh auf, um arbeiten zu gehen. er war noch früher auf, und er bediente mich, seine katzen schon um sich, mit herrlichem morgentee. ich konnte erst stammeln, etwas vom haus der maschinenindustrie murmeln, wohin ich hin musste. doch jürg war schon wieder voll unglaublicher energie, erzählte, wie er, als man das haus baute, sein praktikum als student auf dem kran dieser baustelle absolvierte. das inspirierte mich für mein referat zur baustelle europa, über die ich aus schweizer sicht eben in diesem haus meine ausführungen machen sollte.

der verstorbene

jetzt ist jürgs lebensenergie an ihr ende gekommen. so viel hat er allen davon verschenkt, möchte man sagen, dass sie ihm plötzlich fehlte „es ist unfair“, hat seine frau chrlotte ihm im abschiedsbrief geschrieben und damit ausgedrückt, was alle empfinden. als ihm sein job nicht mehr gefiel, liess er sich vorzeitig pensionieren, um neue plätze für die musik zu schaffen, die er noch im bauch hatte. nur wenige tage nach dem wechsel in den neue lebensabschnitt erfuhr er, wie schwer krank er schon war. und nur ein halbes jahr danach hat ihn diese krankheit besiegt.

als wir ahnend, aber unvermittelt davon erfuhren, sind wir ohne lange worte ins schweizerische burgund gefahren, dorthin, wo wir einst jürgs und charlottes geburtstage fröhlich gefeiert haben. doch jetzt waren wir wir tief bewegt und elendiglich traurig. in hauterive haben wir angehalten, in der kirche eine öllampe angezündet, und sind wir ganz still geworden.

viele leute, sehr viele sind gekommen, um sich auf dem zürcher sihlfeld persönlich von jürg grau zu verabschieden, einen brief zu lesen, ein klagelied zu singen oder ihm ein letztes mal zu danken. elmar ledergerber, der stadtpräsident, der freund, verabschiedete jürg würdig von der gemeinde.

nie mehr grau, ist die bleibende botschaft des farbenreichen menschen, der mit uns lebte und von uns gehen musste.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

3 Gedanken zu „nie mehr grau“

  1. mich rühren deine worte zum abschied jürg graus sehr!
    freundschaft bleibt unumstösslich – auch über den tod hinaus.
    ein trost? vielleicht – heimweh überwindend? kaum.
    aber die erinnerungen an die einzigartigen persönlichen begegnungen werden es dir leichter machen mit diesem heimweh umzugehen.
    mit guten gedanken R.

  2. liebe rinaa, danke für den zuspruch, ich bin in meinem innern immer noch fassungslos, stadtwanderer

  3. \\\"Dä Plausch\\\" war Jürg\\\’s Lieblingsbegriff – und wie recht er hatte! ich war in Yucatan, auf einem Friedhof als er beerdigt wurde, dort hatte einer für sein eigenes Grab das höchste Gebäude von Mexico City in Miniatur nachbilden lassen. In Mexico ist der Tod im Alltag und am Feiertag vom 2. November ein Stück Leben. Tschau Jügé!

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