e burechorb vou vo aregige (einen bauernkorb voll von anregungen)

nun war ich schon wieder in thun referieren. diesmal aber nicht zu berta und dem frühen mittelalter, nein, vielmehr sprach ich zur zukunft der berner gemeinden. eingeladen hatte mich das thuner politforum. 250 gäste aus dem ganzen kanton kamen freitags und samstags im schaudausaal zusammen, um die malaise in den kommunen zu diskutieren.


bärner burechorb, mein geschenk als referent am thuner politforum (foto: stadtwanderer, anclickbar)

der weltweite wertewandel und das schweizer milizsystem

ich hat heute zum gesellschaftlichen wandel zu sprechen, und über die folgen für die kommunale politik nachzudenken. und so sprach ich zunächst zum wertewandel, die ich kenne. der amerikanische politikwissenschafter ronald inglehart hat sie in rund 100 ländern realisiert. er kommt zum schluss, dass sich die kultur der gegenwartsgesellschaften grob gesagt in zwei richtungen weiter entwickeln:

. weg von traditionellen, religiös fundierten werten hin zu säkularisierten, rationalen werten einerseits, und
. weg von prioritäten des überlebens im kollektiv hin zu jene der individuellen selbstentfaltung.

am weistesten ausgeprägt sind diese veränderungen in den kulturen des protestantisch geprägten europas. die schweiz ist weltweit in der spitzengruppe. in der politik zeigen sich die auswirkungen namentlich beim milizsystem, das die schweizerische gesellschaft prägte, die organisation der armee und des staates bestimmte.

zunächst wird es ausgehölt. mitgliederschwund bei den politischen parteien und deshalb mühe, politische ämter zu besetzen, sind die folgen. man klagt darüber, – recht breit. aber nicht überall gleich stark und nicht überall gleich anhaltend:

erstens, in den kleinsten gemeinden sind die proleme mittelgross, denn es funktioniert die informelle rekrutierung noch einigermassen. verwandschaftsbeziehungen sind eine entscheidend vorbedingung hierzu, vereinmitgliedschaften verschafften einem erste kontakte darüber hinaus, und die feuerwehr ist das klassische sprungbrett für die politik, die auf dem lande meist im gemeinderat endet.

zweitens, in den mittelgrossen gemeinden funktioniert das aber kaum mehr, und eine besserung ist nicht in sicht. die menschen ziehen aus beruflichen gründen weg, oder weil ihr(e) liebste(r) anderswo wohnt. und weil die zuzügerInnen nicht im gleichen masse zugang zur gemeindepolitik finden, wird die schicht der politisch aktiven immer kleiner und ergänzt sich immer mehr aus den immer gleichen kreisen.

drittens, in den städten wiederum scheint der tiefpunkt in der rekrutierung durchschritten zu sein. auf der exekutiven ebene macht sie eine professionalisierung der politik breit, die verwaltung entlastet die politischen gremien, und fachstellen für alles und jenes übernehmen operative aufgaben. regierungsämter sind in den städte heute meist voll- oder halbamtlich ausgestattet, was die rekrutierung von leute erleichtert, die nicht mehr milizmässig, jetzt aber berufsbezogen politik machen wollen.

mein thesen und folgerungen

mir ist mit meinem vortrag von heute bewusster geworden, dass der wertewandel nicht nur die werte des kollektivs geschwächt hat, sondern auch neuen entwicklungen chancen eröffent. die politischen aemter in den städten sind pluralistischer zusammengesetzt. die vorherrschaft einer partei ist ausgebrochen, und frauen haben erhöhte chancen in spitzenpositionen zu kommen.

ich habe gefordert, diese entwicklung auch in den mittelgrossen gemeinden voranzutreiben. ich erwarte, dass exekutivarbeit hier zunehmend professionell geleistet wird. politische führungsarbeit soll zudem erleichtert werden, indem das tagesgeschäft stärker delegiert wird.

gleichzeitig gehe ich davon aus, dass die legislativarbeit weiterhin milizmässig funktionieren wird. dafür gilt es, die eintrittsmöglichkeiten auch ausserhalb der parteien zu erleichtern. kommunale politische karrieren sollen beispielsweise familienmenschen mit engagementbereitschaft, ausländerInnen mit erfahrungen in integrationsfragen und frührentnerInnen, die sich und ihre kompetenzen nicht einbringen wollen, zugänglicher gemacht werden. weiterbildungsangebote, ja eigentliche politikerInnenschulen sollen das personal, das sich noch finden lässt, stärken.

überraschende und klare reaktionen

zum schluss meinte ich, die politische arbeit in der gemeinde müsse nicht nur materiell, sondern auch immateriell gestärkt werden. ich habe dabei auch aufgefordert, der überhand nehmenden negativberichterstattung über die gemeindepolitik in gewissen massenmedien selbstbewusst (nicht aber überheblich!) entgegenzutreten.

ich wollte dem publikum nicht flattieren; die klaren reaktionen haben mich aber überrascht. zahlreich bin ich etwas so angesprochen worden: dass die vielerorts ehrenamtlich geleistete arbeit heute keine anerkennung mehr finde, sei ein wichtiger grund, weshalb man sich heute lieber im beruf oder in der familie, nicht aber in der gemeinde einsetze. und es tue gut, aus berufenem munde, nicht nur eine differenzierte analyse zu hören, sondern auch motivierende worte zu bekommen.

an der tagung war es ein offenes pausenthema, dass sich gerade die männerpolitik im kanton bern sich auf einem sinkflug befinde. Demotivation habe sich breit gemacht. das habe man gerade auch an den referenten des ersten tages gesehen. die hoffnungen würden heute vielfach von frauen aus. am ersten tag, an dem ich nicht war, hätten diese als vortragende durchwegs brilliert.

min burechorb, eue burechorb

vielleicht, so meine bilanz am abend, schwindet der gemeinsinn gar nicht so stark. die individualisierung ist in der schweiz weit fortgeschritten. sie eröffnet der politik aber auch perspektiven, jenseits von traditionen neue formen und wege der politischen arbeit zu suchen und zu entwickeln. Ich werde das meinen wertewandel-überlegungen beifügen.

mir mitgegeben hat man am thuner politforum einen berner burechorb. der ist ganz hübsch, und ausgesprochen reichhaltig mit ess- und trinkbarem bestückt. ich hab schon angefangen, das alles auszuprobieren. auch wenn seine form noch traditionell wirkt, hoffe ich, den burechorb der gemeindepolitiker mit meinem rundgang durch theorie und befunde, erkenntnisse und empfehlungen da und dort inhaltlich neu angereichert zu haben, sodasss man auch von dieser wegzehrung des profitieren wird.

en guete!

stadtwanderer

ps:
mit dem thuner stadtpräsidenten, hansueli von allem, habe ich duzis gemacht. er tritt ja bald ab. Und in seiner einleitung zu meinen referat, erwähnte er, dass ich schon mal schultheiss von thun sei. da sich seine nachfolge schwierig gestalte, könne ich ja schon mal meine schriften nach thun verlegen, und mir eine kandidatur überlegen. werde mal königin berta um rat ersuchen, ob ich mich soweit in die gegenwart vorwagen soll …

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

0 Gedanken zu „e burechorb vou vo aregige (einen bauernkorb voll von anregungen)“

  1. Hi Claude!

    Die Präsentation am Samstag hat mir gut gefallen. Das Publikum hat schlussendlich doch noch wissenschaftlich fundierte Ursachen vorgetragen bekommen. Als Jugendlicher ist der Wertewandel im Vergleich zu älteren Generationen klar spürbar. Das Individuum rückt in der Vordergrund, das Kollektiv ist zweitrangig. Die heutige Jugend hat heute die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und da befindet sich die freiwillige Politikarbeit nicht unbedingt zuoberst auf der Prioritätenliste!

    Gruss

    Stefan

  2. lieber stefan!
    danke für dein feedback.
    die zusammensetzung der grossen gästeschar von gestern war klar pluralistischer als noch vor 20 jahren, als ich erstmals im kanton bern vor gemeindepolitikern sprach; mehr jüngere menschen, viel mehr frauen, deutlich offenere klima.
    dem kanton tut es gut, dass es nicht mehr eine partei gibt, die quasi alleine die bälle verteilt.
    ich bin ja aufgrund meiner analyse noch nicht ganz sicher, ob die individualisierung mehr vor- oder nachteile hat. meist lesen die politikwissenschafter das zwar optimistisch für die gesellschaft, aber pessimistisch für die politik.
    ich gehe, bezogen auf die politik, etwas weniger weit: ich bin sicher, dass man nicht mehr politik aus berufung betreibt, auch nicht eine fast lebenslange karriere anstrebt. ich rechne aber nicht damit, dass man sich gar nicht mehr für das gemeinwohl einsetzt. deshalb habe ich dafür plädiert, das milizsystem nur noch auf der ebene der volksvertretung und in den kleinen gemeinden gelten zu lassen, es ansonsten aber durch professionalisierte exektiven und verwaltungen zu ersetzen. ich verspreche mir davon wieder mehr leute, die bereit sind, 8 oder auch 12 jahre ihres lebens für eine thema, ein interesse, eine partei, ein amt einzusetzen, ohne dass sie danach gleich weiss was werden wollen.
    machs guet!
    stadtwanderer

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