rundblick auf das vergangene bern

machen sie mit sich selbst ein gedanken-experiment: nehmen sie an, sie stünden zuoberst auf dem berner münsterturm. und stellen sie sich vor, der turm würde sich langsam um die eigene achse drehen. so würden sie bald einmal die ganze stadt bern und ihre umgebung ungehindert und im rundblick gesehen haben.

in der realität geht das nicht. weder können sie den münsterturm bis ganz oben besteigen. noch dreht er sich links- oder rechtsherum. in der medialität ist das aber möglich. und zwar nicht nur für das heutige bern, nein auch für das frühere.


bern vor dem grossen aufbruch, aufgenommen von hermann völlger, zum panorama verarbeitet von der burgerbibliothek bern (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

genau das verdanken wir zunächst hermann völlger, ein weiters nicht besonders bekannter fotograph an der berner marktgasse 41, der 1894 den münsterturm bestieg, als er fertig gebaut war. dort machte er mit seiner fotokamera und schweren glasplatten acht bilder der stadt, jedes um 45 grad versetzt. sodann digitalisierten martin mühlethaler und philipp stämpfli, welche eben diese 8 bilder völlgers aufgestöbert haben, das material aus dem 19. jahrhundert mit den möglichkeiten des 21. und setzten es neu zusammen.

wer ihr so entstandenes multimedium “bern im aufbuch” erwirbt, bekommt nicht nur die cd mit dem panorama berns aus vergangenen tagen. er oder sie erhält auch zahlreiche beschreibungen von häusern, plätzen und strassen, illustriert mit 600 zusätzlichen, zum teil unveröffentlichten fotos aus der wende berns vom 19. zum 20. jahrhundert. darüber hinaus gibt es auch ton- und filmdokumente, die einem rudolf von tavel, ferdinand hodler, josef widmann, rudolf lindt theodor kocher und ulrich wille in ihren berner zeiten näher bringen.

das ist nicht nur eine technische spielerei. es ist eine eigentliche innovation. denn das was entstanden ist, gibt es in dieser form über bern noch nicht. mehr noch: wer den mausklick auf dem pc nicht mag, der kann auch das buch zur cd lesen. das panorama selber fehlt da zwar verständlicherweise, aber die erläuternden texte zur zeit sind dafür ausführlicher. in eigenen kapiteln werden alltag, politik, wirtschaft, geistiges leben und wissenschaftlich technische entwicklung der liberalen aufbruchszeit berns von 1885 bis 1914 vorgestellt.

so fliessen mit diesem medium ton, bild und text zu einem bisher unbekannten ganzen aus topografie, architektur und sozialleben namentlich der berner altstadt zusammen. man bekommt bern von oben präsentiert, und man kann sich entscheiden, wo man gerne einkehren möchte. das macht die übersicht detailreich, und es gibt den details die nötige tiefe.

die sicht von oben ist vielleicht typisch für das neuartige multimedium: 1865 riss man den christoffel-turm in bern ab, ein machwerk der radikalen, wie es die konservativen damals nannten. dafür revanchierten sich die burger mit der fertigstellung der müsternturm-spitze, dem wahrzeichen des beharrenden burgerlichen berns über das aufstrebende bürgerliche. und von genau diesem wahrzeichen aus porträtierte hermann völlger seine wohnstadt im jahre 1894. 2007 ermöglichte es die burgerbibliothek, das ausgeführten panorama als kleines historische porträt einer stadt in bisher nie gesehener form nachzuerleben.

eine virtuelle stadtwanderung ist das auf jeden fall wert!

stadtwanderer

Philipp Stämpfli / Martin Mühlethaler
Bern im Aufbruch. Das Völlger-Panorama von 1894
Burgerbibliothek Bern (Hrsg.), Bern 2007
112 Seiten, Kartoniert, CD inbegriffen
ISBN 978-3-7272-1224-6
CHF 39.00

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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