entscheid über das herz einer stadt

bern entscheidet am 17. mai 2009 in einer komplizierten volksabstimmung über die zukunft des städtischen progr im herzen der stadt bern. gesunde herzen sind wichtig, sagt der stadtwanderer, damit sie den körper mit leben erfüllen können, fügt er bei.

dieser abstimmungskampf in der stadt bern hat seltenheitswert: zunächst kämpfen befürworter und gegner der künstlerischen resp. medizinischen nutzung des berner “progr” je für ein ja. das sind schon zwei vorlagen, die es in einer variantenabstimmung zu beantworten gilt, ergänzt durch eine stichfragefrage, die nur dann gilt, wenn beides angenommen werden sollte; denn dann müssen die berner und bernerin definitiv entscheiden, ob sie das früherer progymnasium wie bisher als kulturzentrum oder neu als gesundheitszentrum geführt haben möchten.

doch auch das ist erst der halbe abstimmungskampf. denn dem projekt, das im wettbewerb zur künftigen progr-nutzung mit dem vorschlag für ein gesundheitszentrum obsiegte, stellte das berner stadtparlament auf druck von der städtischen basis nachträglich die fortsetzung des kulturbetriebs gegenüber, sofern die kulturschaffenden das gebäude erwerben und unterhalten können. zur überraschung vieler gelang es der findigen truppe aus dem progr, eben dieses kleingeld zu beschaffen, womit auch über ihren vorschlag entschieden werden muss. und genau dagegen rekurriert nun die städtische svp, die für das gesundheits- und gegen das kulturzentrum ist, mit juristischen mitteln. erst letzte woche sind die einsprachen im regierungsstatthalteramt vom tisch gewischt worden; wenn auch mit einer weiteren rekursfrist, sodass immer noch nicht ganz sicher ist, ob die volksabstimmungen gültige ergebnisse produzieren werden.

dessen ungeachtet warben am samstag die progr-leute in der ganzen stadt für ihre sache. das war auch nötig, denn auf den plakatwänden sind sie hoffnungslos im hintertreffen. und auch die inserate im “bund” stammen alle von der konkurrenz. die redaktion schreibe entsprechend, agitiert ein aktivist aus dem progr mir gegenüber, dass ich relativieren muss: bei städtischen abstimmungen sei geld nicht ausschlaggebend. die meisten menschen wissen auch ohne werbung, worum es gehe, denn sie kennen den progr und den neuen betrieb. so dürften sie schon vor dem abstimmungskampf positive oder negative erfahrungen damit gesammelt haben.

umso kräftiger drückt mir mein engagierter gesprächspartner einen seine flyer in die hand. der haut ganz kräftig auf den putz. das berner künstlerprojekt progr sei einzigartig in der schweiz und ein vorbild für andere kulturprojekte im in- und ausland. entstand ist es, als 2004 das städtische progrymnasium geschlossen wurde, und das areal an bester lage im stadtzentrum für eine zwischennutzung freigegeben wurde. seither seien serienweise künstlicher ich-ags, die einer auswahl bestanden und eine betreuung durch einen kurator akzeptieren, im progr eingezogen, denn hier können sie zu günstigen konditionen räume mieten und nutzen. dabei treffen sie kulturellen start ups auf städtische kulturinstitutionen wie die camerata oder das kino kunstmuseum, die ebenfalls unterschlupf im progr gefunden haben. im in der turnhalle-bar oder im alten schulhof treffen künstlerInnen ungezwungen auf abendliche partygängerInnen und auch mittagspassantInnen, die hier eine stunde abschalten, leute treffen oder ein buch lesen wollen.

genau das ist es, was die stärke der progr-leute im gegenwärtigen abstimmungskampf ausmacht. die befürworter der investitionen in ein gesundheitszentrum bleiben letztlich medial-anonym. die progr-künstlerInnen dagegen sind wahrhaftig. ihre widersacher vertreten zürcher kapital, sie haben einen hiesigen mäzen, der im progr in die schule gegangen ist, auf ihre seite ziehen können. und gesundheitszentren sollen in den aussenquartieren entstehen, meinen die engagierten, während ihre sache eine des urbanen zentrums sei.

natürlich ist der stadtwanderer nicht ganz unbefangen, wenn es um den progr geht. denn schliesslich hat er beim lokalradioprojekt, das sein zentrum in den gebauden der altehrwürdigen stadtschule hatte, mitgewirkt. ein dutzend sendungen zur stadtgeschichte sind aus dem progr produziert. schade wäre es, wenn es solche gelegenheiten nur noch in der stellvertreterwelt des internets gäbe, und nicht mehr im herzen der stadt bern. denn gesunde herzen sind eminent wichtig für das leben. noch wichtiger ist aber, das gesunde herzen leben im stadtkörper entfachen, meint der

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „entscheid über das herz einer stadt“

  1. Ich kann zwar nicht mitbestimmen in Bern, hoffe aber auch auf ein Ja am nächsten Sonntag.
    Arztpraxen gibt es ja gerade in der Innenstadt zahlreiche. Orte für die nicht-etablierte Kultur selten genug geblieben.
    Ich sage das nicht zu letzt auch deshalb, weil die Reithalle dieser Aufgabe überhaupt nicht mehr nachkommen kann, seit sich die Drogendealer dort eingenistet haben.

  2. Leider kann auch ich nicht abstimmen, obwohl ich täglich in Bern arbeite, aber eben…..diese engen Stadtgrenzen. Dürfte ich abstimmen, müsste ich allerdings mit mir ringen: Herz gegen Kopf. Die Künstlerinitiative (proProgr) weckt Emotionen. Sie hat Charme und spricht das Herz und den Bauch an. Die Initiative entstand spontan. Sie kam planerisch (und letztlich auch rechtlich) ganz eindeutig zu spät, die Finanzierung scheint nicht restlos gesichert. Das Projekt „Doppelpunkt“ hingegen ging aus einem von der Stadt veranstalteten Wettbewerb klar als Sieger hervor. Es wurde noch vor kurzem in den höchsten Tönen gelobt, als eine gelungene Mischung aus Gesundheit, Bildung und Kultur. Das Projekt basiert auf einer „sicheren“ Finanzbasis, weniger sicher ist demgegenüber, welche Art von Kultur, neben der Gesundheit, künftig im Progr stattfinden wird. Aber immerhin, im Progr gibt es weiterhin Kultur, ein Hotel oder eine Bank sind ausgeschlossen. Dennoch: Doppelpunkt hat wenig Charme, ein Gesundheitszentrum mitten in Bern, der Progr als Investitionsobjekt für eine Firma aus Zürich, das entfesselt wenig persönliches dafür eher finanzielles Engagement. Dementsprechend sind für die Künstlerinitiative deutlich mehr Leute auf der Strasse, für Doppelpunkt hängen mehr (teure) Plakate. Herz oder Kopf, im Progr schlägt mein Herz höher, beim Tangotanzen am Dienstagabend.

  3. hej röschtigraber, danke für deine ausführungen. sie sind nicht unzutreffend, und auf den ersten Blick auf treffend.
    Sie sind aber in der Logik entwickelt, dass nicht das Stadtparlament, sondern die Stadtregierung entscheidend kann, was mit dem progr geschieht.
    Das es zwischen diesen beiden Gremien in Bern Meinungsverschiedenheiten gibt, ist ja in jüngster Zeit mehrfach sichtbar geworden. Insofern sehe ich in der Reaktion des Stadtrates mehr nur als einen Rückenschuss in die Progr-Politik des Gemeinderates.

  4. das herz hat gesprochen, es hat stärker geschlagen als das versprechen des portemonaies.
    die bernerInnen haben in der variantenabstimmung das künstlerprojekt zu 66 prozent gutgeheissen. das doppelpunkt-projekt brachte es auf 45 prozent.
    damit hat sich der vorschlag der progr leute durchgesetzt.
    eine kleine analyse zeigt: 55 prozent haben klar nur für das künstlerprojekt votiert.
    11 prozent waren unschlüssig; weil die varianten-abstimmung à la bernoise das zulässt, haben sie zwei ja eingelegt. 34 prozent schliesslich haben dem gesundheitsprojekt der klaren vorzu gegeben.
    das sind dann noch klarere verhältnisse.
    die 55 prozent sind, verglichen mit den letzten stadtratswahlen wieder eher mehr als rotgrün für sich verbuchen könnnte. ein teil der mitte war demnach für das progrprojekt oder für beides.
    es gilt also in bern fast unvermindert: pointiert bürgerlich ausgerichtete und getragene projekte haben es in der abstimmung sehr schwer und scheitern recht klar.
    trotz stimmungsmache gegen rotgrün in der weltwoche.

  5. nachtrag in dieser sache.
    ziemlich kleinlaut gab die svp der stadt bern bekannt, die angedrohte beschwerde gegen die volksabstimmung nun doch nicht weiter zu ziehen. unmittelbar nach der entscheidung vom 17. mai hatte man das noch offen gelassen.
    das ganze erinnert immer mehr an einen kommunikativen trick, der national wie städtisch folgendes profil hat:
    erstens, dem gegner wird wegen seiner argumentation oder seines verhaltens gedroht, rechtlich vorzugehen. im a-kampf wird das selber als argument verwendet.
    zweitens, unmittelbar vor oder nach der abstimmung schafft man, auch wenn man in der minderheit ist, damit medienaufmerksamkeit, lässt aber alles offen.
    drittens, wenn die aufmerksamkeit vorbei ist, bläst man alles ab.
    der zweck des ganzen hat sich ja schon erfüllt.

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