mit arno borst die kulturgeschichte des bodenseeraums erwandern

“mönche am bodensee” heisst das bemerkenswerte buch von arno borst, das ich in diesen weihnachtstagen lese. denn bald schon beginnt meine vorlesung an der uni st. gallen, nach der ich mich jeweils mit der lokalen kulturgeschichte der ostschweiz beschäftigen will.

9783905707304arno borst war professor für mittelalterliche geschichte in konstanz, als er mit dem schreiben begann. 1976 hielt er öffentliche vorträge über die christianisierung des bodenseeraumes und stiess damit auf grosses öffentliches interesse. aus der bearbeitung all der fragen, die ihm gestellt wurden, entstand das fast 700seitige buch, das 1978 erstmals erschien, und ihm den Bodensee-Literaturpreis einbrachte. gerade rechtzeitig zu weihnachten 2009 ist es, zwei jahre nach dem tod von borst, im libelle-verlag neu editiert und hübsch bebildert in der vierten auflage erschienen.

borst war nicht irgend ein mediävist. vielmehr gilt er als einer der ganz grossen der mittelalterspezialisten in europa überhaupt. 1986 wurde er mit dem deutschen historikerpreis, 1996 gar mit dem balzan-preis geehrt, dem “nobelpreise” für geisteswissenschaften, geehrt. einer der greifbarsten gründe für seine herausragende stellung ist seine packende erzählkraft. seine bücher lesen sich wie krimis, sind aber nicht erfunden. doch kleben sie nicht wie die vieler anderer historiker an den quellen, sondern berichten vom leben. die erzählungen sind durchaus plastisch, und nur dort von nötig, setzen sie sich kritisch mit der fachdiskussion oder den quellen selber auseinandern. das erleichtert die lektüre ungemein.

das buch zur lokalen kulturgeschichte des bodenseeraum beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem wandermönch kolumban. nur ein oder zwei jahre wirkte er am bodensee, doch löste der zeitgenossen von gregor dem grossen und mohammed die entscheidende wende zur missionierung der landbevölkerung aus. wohl 611 kam der akstisch-strenge ire über tuggen und arbon nach bregenz, um sich, wie schon zuvor in den vogesen, der christianisierung der heiden zu widmen. “Als die Einheimischen ihrem Gott Wodan ein Bieropfer bringen wollten, zerschlug ihnen Kolumban den Kessel. Sie reagierten unterschiedlich, die einen bewunderten den kräftigen Alten, die andern schimpften über die Beleidigung der Götter. Die Fronten verhärteten sich rasch”, fasst borst die begnung zusammen, um gleich zu den folgen überzugeben. kolumban verliess den bodenseeraum bald darauf, um nach rom zu gelangen. er kam bis bobbio in der po-ebene, wo er nochmals eine klostergemeinschaft gründete, in der er, ohne den papst je getroffen zu haben, auf seinem wanderweg von bangor nach rom verstarb.

hätte kolumban nicht irgendwann gallus getroffen, der die lokale bevölkerung am bodensee viel besser als der strenge eremit verstand, wäre, so borst, kolumbans anwesenheit am bodensee wohl nur episode geblieben. doch so wurde sie zum startschuss für die grosse kultivierung des urwaldes in der weiteren umgebung und die anhaltende zivilisierung der alemannischen bevölkerung. denn gallus entschied sich, 13 kilometer waldeinwärts, an der steinach, ein klösterliches leben zu führen, das für das mönch- und nonnentum am bodensee stilbildend wirken sollte, und ausdem mit fränkischer föderung das reichskloster st. gallen entstand.

den spannungsbogen von der ankunft kolumbans bis hin zur reformation behandelt das buch von borst in alles ausführlichkeit. dabei schimmert das anfängliche thema immer wieder auf: wie kolumban und gallus verhielten sich die landfremden kartäuser einerseits, die alemannischen bauern andernseits. “Die Heimatlosen wirkten in diesem Raum als radikale Weltverächter, die Einheimischen als engagierte Weltgestalter”. das mönchtum am bodensee, schliesst das buch, hatte wegen vier eigenschaften erfolg: wegen der geregelten grundform des soziallebens, des mönchsgelübdes zur wahrung der religiösen inhalte, dem kloster, das für konstanz in der gesellschaft sorgte, und der pilgerfahrt, die zur grundlage für die konfessionelle identifikation vieler menschen wurde. bis die reformation zu beginn der neuzeit genau dieses weltbild zerbrach. wer es mit beredeten worten nacherleben will, der oder die lese das grandiose buch über adels-, priester-, laien- und bürgerkirchen im bodensseeraum.

im februar 2010, füge ich bei, beginnt mein kurs an der uni st. gallen, auf dessen weg von bern ich das buch von borst jeweils dabei haben werde. denn die mönche und die universitäten, sagt arno borst, sind die zwei institutionen, in denen das mittelalter weiter lebt. auch im bodenseeraum.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

4 Gedanken zu „mit arno borst die kulturgeschichte des bodenseeraums erwandern“

  1. ich habe eine andere auffassung. wir sind es heute zwar gewohnt, das mittelland als einheit zu sehen. in der tat, eisenbahnen und autobahnen verbinden bregenz und genf und mit dem zug kann vom flughafen cointrin direkt in den konstanzer bahnhof fahren. 4-5 stunden braucht man heute noch, nicht einmal mehr eine tagesreise ist das.

    entwicklungsgeschichtlich spricht aber viel dagegen, das “mittelland” (nomen est omen) als einheit zu sehen. das entsteht wohl erst im mittelalter so. denn lange war nicht die ost-west-verbindung entscheidend, sondern die nord-süd-verbindugnen. diese werden auf schweizerischem boden seit jeher durch die begehbaren alpenübergänge bestimmt: in den bündner alpen seit menschengedenken, über den grossen st. bernhard spätestens seit caesar, und seit rund 700 jahren auch über den st. gotthard.

    die traditionsreicheren routen gehören zu siedlungsräumen, die das hinterland (wie man das mittelland früher nannte) von osten resp. von westen her erschlossen. das muster kann seit der bronzezeit mehr oder minder nach gewiesen werden, wobei die kultur- und zivilisationsgrenzen bei den römern und germanen variabel sind, aber immer irgendwo zwischen aare und limmat verlaufen.

    erst mit dem stadtgründungswelle im mittelalter, also zwischen 1200 und 1400 wurde der raum dazwischen urbanisiert. die vielen städte welche unsere adeligen in konkurrenz zueinander gründeten, prägen den charakter bis heute: kein wirkliches zentrum, aber viele klein- und mittelstädtische orte, die in den letzten zweihundert jahren eine unterschiedlich schnelle und lang anhaltende entwicklung genommen haben.

    so bleibt der eindruck beim durchqueren des mittellandes: der arc lémanique ist im modernen sinne urban. und der grossraum zürich ist es. alles dazwischen sind verbindungsstädte mit unterschiedlich starke ausrichtung auf sich, oder auf eines der beiden urbanen zentren der schweiz.

  2. wir geben ihnen in allen punkten recht, wir kamen nur zu diesem schluss weil der bernerstadwanderer, bis zum bodensee (oder am) wandert und als stadtwanderer ja wohl die stadt nicht verlässt.

  3. oh nein, ich gehe ja auch nach payerne, nach fribourg, nach murten, und sogar nach moudon wandern. und thun schätze ich auch, ebenso wie burgdorf und biel/bienne!

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