der auf- und abstieg auf und von schloss ferrette

heute gab es einen ausflug in den sundgau. das mittelalterliche städtchen ferrette, vormals pfirt, war das ziel. der auf- und abstieg zur schlossruine glich einem gang durch die bewegte geschichte des elsäsischen ortes.

der aufstieg war steil. er führte an der gotischen kirche vorbei. rechter hand streifte man schweren schrittes die häuser des friedensrichter, des bürgermeisters und des örtlichen grafen. dann war es fertig mit dem mittelalterlichen pflaster. man bog scharf nach links, folgte einem holprigen weg aus herd und stein, der im ehemaligen schlosshof mündete. gut 600 meter über meer ist die ruinen gelegen. noch heute bietet sie eine wunderbare aussicht über den sundgau. im norden sind die hügelzüge weich, im süden wirkte der jura schon rauher.

rauh ging es in ferrette auch während der französischen revolution zu und her. denn die erbosten bauern und bürger des elsässischen städtchens schleiften das schloss, auf dem seit dem westfälischen frieden gefolgsleute der französischen könige hausten. sie alle trugen den titel eines grafen von pfirt, den die franzosen dem kaiser in wien nach dem 30jährigen krieg abgenommen hatten. die habsburger waren, wie könnte es anders sein, durch heirat albrecht ii., dem königssohn, mit johanna, der erbin von pfirt, wie ferrette früher hiess, in seinen besitz gekommen. und so ist auch das schloss entstanden: die oberburg wurde im 12. jahrhundert von einem friedrich von ferrette voller zuversicht in einer properierende phase der geschichte gebaut, die unterburg liess erzherzog maximilian errichten, nachdem der ort in den burgunderkriegen gelitten hatte.

vom städtischen charakter des französischen ortes in früherer zeit zeugt heute vor allem das rathaus. es ist, wie in den chroniken steht, in einem rot aus ochsenblut gehalten, und es fällt noch heute als markantes gebäude am schlossweg auf. das tor am stadteingang steht indessen nicht mehr, und auch sonst ist einiges heruntergekommen in ferrette. typisch dafür ist, dass das “st.bernhard”, das restaurant unmittelbar neben der gotischen kirche, selbst am sonntag zu hat. krankheitshalber vorübergehen zu, steht auf der tafel geschrieben, die früher wohl das sonntagsmenü ankündigte. dieses reicht man an diesem tag bei den asiaten als take away, und im “collin”, von wo es noch nach dem bekannten traditionsteller mit sauerkrauf, wurst und speck riecht. die serviertochter, die uns am place charles de gaulle bedient, macht ihre sache bestens, friert aber ein wenig, wenn sie auf die terrasse kommt – vielleicht, weil ihre nylonstrümpfe eine lange fallmasche haben.

der berühmteste zeitgenosse ferrettes ist prinz albert von monaco, dessen vorfahren den örtlichen grafentitel vor den revolutionären franzosen gerettet haben. kümmern tun sich die grimaldi, ausser bei ausgewählten repräsentativen anlässen, wo graf albert auftaucht, um den ort nicht. die bilder des konservativen bürgermeisters françois cohendet strahlen nicht viel zuversicht aus. von beruf war der heute 67jährige masseur. seit der pensionierung massiert er die politischen seelen der knapp 1000 einwohner, die man in der cluse noch zählt. aggressiv wirbt dafür der front national. die drei telefonnummer für alle fälle sind auf jedem plakat: jene der polizei, der feuerwehr und des parteisekretärs. ob hilft, zweifle ich. denn die unfälle, die ferrette geschadet haben, liegen weit in der geschichte zurück.

so steil der aufstieg auf den felssporn, so steil wirkt auch der abstieg des provinzstädtchens. schade, denke ich mir. doch weiss ich, dass der ort schrägen charme bewahrt hat, und seit einem viertel jahrhundert kehre ich gerne immer wieder in den pittorseken ort im südlichen sundgau zurück.

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das www der berner geschichte

waschen, wählen, weitersagen: das ist das motto einer kleinen ausstellung über berns moderne zeit in der berner stadt- und universitätsbibliothek, die gestern eröffnet wurde. vorbereitet wird damit das erscheinen des fünften und letzten bandes der grossangelegten geschichtsreihe zu bern in buchform im mai 2011.

bernsmodernean der gestrigen vernissage war man überzeugt: geschichte der moderne lässt sich anhand von geständen des alltagslebens erzählen. drei davon standen im zentrum der ausführungen: die waschmaschine, die wahlurne und das wähltelefon!

die waschmaschine hat im 20. jahrhundert (nicht nur in bern) vieles verändert. den waschvorgang selber, die sozialform des gemeinsamen waschens. weitgehend geblieben ist dagegen die rollenverteilung zwischen den geschlechtern. die ausstellungsmacherinnen wählten deshalb das bild eines mannes, der verstohlen wäscht, weil sein hemd kusslippen enthält.

die wahlurne hat einiges verändert. zwischen 1831 und 1993 wurde bern mit vier verfassungsänderungen demokratisiert. die politische rechte wurden sozial- und geschlechtermässig erweitert. geblieben sind aber burgergemeinden, und nicht realisiert wurde das stimmrecht für ausländerInnen und jugendliche. symbolisiert wird dieser vorgang durch den mann auf dem plakat, der ja zum frauenstimmrecht, im kanton bern 1968 eingeführt, sagt. auch er hat lippenstift auf der wange.

auch das wähltelefon beschreibt den wandel der beziehungen. man kann vieles weiter sagen, obwohl man bedenken hat, dass das fräulein, das die verbindungen herstellt, mithört, und es und seine kolleginnen am schluss am meisten weiss. die berner firma hasler war führend in der produktion von telefonapparaten, bis die modernisierung an ihr vorbeizog. deshalb steht ein nostalgisches bild im zentrum: ein iphone aus der gegenwart, das aber eine wählscheibe auf dem display hat.

der rundgang durch die ausstellung bietet zu den drei themen einiges an informationshäppchen, auch weniges an bildmaterial. das ganze ist als einstimmung gedacht, denn in kürze erscheint der fünfte und letzte band zur berner geschichte. er wird, auf 600 seiten, und mit zahlreichen abbildung, den wandel der moderne im kanton bern beleuchten.

sympatisch und nett war die veranstaltung gestern. geschichten wurden erzählt; die geschlechterfrage scheint dabei die historikerInnen der gegenwart so erfasst zu haben, das mir anderes zu kurz kam. in der vormoderne war bern eine führende stadt und ein führender stand in der eidgenossenschaft. warum ist er das nicht mehr, wird ja landauf, landab debattiert. ein klärungshinweis dazu hätte ich gerne auch gehört. denn die nachmoderne welt droht zu einer gigantischen virtualität zu werden, die an keinner grenze mehr halt macht. das www berns wird man noch verfassen müssen!

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berns geschichte für die gegenwart neu erzählt

stephan von bergen, historiker und journalist, bringt historische erkenntnisse immer wieder unters volk – mit unkonventionellen artikeln und positionen. seit heute figuriert er als autor einer mehrteiligen kantonsgeschichte, in der er sich mit vergangenheit und gegenwart, mit glanz und gloria, aber auch mit destastern und defiziten des berner standes auseinander setzt.

470gdas berner kornhaus aus dem 18. jahrhundert: der inbegriff des autarkiedenken in der alten republik, dessen grundlage mit der industrialisierung und dem eisenbahnbau so heftig unterminiert wurde.

“Das heute noch wirksame Erbe aus dem Alten Bern ist schillernd”, schreibt autor stephan von bergen. “Dazu gehören eine Staatsgläubigkeit und ein boderständiger, bäuerlicher Geist. Das immer noch virulente gegenseitige Ressentiment zwischen dem Land und der einst dominierenden Stadt Bern. Die Brückenfunktion zwischen der Deutschschweiz und der Romandie, die Bern erobert hatte. Und eine Berner Mentalität, die Vorsicht mit Unbeweglichkeit, ein Gefühl von Grösse mit privinzieller Selbstgerechtigkeit und Nüchternheit mit Gemütlichkeit paart.”

mit seiner neu erzählten berner geschichte nimmt er den faden aus der bemerkenswerten dissertation von stefan altorfer-ong, die bern im 18. jahrhundert einen überflussstaat nannte. dank abwesenheit von kriegen und aufständen etablierte sich die berner republik zum vorbild für erfolg. allerdings, so der neue star unter den berner historikern, gelang das nur als trittbrettfahrerin. bern finanzierte kriege, lieferte söldner, und die heerführer wie auch die rückkehrer verdienten damit ihr geld.

kaufleute, unternehmer und beamte gab es in der heimat kaum. obwohl die stadt von brugg bis nyon reichte, lebten nur mitte des 18. jahrhunderts nur 336’000 menschen in der republik, davon drei prozent in der mittelalterlichen stadt. viel der heute noch stehenden häuser in der altstadt stammen aus dieser zeit, der den kollektivgeist der städtischen oberschicht zum ausdruck brachte. über allem wachten das münster und die reformierte kirche, unter sich waren die oligarchen gleich, gegenüber anderen erhaben, während das land politisch ausgeschlossen blieb, wirtschaftlich aber geförderte wurde, solange man für die landwirtschaft produzierte.

1747 traf der grosse rat eine wichtige entscheidung. die führenden patrizier im zentrum sollten gesamthaft die tätigkeiten als kaufleute und industrielle unter- resp. sie ganz den minderwertigen untertanen in deer peripherie überlassen. “Staatswirtschaftlich und agrarisch, nicht privatwirtschaftlich und unternehmerisch”, fasst der berner geschichtsprofessor andré holenstein die tragende bernische mentalität zusammen. die begründung war einfach: vom getreidebau profitierte man doppelt – als einnahmequelle der republik und als sicherheit gegen hungersnöte. das kornhaus in bern, aber auch in burgdorf und langenthal war der eigentliche inbegriff des bernischen staatswesen.

alt bern entschied sich gegen die frühindustrialisierung. diese überliess man der ostschweiz, in der sich die textilindustrie ausgebreitet hatte. das brachte exporteinnahmen, mit denen man getreide aus dem süddeutschen raum importierte. entstanden ist so eine bürgerliche schicht, die ganz anders auf die industrialisierung reagierte als die berner patrizier, die in ihren autarkie-, unabhängigkeits- und souvernitätsvorstellungen verharrten, bis sie durch die französischen truppen gestürzt wurden, ohne dass eine bürgerliche schicht die entwicklung in wirtschaft und politik nahtlos hätte vorantreiben können.

immerhin kann man beifügen, die liberale und radikale bewegung der 1830er jahre gab dem risikoscheuen staat ein neue gepräge. der freisinn von 1848 entwickelte nicht nur die schweiz, auch bern bis zum ersten weltkrieg auf einer industriellen grundlage, wie beispielsweise der elektrifizierung, die in ihrer frühzeit europäisch führend war. der freisinn zerbrach mit dem ersten weltkrieg, mit dem die arbeiterbewegung einerseits, die bauern und gewerbler anderseits das bürgertum herausforderten, gemeinsam jedoch wieder einem protektionistischen staatsverhalten auftrieb gaben.

heute sind svp und sp die grössten politischen kräfte im kanton bern. bei den anstehenden ständeratswahlen treten sie mit vehemenz gegeneinander an. adrian amstutz, der rechte mann auf dem land, steht ursula wyss, der linken frau aus der stadt gegenüber. und wieder geht es um öffnung oder nicht. die konservativen sind national gestimmt, vereinfacht heisst das gegen die eu, derweil die modernistInnen international denken, wirtschaftlich offen und politisch vernetzt bleiben möchten. vom mittelstand der kleinen und mittleren zentren, der den freisinn zwischen 1890 und 1920 so stark machte, ist bei dieser ausmarchung kaum mehr etwas zu spüren. ihre kandidatin fiel schon in er ersten runde aus der wahl.

stephan von bergen bedauert das. denn amstutz kritisiert er als vorschnellen antietatisten, der so tue, als könne man einen schweren tanker mit ein paar markigen worten in eine andere richtung lenken. und ursula wyss hält er vor, zu genügsam zu sein, weil ihre klientel von der gemütlichkeit des bernischen kahns profitiere.

mal sehen, wer lotse oder lotsin wird, und ob sie oder er das schiff mit schlagseite neuen schub verleihen kann.

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in mühleberg und oltigen mit vögeln, grafen und frühlingshafter energie unterwegs

ich war heute auf der winterexkursion mit dem vogelschutzverein wohlen. besucht haben wir den landstrich zwischen mühleberg und oltigen an der aare. wenn es um mönchgrasmücken oder nonnenkneifer ging, konnte ich nicht immer mithalten. dafür komponierte ich in der herrlichen frühlingsatmosphäre eine kleine rede, die ich vor dem güggelisloch, dem sagenumworbenen unterirdischen zugang zur verschwundenen burg, über oltigen hielt. hier die leicht ausgeschmückte widergabe.

meine damen und herren!

morgen wird mich mühleberg am wohlensee beschäftigen, heute geht es uns um oltigen, der stelle zu unseren füssen.

sie alle haben sicher schon von troia gehört. in der heutigen türkei gelegen, gehört der untergang der stadt zu den tragischen momenten der weltgeschichte. denn die menschen glaubten immer, mit städten jene form von sozialgebilden geschaffen zu haben, die stets überleben werde. wenn dem einmal nicht so war, war das nicht nur ein desaster, es liess auch die wildesten geschichten über den grund und den ort entstehen.

das wäre eigentlich auch bei oltingen an der aare der fall. unter uns liegt ein dorf mit heute 67 einwohnern. oltigen. an stelle des dorfes stand einst eine stadt – im mittelalterlichen sinne. sicher, troia war wichtiger als oltigen. doch zwischen dem 11. und 15. jahrhundert konnte sich der ort mit neuenburg durchaus messen.

flüsse sind kulturhistorisch gesehen etwas vom spannendsten. immer schon waren sie verkehrswege. manchmal trennten die flüsse die länder beidseits, manchmal verbanden sie sie. mit unserer eisen- und autobahn schweiz kennen wir fast nur noch letzteres; ersteres ist uns fremd geworden. doch man muss daran erinnern, wenn man die bedeutung der aare ermessen will.

als sich zu beginn des 5. jahrhunderts nach christus die römer nördlich der alpen zurückzogen, fluteten verschiedene bevölkerungsgruppen in ihre ehemaliges herrschaftsgebiet. in unserer gegend muss man von zwei völkern sprechen, den burgundiones oder burgundern, und den alemanii oder alemannen. die burgunder waren ebenso wie ihre nachbarn germanen. doch wollten sie unbedingt römer werden. sie nahmen ihre sprache an. sie konvertierten zum katholizismus. sie liebten den wein, und sie unterhielten die römerstädte mit ihren bischöfen weiter. die alemannen waren das pure gegenteil davon. sie behielten ihr idiom, sie blieben arianer, und sie tranken weiterhin bier. die städte mochten sie nicht. sie mieden sie, oder sie zerstörten sie. zu zweiten der römer war aventicum, das heutige avanches, eine stadt mit 20’000 einwohnern; 610 ging sie nach einem alemannensturm unter.

konstanz, die einzige bischofsstadt im alemannischen, die im mittelalter mit basel, genf, lausanne, sion oder chur stand halten konnte, war von hier aus weit weg. das galt auch für die stellvertreterklöster in st. gallen und zürich. nur das schwäbische entwickelte sich in ihnen mehr, während sich auf der seite der aare, auf der wir jetzt stehen ein völkchen mit viel eigenbrötlertum herausbildete. christianisiert wurde die bevölkerung erst im 10. jahrhundert, – durch burgundische klöster.

getrennt wurden die burgunder und der alemannen durch die aare. seit dem 9. jahrhundert war sie nicht nur eine kulturgrenze, auch eine politische grenze. wo das der fall war, brauchte es stets herrschaftszentren. befestigungen, sitze von adeligen, orte der versorgung, zentren der verwaltung. oltigen bot sich da an. unmittelbar unterhalb des zusammenflusses von saane und aare gelegen, war die stelle verkehrstechnisch günstig. der hohe felssporn attraktivierte die lage noch. er verschaffte zu jeder zeit aussicht, und bot damit sicherheit. schliesslich, olitgen heisst bis heute riviera von radelfingen, weil es so sonnenbeschienen ist.

oltigen ist einer ältesten brückenköpfe über die aare. eine feste brücke gab es nie, fähren schon. in oltigen herrschte seit dem 11. jahrhundert ein graf, der phasenweise sehr mächtig war. burkhart, der berühmteste von ihnen, wurde bischof in lausanne, gefolgsmann des kaisers. seine grösste wohltat: er liess das mittelalterliche städtchen avenches wieder aufbauen. seit dem 12. jahrhundert waren die oltiger herren nur noch provinzgrafen. genauso wie murten hielten man aber zu den savoyern und ihren vasallen in der gegend.

eine der mächtigsten erschütterungen der mittelalterlichen welt war die pest. 1348 wütete sie erstmals im mittelland, sie raffte wohl einen drittel der menschen weg. wer schutz versprochen hatte und diesen im entscheidenden moment nicht gewähren konnte, stand jetzt auf der anklagebank. so die kirche – und so der adel. die bauern rebellierten gegen klöster und grafen, denn sie wollten nicht mehr leibeigend sein und abgaben zahlen müssen.

den zwist, der auch in oltigen ausgebrochen war, nutzte das benachbarte bern. offiziell vermittelte man, faktisch betrieb man den sturz der burgunder, dem grossen thema des 15. jahrhundert. denn bern, die zähringerstadt, die parallel zu oltigen entstanden, aber ganz in der schwäbisch-zähringische tradition und in den herrschaftsbereich des deutschen königs eingebunden war, bildete das eigentliche gegenstück zum burgunderstädtchen an der aare.

1410 kam es in oltigen zum entscheidenden aufstand. bern half den aufständischen. als man sich durchgesetzt hatte, schleiften die sieger burg und stadt. der letzte graf, hugo von mömpelgard, wurde vertrieben; die verhasste konkurrenz aus dem aarestädtchen ganz zerstört. 1412 verlor savoyen alle rechte auf oltigen, seither ist man hier bernisch, zuerst stadt-, dann kantonsbernisch. in die kirche ging man nach wohlen, zu gericht musste man nach zollikofen.

heute spricht man in diesem zusammenhang gern von bauernbefreiung. ich nenne es eher herrschaftswechsel. denn die stadt bern, 1415 zum königlichen stand erhoben und mit allen rechte über leben und tod, fackelte damals nicht lang. damit man keine gefängnisse bauen musste, in denen man fremde durchfuttern musste, präferierte man bei eroberungen die zerstörung, für die angegriffenen bedeutete das flucht oder tod. und was man nicht erobern konnte, kaufte man auf dem aufstieg zum grössten stadtstaat nördlich der alpen zusammen.

als folge davon setzte sich auch diesseits der aare die kultur der alemannen durch. 1476 wurde der landstreifen, der bis murten reichte von eidgenössischen truppen erobert, und er wurde unter bernisch-freiburgische herrschaft gestellt. die kultur wurde zwangsweise (re)germanisiert. wer in bern vorsprechen wollte, musste deutsch sprechen können, die andern hörte und verstand man nicht. 1536 griffen die berner bis vor die tor genfs aus, und vertrieben die savoyer aus der gegend. was bernisch wurde, wurde auch reformiert. man war nun reformierte untertanen der eidgenossenschaft, die gefälligste berndeutsch sprechen sollten. erst napoléon bonaparte räumte damit auf, machte die untertanen zu bürgern, die besetzten gebiete zu gleichberechtigten kantonen und schuf damit eine der grundlagen für das friedliche und erspriesliche zusammenleben heute.

oltigen hat davon nicht wirklich profitiert. die stadt ist abgegangen, wie das etwas verharmlosen heisst. selbst die erinnerung ist aus der geschichte gestrichen worden. sie lebt nur noch in mythen weiter, die im internet weiter leben. das gibt dem ort doch noch eine hauch von troia.

sicher, die kulturelle trennung durch den fluss ist heute weitgehend überwunden. wirklicher verkehrsweg ist die aare aber nicht mehr, sie dient hier seit der industrialisierung der stromproduktion aus dem benachbarten mühleberg. davon morgen mehr.

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religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

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das vergangene steuerparadies

es ist ein tolles weihnachtsgeschenk, das der bernische historische verein seinen mitgliedern gemacht hat. denn sie haben das neueste buch über berns geschichte erhalten, verfasst von stefan altorfer-ong, das er unter dem titel “staatsbildung ohne steuern” geschrieben hat.

178_9_AHVB_Bd86_grder werdegang des jungen historikers ist unüblich. nach dem studium an der uni bern ging er nach paris, schliesslich nach london, um sich vertieft seinen wirtschaftshistorischen studien zu widmen. seine 2007 auf englisch erschienene dissertation ist nun in modifizierter form auf deutsch auf den buchmarkt gekommen. einen surpluse-state nennt altorfer seinen jetzigen wohnsitz singapur, wo der staat keine schulden macht, sondern überschüsse erzielt. das war, so eine treffende beobachtung des autors, auch im staate bern des 18. jahrhunderts der fall.

die analytische kette, die altdorfer zur erklärung der unerwarteten sachverhalts entwickelt, ist elaboriert. am anfang aber steht ein für damalige verhältnisse grosser staat, der nach einer heftigen expansion im 15. und 16. jahrhundert abschied vom krieg als mittel der eroberung nahm. tiefe verteidigungsausgaben waren die folge, aus denen budgetüberschüsse resultierten, die staatsschulden zum verschwinden brachten, gewinnbringende investitionen begünstigten, was es erlaubte, weitgehend auf steuern zu verzichten. parallel zu diesem auch für die staaten des 18. jahrhunderts untypischen befund führt altorfer drei ergänzenden kreisläufe ein:

erstens, den milizkreislauf, mit dem die patrizier wie die untertanen ihren dienst an der gemeinschaft, den militärdienst, unentgeltlich erbrachten.
zweitens verweist altorfer aus dem investitionskreislauf, der zuerst den salzhandel beförderte und einträge brachten, dann zu reserven führten, die zuerst in london, dann in amsterdam und schliesslich über an königshöfen geldbringend angelegt wurden.
drittens kommt der analytiker auch auf den repräsentationskreislauf zu sprechen. der weitgehende verzicht auf steuern erlaubte eine spezifische form der herrschaft. die untertanen, blieben im lokal autonom, und bewaffnet. das erforderte von den landvögten rücksichtnahme, wenn sie mit gewinn nach bern zurückkehren wollten.

das material, das der junge historiker hierzu ausbreitet, ist nicht überall neu. es ist aber in vorbildlicher weise systematisch gesammelt und aufgearbeitet worden. im eben erschienen buch wird es, nach einer übersicht über die patrizische herrschaftsform in der res publica bernensis, in gut verständlicher form unter drei gesichtspunkten präsentiert: der langfristigen entwicklung der staatsfinanzen, ihrer umverteilung zur erfüllung der staatsaufgaben und ihrer anlage im ausland.

besonders wertvoll sind die gut 300 seiten zielgerichteter darstellung bernischer wirtschaftsgeschichte namentlich wegen des standpunktes des autors. wegen seiner guten quellenkenntnisse zur lokalgeschichte gelingt es ihm, vorhandene, sozialwissenschaftlich-vergleichenden vorgehensweisen zum leben zu erwecken. so spannt er den bogen zu grossen themen der geschichte der frühen neuzeit. dazu zählt, wie sich der steuerstaat herausgebildet hat. der üblichen these, dies sei via kriegsführung und bedarf zu anonymen kapitalmärkten mit aktiengesellschaften geschehen, kann er mit dem beispiel des bernischen staates gegenüberstellen: denn der staat entwickelt sich ohne steuern zu erheben und hierfür eine bürokratie zu entwickeln.

einen domänenstaat nennt altorfer bern im 18. jahrhundert ist, der im mittelalter ausgeformt wurde, sich mit der reformation aber verändert hatte. deshalb erhebt er ihn gar zum “unternehmerischen domänenstaat”, denn mit salz und finanzen ging der bernische staat im 18. jahrhundert geldbringend um – besser als dies noch bis ins 16. jahrhundert der fall war, aber weniger gut als das kolonialmächte ausserhalb der eidgenossenschaft vollbrachten. so erscheint das bern der damaligen zeit gleichzeitig als fossil wie auch als trittbrettfahrer, das seine vorteile unter veränderten geopolitischen bedingungen einzubringen wusste.

an die politische geschichtsschreibung gewohnt, liesst man die wertungen des autors an verschiedenen stellen überrascht und irritiert. denn sie könnte auch zur rechtfertig der feudalherrschaft angesehen werden. diese betriebsblindheit ist wohl jeder wirtschafts-, sicher aber jeder finanzgeschichte eigen, deren vorteil es dafür ist, die grundlage des funktionieren eines staates aufzuzeigen. und diese war patrimonial, aber weder eindeutig absolutistisch (wie spanien oder portugal) noch konstitutionell (wie ungarn oder polen), womit sie in der geschichtsschreibung als wenig beschriebener, eigener typ gelten kann.

die ironie der bernsichen geschichte im 18. jahrhundert ist allerdings, dass er erwirtschaftete überschuss als ultimo ratio für den kriegsfall galt, denn mit dem staatsschatz wollte man sich im kriegsfall wenigstens akut autark finanzieren. napoléon kriegsführung ohne staatsgeld führte dann dazu, dass gerade die staatsschätze reicher republiken wie venedig und bern zu eigentlichen kriegszielen avancierten, mit den die adeligen steuerparadiese jen- und diesseits der alpen ihr ende fanden.

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matthäus schiner, der erste schweizer kardinal

wer weiss nichts von der niederlage der eidgenossen in marignano? wohl kaum jemand, der nur das mindeste aus der schweizer geschichte kennt. doch wer weiss, wer die eidgenossen in die folgenreiche schlacht führte? kaum einer, der nicht spezialist ist für die umbruchszeit vom mittelalter zur neuzeit. die nachhilfe.

POSU5_13kardinal matthäus schiner, aus dem goms, führte die eidgenossen in die niederlage von marignano, bevor er an der seite von kaiser karl v. europäische grossmachtpolitik betrieb.

alles begann im goms und endete in rom. matthäus schiner wurde 1465 im oberwallis geboren, den tag hatte man nicht notiert. in como wurde der bub aus mühletal zum priester ausgebildet, 1499 mächtiger bischof in sitten. von da aus herrschte er über die seelen seiner walliser schäfchen, aber auch über wichtige alpenpässe zwischen nord und süd.

das machte schiner unumgänglich. denn 1493 schlossen der könig von frankreich und der kaiser frieden. sie teilten sich das burgundische erbe, und sie hofften danach, ihre macht in oberitalien zu vermehren. schiner war zeit seines lebens ein haudegen, die sich voll und ganz auf die seite des kaisers stellte. das brachte ihm die kardinalsweihe in rom; im gegenzug musste er die begehrten eidgenossen gegen den könig aus paris mobilisieren.

1512 gewannt man in pavia, 1513 in novara je eine schlacht. die söldner in den schlachten führten die gefürchteten eidgenössischen heerführer. diese wiederum lenkt der kardinal aus dem wallis. er warihr grosser stratege. rom ehrte ihn mit dem titel “Befreier Italiens und Beschützer der Kirche”. doch dann kam alles anders, als man dachte: 1515 wurde die schlacht zu marignano geschlagen. es siegten die franzosen unter françois i. 12000 eidgenossen liessen ihr leben für die grossmachtfantasie des walliser kardinals.

danach ging schiner nach zürich, denn im wallis war er nicht mehr willkommen. schiners fenster zu europa öffnete sich mit dem tod von kaisers maximilian 1519. drei könige wollten kaiser werden. der aus frankreich, der aus england und der aus spanien. schiner schlug sich voll und ganz auf die seite von carlos i., der bald darauf als karl v. kaiser wurde. der kardinal zog mit ihm im kaiserdom in aachen ein. gemeinsam mit den truppen des papstes eroberte schiner 1521 mailand zurück – seine persönlich rache für die schmerzende niederlage sechs jahre zuvor.

schiner stand auf dem höhepunkt seiner macht als der lebensfroh renaissance papst leo x.starb. nun war er einer der herausragenden papabili. erasmus von rotterdam, der humanist, empfahl den geistesverwandten als neuen kirchenführer. doch verweigerten ihm die franzosen hartnäckig ihre stimmen, bis schliesslich ein niederländer als kompromiskandidat unter dem namen hadrian vi. papst wurde. schiner folgte ihm ergeben, ohne noch lange zu leben. denn 1522 starb er in rom an der pest. fast schon symbolisch: sein grab wurde zerstört, als die kaiserlichen söldner kurze zeit später die papststadt in der sacco di roma plündern und der weltlichen machtpolitik der kirche mit ihren schweizer helfershelfern ein ende setzten.

matthäus schiner, erinnere ich mich, ist in meinem geschichtsunterricht in der schule nicht vorgekommen. erst als nach dem studium in einem zürcher antiquariat das buch über die 100 wichtigsten schweizer kaufte, erfuhr ich vom berühmten walliser. heute gilt es als global player der europäischen politik, wie ihn der freiburger historiker volker reinhard nennt. in der tat: er ersann und er realisierte auch europäische politik, wie es der konservative philosoph gonzague de reynold einst nannte.

wer weiss, vielleicht ist er genau deshalb bei vielen unbeliebt.
vielleicht ist das so, weil er mit seinern walliser gebrochen hatte.
vielleicht auch, weil er eine religös motiverter hetzer des einfachen fussvolkes war, das in marignano sein leben liess.

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mein erstes date in bern

es war der 1. august 1980, als ich nach bern zog. die stadt war mir damals alles andere als vertraut. der grüngraugelbe sandstein der häuser prägte den ersten eindruck – und die langen, langen gassen der altstadt, die alle gleichgerichtet von osten nach westen zeigten.

stadtplanbern1_4endlich hatte ich nach einigen wochen auch mein erstes date. eine nette kollegin, die ich seit dem gymnasium nicht mehr gesehen hatte, erwartete mich in der aarbergergasse. ich freute mich, putzte mich ein wenig heraus und ging erwartungsfroh in die stadt.

doch um himmels willen, welches war denn nun die aarbergergasse? – die in der mitte? die im süden? oder die im norden? schlimmer noch, ich wusste nicht einmal wo norden und süden war. denn alle sahen sie gleich aus, eng, verwinkelt, fast so wie in einer orientalischen stadt!

so wartete ich – an der falschen kreuzung. eine viertelstunde. eine halbe stunde. eine ganze stunde! bis ich merkte, dass ich gar nicht am abgemachten treffpunkt stand, die falsche strasse erwischt hatte, und mein date schon längst verspielt war.

damals gab es noch keine handies, über die man sich hätte verständigen können. es gab nur ein leicht vorwurfsvolles telefonat, spät abends, wo ich denn geblieben sei, die enttäuschung sei gross gewesen, und ich müsste mir nun schon was spezielles einfallen lassen, dass es zu einer weiteren verabredung komme.

der banause, der ich damals war, entschied sich: entweder die stadt umgehend zu verlassen, oder aber sie kennen zu lernen. ich entschied mich zu letzteren. nach vielen jahren des unbewussten bewohnens von bern begann ich mich auch aufzumachen, die stadt bern bewusst zu entdecken, unter anderem deshalb, dass ich nie mehr ein date verpassen würde.

mehr über diese und andere geschichten in bern gibt es auf der neuen website “bern – der film” zu sehen, die der berner filmemacher daniel bodenmann mit seinem team gemacht hat, um auf die spezialitäten der bärenstadt und ihres bärenparkes aufmerksam zu machen.

es berichten der stadtpräsident alexander tschäppät, barbara hayoz, reto nause, bernd schildger, urs berger, heinz stämpfli, walter bosshard über ihr gänz besonderes bern, genauso wie der

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warum wir gründungstage brauchen

aegidius tschudi lebte im 16. jahrhundert. der glaner war politiker, wirkte in sargans, rorschach, baden und schliesslich in rapperswil. wo auch immer er ämter inne hatte, suchte er nach alten verträgen und schriftlichen erzählungen. daras entstanden die ersten geschichtswerke zur schweiz, in denen der heutige 8. november im jahre 1307 von grosser bedeutung war.

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schweizer karte von aegidius tschudi aus dem jahre 1538, welche die alte eidgenossenschaft der 13orte zeigt, im moment als die junge gemeinschaft wegen der reformation in zwei bünde zerfiel.

nach ausbruch der reformation verfasste tschudi seine schweizer chronik. dabei behandelte er die geschichten des raumes, der durch die auseinandersetzung mit den haus habsburg zwischen 1393 und 1499 zusammengewachsen war, angesichts der reformation aber in zwei lager zu zerfallen drohte. wilhelm tell kam dabei zu ehren. der bauer aus dem schächtental avancierte so erstmals zu symbolfigur für urtümliche schweiz, auf die man sich auch bei unterschiedlicher konfession und weltanschauung beziehen konnte. und mit wilhelm tell entstand erstmals auch die gründungssage der eidgenossenschaft.

die allem zu grunde liegende verschwörung datierte aegidius tschudi auf mittwoch vor martini. die nachträgliche umrechnung datierte das auf den 8. november 1307. damals sollen sich die innerschweizer zusammengerottet haben, um ihren aufstand gegen das königshaus habsburg zu vereinbaren, das die verbrieften rechte der innerschweizer nicht anerkannen wollte. nur 10 tage lässt tschudi den habsburgische vogt hermann gessler wilhelm tell in der hohlen gasse zum legender apfelschuss auf seinen sohn befehlen. danach soll es in gebrodelt haben rund um den vierwaldstättersee. am neujahrstag sei es dann mit dem grossen burgenbruch in der schweiz losgegangen, bis am 1. mai 1308 könig albrecht i. von habsburg vom verwandten johannes von schwaben und helfershelfern unter den eidgenössischen kleinadeligen umgebracht wurde. erst sein nachfolger, der luxemburger heinrich vii., bestätigte 1308 die freiheitsbriefe der urner, schwyzer und erstmals auch die nachgereichten der unterwaldner.

aegidius tschudi befasst sich nicht nur mit der gründungssage der schweiz, die bis ins 18. jahrhundert nach ihm erzählt wurde, erst dann, angesichts neuer quellen stück für stück umgestaltet wurde, bis sie 1891 die von wilhelm öchsli neu verfasste form erhalten hatten, welche die jahrhundertfeierlichkeiten des damaligen jahres mit dem 1. august als höhepunkte prägte, weil die geschichte von 1307 auf 1291 und von albrecht von habsburg auf seinen vater rudolf von habsburg umprojiziert worden war.

tschudi schrieb bis 1572, seinem todesjahr auch an einer umfassenden geschichte unseres raums, von den anfängen bis in die damalige gegenwart. denn der humanist war dem mittelalterlichen denken, wonach die welt ein ei mit papst und kaiser an der spitze war, entrückt. seit der renaissance war man sich gewahr geworden, dass diese ei nicht anfang und ende der welt, sondern nur eine phase in der entwicklung gewesen war. in der gallia comata, dem gewöhnlichen gallien begründete liess er die burgunder, die alemannen und die langobarden im 5. bis 7. jahrhundert der reihe nach ins gebiet der späteren eidgenossenschaft einwandern und dabei die noch älteren siedler der rätier und gallier überlagern, die vormals unter römische herrschaft geraten waren, bis die von den germanen zerstört worden war.

für die zeitgenossen tschudis war dieses neue, posthum bekannt gemachte bild der schweiz ein hammerschlag. denn der raum, indem wir und indem sie lebten, ist durch verschiedene, zurückliegende einwanderungsweillen demografisch und kulturell geformt worden. die kelten (oder gallier und raetier) bildeten die älteste, identifizierbare grundlagen, aus den nach der römischen herrschaft gallo- und rätoromanen geworden waren, dann von mehr oder minder assimilierbren germanenstämme überrannt wurde, die ihrerseits unter merowingische, karolingische, sächsische, fränkische und schwäbische herrschaft gerieten, dabei teile des (heiligen) römischen reiches im hohen mittelalter bildeten, bis dessen macht im 13. jahrhundert stückweise zerfiel, und die trutzgemeinschaften der eidgenossen an verschiedenen stellen entstanden, auf die wir uns direkt beziehen.

die lehre daraus ist bis heute hart: erstens, jede geschichte eines volkes ist soweit richtig, als sie die geschichte anderer völker, die durch wanderungen und eroberungen vertrieben, unterdrückt oder ausgerottet wurden, mitdenkt. zweitens, unser bedürfnis nach grundungssagen entstand mit der renaissancegeschichtsschreibung à la tschudi, als sich die historiker gewahr wurden, dass die vorfahren, auf dies sich die volksgeschichte bezog, nicht die ersten waren, die da siedelten, sondern nur in einer kette von siedlern rechte beanspruchen konnten. diese zurückversetzung in den zustand der normalität wurde durch die erzählung der spezialität, die aus einer gründung hervorgegangen sei, überhöht.¨

erzählt am 703. jahrestag der ersten vermeintlichen gründung der eidgenossenschaft.

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die gleichzeitigkeit des ungleichzeitigen in der kartause ittingen

im hof der kartause ittingen trifft man gleichzeitig auf ungleichzeitiges. das macht es interessant, aber auch verwirrlich.

Kartause-Ittingen-TG-a19144278handies und kutsche
die seminargäste aus der oberen etage wichtiger unternehmen hängen geschäftig am handy. eigentlich sollten sie bei den verhandlungen mit ihresgleichen sein, doch riss sie das klingeln des mobiles aus dem realen gespräch, und hören sie sich die fragen des fiktiven gegenüber an. selbst wenn man nicht versteht, was sie antworten, kann man die bestimmtheit ihrer aussage an der haltung erkennen. stehend zu kontern, ist das mildeste. nervös herumzulaufen, verweist auf eine erhöhte anspannung. und wenn sich der körper dezidiert nach vorne neigt, weiss man, das war ein befehl zur klärung der meinungsverschiedenheit.

dieses treiben interessiert den kutscher der kartause nicht wirklich. sein wagen steht schon seit dem frühen morgen im hof, zaubert vergangene stimmung ins ehemalige klosterareal. dann holt er gemächlichen schrittes ein stämmiges pferde aus dem stall, spannt es ein, verschwindet nochmals in der reception, kommt mit einem paket in der wieder, um die zügel zu prüfen, aufzusitzen, gut hörbar hüü von sich zu geben, sodass das gespann vorsichtig im kies des hofes zu rollen beginnt. wielange und wohin auch immer!

der gross krach, der kleine friede
ittingen war mal der sitz der gleichnamigen freiherren, die auf sporn im thurgauischen über ihre untertanen wachten. die landschaft musste damals noch lieblicher gewesen sein, noch ohne häuser, jedoch voll von wäldern. wo diese gerodet worden waren, standen mit sicherheit apfelbäume, welche die bauern im herbst ernten, um guten most herzustellen.

als sich papst und kaiser im grossen investitursteit am ende des 11. jahrhundertes in die haare gerieten, hatte das für die ittinger verheerende folgen. der abt von st. gallen hielt zu könig heinrich iv., der kaiser werden wollte, derweil der bischof von konstanz anhänger von papst gregor vii., der die christliche welt alleine regieren wollte. die schergen der beiden mächstigen geistlichen kämpften um die vorherrschaft auch in ittingen, bis alles zerstört wurde.

mitte des 12. jahrhunderts suchte man einen neuanfang. gestiftet wurde das kloster ittingen, das man beschenken konnte, um den adeligen kampf um landbesitz zu entschärfen. übernommen wurde es von den augustinern, die hier als chorherren in religiöser gemeinschaft lebten. ökonomisch wurde das unterfangen jedoch kein grosserfolg, denn die st.galler wie die konstanzer achteten darauf, dass kein weiteres zentrum mit geistlicher ausstrahlungskraft in ihrer nähe entstehen würde. so vermachte man das klösterchen im 15. jahrhundert dem französischen orden der kartäusern. 1524 wurde es von bauern gestürmt, als sie sich gegen die abgabenpflicht wehrten, im gefolge der gegenreformation aber wieder aufgebaut. mit dem einmarsch der franzosen wurde es 1798 verstaatlicht, mit der gründung des bundesstaates 1848 aufgehoben und in einen privaten landwirtschaftbetrieb überführt.

leben und einkaufen heute
die weitgehend intakt gebliebene klosteranlage wurde in den 70er jahren des 20. jahrhundert von einer stiftung übernommen, welche 1983 einen hotel- und seminarbetrieb eröffnete, seither auch das thurgauische kunstmuseaum führt, und behinderte menschen aufnimmt und beschäftigt. der klosterladen ist nicht nur einkaufsstätte für die gäste, er ist auch treffpunkt für die menschen aus der umgebung. da tauscht man das neue vom tag aus, informiert sich über die anstehende radiosendung zur kartause, und macht sich auch mal gedanken über gott und die welt.

selber freue ich mich, meine morgendlichen einkauf in angenehmer atmosphäre machen zu können. der birnensaft hat schon gut geschmeckt, sodass ich zum birnenbrot greife, und den landjäger einpacke, der reichhaltiger ist als anderswo. der käse wiederum ist so reif, dass nur die packung sein davonlaufen verhindert, und auch er in meinem korb landet, noch bevor ich vor den zahlreichen eigenen weinen verweile und auch einen blick auf die angeboten literatur werfe.

verbunden oder abgeschieden sein

draussen erwartet mich ein phänomenaler herbsttag, bestes wanderwetter, blauer himmel, goldig glänzende bäume, geschnitten wiesen. auf wenn die kartäuser nicht mehr die herren über ittingen sind, spürt man ihren geist noch. ihr lebensweg war die abgeschiedenheit, das schweigen.

leider, sage ich mir, kann ich heute nur kurz stadtwanderer auf dem land sein, obwohl es mich die geheimnisvolle stärke in der ruhe mächtig anzieht. denn auch ich bin nicht als mönch nach ittingen gekommen, sondern als gast im seminarangebot des tages. immerhin, ich schalte mein handy aus, denn die immerwährende verbindung in die ewige abgeschiedenheit ist genau das, was die gleichzeitig der ungleichzeitigkeit bestimmt, das thema, das mich seit dem morgen beschäftigt.

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zum beispiel kirchberg an der emme

wer im ersten, kleinen bahnhof auf der linie burgdorf-solothurn aussteigt, wähnt sich im bernischen kirchberg. effektiv steht die haltestelle in alchenflüh, genauer noch in rüdlingen-alchenflüh, durch die emme räumlich von kirchberg getrennt, topografisch aber eine einheit bildend.

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kirchberg hat seinen namen von der markanten felswand über der emme, auf der die weitherum sichtbare kirche steht. 1506 wurde sie von bern aus errichtet, noch bevor die reformation bisher unwiderrufen einzug hielt. die streng-geraden wege durch den friedhof drücken das unverkennbar aus, die fein-säuberlich geschnittene rasen und die die ebenso behandelten bäume ebenfalls. im kirchgemeindezentrum ist man bemüht, dass tradition weitergegeben wird. gross ist die werbung für das teenagerlager 2010, mit fotos und erlebnisberichten, die sich an die jugend wenden.

es ist 12 uhr, als ich vom kirchberg aus in die landschaft schaue. vor mir ist der weissenstein im solothurnischen jura, und hinter mir ragen die verschneiten alpen in den himmel. alles wirkt friedlich, bis die sonore glocke die ruhe mit mächtigen getöse durchschneidet. anschliessend zwitschern ein paar aufgeschreckte vögel, um sich zu gewissern, dass die ihrigen noch leben. unmittelbar danach tönen frauenstimmen aus dem kirchgemeindehaus. sie stimmen kirchliche lieder an, und aus dem benachbarten stöckli hört man männerstimmen das gleiche tun. es ist, als kündige der ewig wiederkehrende gesang das wochenende an.

die geschichte von kirchberg

die frühesten archäologsichen funde sprechen für einen flussübergang seit 3000 jahren in kirchberg. urkundlich bezeugt ist die gegend seit gut 1000 jahren. der name rüdlingen wird als ort des sippenführers ruodilo interpretiert. die erste erwähnung im jahre 894 bezeugt daselbste eine gerichtsstätte. 922 wurde rüdlingen unter könig rudolf ii. und seiner schwäbischen gemahlin, könig berta, burgundisch. deren tochter adelheid, mitbegründerin des hochmittelalterlichen kaiserreiches im jahe 962, vermachte ihre güter im simmen-, aare- und emmental 994 dem elsässischen kloster selz, das sie kurz zuvor gestiftet hatte, und in das sich die kaiserin zum sterben zurückzog.

100 jahre nach ihrem tod kam selz zum burgundischen kloster cluny, und wurde so zu einem teil des gottesstaates des papstes, der den kreuzrittern im nahen osten als wichtige rekrutierungsbasis diente. auch kirchberg gehört dazu, wurde aber vom 13. jahrhundert an von den einheimischen herren von thorberg verwaltet. diese erwirkten 1283 von könig rudolf von habsburg die stadtrechte, ohne dass der erhoffte aufschwung eingesetzt hätte. so kam der ehemalige klosterbesitz 1429 zu bern, das 1481 die rechte, die noch fehlten, mit geld erwarb, und kurz darauf auf dem kirchberg die heutige kirche errichten liess.

1640 baute man von bern aus den bestehenden fussgängersteg zu einer hölzernen fahrbrücke aus, die 40 hochwasser überstand, bis sie 1865 durch eine eiserne, 1963 durch die bestehende betonbrücke ersetzt wurde. 1965 kam der anschluss an die autobahn n1 hinzu. die beabsichtige fusion zwischen kirchberg und rüdlingen-alchenflüe scheiterte 1973 in der volksabstimmung, obwohl man längst eine kirchgemeinde war und gemeinsam infrastrukturen unterhielt.

die ältesten gewerbebetriebe in kirchbern sind bleichereien, druckereien und der engroshandel, allesamt von unternehmerisch denkenden kaufleuten lanciert, die in burgdorf abgewiesen worden waren. mit ihnen änderte sich die fast ausschliesslich landwirtschaftlich geprägte umgebung. 1871 wurde in kirchberg ein eigener handwerker- und gewerbeverein begründet, die spar- und leihkasse sowie der eisenbahnanschluss eröffnet, was die industrielle entwicklung mit tuchfabriken, webereien und aluminiumwalzwerken einleitete. heute leben gut 5000 menschen in kirchberg, und in rüdlingen-alchenflüe sind es mehr 2000. auf zwei einwohnerInnen kommt eine arbeitsstelle vor ort, verteilt auf 270 betriebe.

die soziologie von kirchberg

eingeladen vom bürger-in-forum kirchberg hielt ich am montag abend einen vortrag in der gemeinde. thema war das verschwinden der mittelstandsfamilien. dass die normfamilie und die kinderzahlen zurückgehen, ist keine eigenschaft des subzentrums an der emme. was den mittelstand betrifft, kommt es auch in kirchberg auf die definition an.

der alte mittelstand mit landwirtschaft und gewerbe ist zweifelsohne vielerorts rückläufig. das hat mit dem wirtschaftlichen strukturwandel zu tun, zum teil auch damit, dass der mittelstand sich immer klar nach oben und unten abgrenzte, die protestantische erwerbsform des familienbetriebs hochhielt und die zugehörigkeit zu gewerbeorganisationen zur voraussetzung für wirtschaftliche tätigkeit postulierte. die neuen mittelschichten – facharbeiterInnen und angestellte – sind demgegenüber wachsend, definieren sich offener via bildung, berufsposition und einkommen. sind flexibler, auch was wohn- und arbeitsort angeht. wer gut verdient, kann aufsteigen, wessen einkünfte sinken, dem droht indessen der abstieg. luxus ist nicht angesagt, ein auto aber schon, und auch auf technische ausstattung zuhause, auswertige ferien, gesicherte altersvorsorge und gute schulen für das kind will man nicht verzichten. viele kinder zu haben, ist gerade bei schweizerInnen mit guter ausbildung kein vorrangiges ziel mehr, bei ausländerInnen mit patriarchalen familienvorstellungen schon noch.

polititisch hat man sich die breiten mittelschichten von der mitte längst losgesagt; heute dominieren bindungen an die svp oder sp, je nach vorrangigem weltbild: rechts ist das die bedrohung durch die migration, links sind es die ungleichen entwicklungschancen. das ist auch in kirchberg nicht anders. bei den letzten nationalratswahlen kam die svp auf 32 prozent, die sp auf 21, wobei die frauenliste stärker abschnitt als jene der männer. mit den grünen machte das linke lager sogar 29 prozent aus, klar mehr als die ehemals staatstragende fdp, die unter einem fünftel der stimmen blieb.

der rückblick auf eine woche eindrücke aus kirchberg

im coop-restaurant, wo ich heute zum mittagessen war, um mit ganz normalen menschen zu sprechen, werde ich von hilfsbereiten frauen, die den betrieb mit verve führen, auf kindergerechte einrichtungen achten, und eine freundliche atmosphäre unter die leute bringen, bedient. das alles wirkte harmonischer als die markantesten voten, die mir vom montag her geblieben sind. denn sie beklagten die privilegien der asylsuchenden, die mehr zum leben hätten, als arbeitenden schweizer nach ihren steuern übrig bliebe, beziehungsweise nervten sich an den superreichen, welche keine gemeinschaftliche verantwortung mehr tragen wollten und damit die mittelschichten ausbluten würden.

und so mache ich mich, voll von eindrücken zu geschichte und gegenwart in kirchberg, an die emme, grüsse im vorbeigehen adelheid, die reformation, die brückenbauer, die händler und gewerbler, die mittelschichtsfamilien und die polparteien nochmals, um in ruhe ein wenig durch die landschaften zu wandern …

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der mittelstand ist wieder gefragt

alles spricht vom mittelstand. doch kaum jemand weiss, was das damit gemeint ist. so rede hier wenigstens von der geschichte und gegenwart des phänomens, das man damit in der schweiz in verbindung bringt.

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thomas minder, bürgerlich denkender unternehmer aus dem schaffhausischen und initiant gegen die abzocker-mentalität der banken, hat der stimmungslage des mittelstandes wieder eine stimme gegeben.

die germanische gesellschaft kannte drei stände: den adel, den klerus und die bauern. in die wurde man geboren, was stabilität garantierte. das reichte denn auch, um auch in der alten eidgenossenschaft die soziale realität zu beschreiben, auch wenn in den städten handwerker und kaufleute hinzu gekommen waren.

erst mit der industrialisierung der schweiz nach 1830 änderte sich der charakter der rural geprägten gesellschaft. in den städten wuchs die bevölkerung schneller als auf dem land. ein unternehmerisches bürgertum entstand, und mit ihm bildete sich auch eine lohnabhängige arbeiterschaft aus. beides begann, gewerbe und landwirtschaft zu bedrohen. modernisten verstanden das als unausweichliche entwicklung hin zur zweiklassengesellschaft; traditionalisten verteidigten den neu entdeckten mittelstand als schutzwall gegen kapitalisten und proletarier.

letztlich war beides überzeichnet: denn die viel beschworene gesellschaftliche mitte verschwand nicht, noch blieb sie in ihrer bisherigen form erhalten, weshalb man auch vom alten und neuen mittelstand – und verallgemeinert von mittelschicht – spricht, von den selbständigen im handwerk und bauernstand resp. den unselbständigen unter den facharbeitern, angestellten und beamten, die weder zu den reichen, noch zu den armen gehören.

der historiker albert tanner hat die entstehen und den wandel des begriffs “mittelstand” nachgezeichnet. zunächst hält er ihn für einen typisch deutsche wortschöpfung, ohne wirkliche entsprechung im französischen und italienischen. sodann beinhalte er ein bekenntnis, nämlich das fundament von staat und gesellschaft in der schweiz zu sein, ja das synonym für das volksganze zu sein. schliesslich sei er ein vielfach verwendeter politischen kampfbegriff: die gute ordnung sei daran geknüpft, dass die gruppen der gesellschaft, die weder vom internationalen geschäft, noch von staatlicher unterstützung lebten, für die stabilität der gesellschaft unentbehrlich seien. ein blick in die realität der politik in zahlreichen kantonen zeigt, wie treffend diese schilderung ist.

doch ergab sich das alles nicht gradlinig. gerade während krisenzeiten, wie jener den 30er jahren des 20. jahrhunderts, stellten sich beispielsweise der gewerbe- und der bauernverband gegen jedwelche gesellschaftliche erneuerung. vielmehr belebten sie wirtschaftsvorstellungen, die direkt an die vorindustrielle zeit mit korpationen wie zünften in den städten und zwangsvereinigung zur beweidung von alpwirtschaften anknüften. die konvervative volkspartei, aber auch die neue schweiz übersetzen das nach 1933 in die politik. damit drangen sie nicht wirklich durch, prägten aber den kriseninterventionismus der zwischenkriegszeit.

auf die national und populistische politik verzichteten die exponenten des alten mittelstandes nach dem zweiten weltkrieg. mit der anerkennung der liberalen wirtschaftsartikel 1947 kam die wende. nun befürwortete man rationalisierungen, um im ökonomischen wettbewerb bestehen zu können, und propagierte man selbsthilfe auf betriebs- und verbandsebene als zentrale ziele der mittelstandspolitik.

seit einigen jahren tobt erneut ein kampf um die richtige mittelständischen interessenpolitik. gewerbe und landwirtschaft schwanken beispielsweise zwischen sozialpolitischem antietatismus und forderungen nach protektion von branchen in der globalen wirtschaft. mittelstand wird wieder vermehrt gleichgesetzt mit gesunder mitte sowohl gegen die masslos gewordene klasse der internationalen manager, wie auch der pauperisierten, försorgeabhängigen unterschichten. und, obwohl der begriff soziologisch gesprochen immer inhaltsleerer wird, bezieht sich die politik fast schon inflationär auf ihn: parteien buhlen um den mittelstand, medien thematisieren seine ängste, und sozialforscher belegen verarmungstendenzen.

fast schon symptomatisch: der jüngste wahlkampf in der stadt zürich drehte sich um den mittelstand. im beginnenden abstimmungskampf um die steuerinitiative geht es massgeblich darum, ob die rechte mit dem steuerwettbewerb oder die linke mit dem abbau von privilegien für reiche die bessere mittelstandpolitik betreibe – und auch ich referiere nächste woche in burgdorf zum thema, was den mittelstand in der heutigen zeit umtreibe.

ich muss mir noch echt gedanken machen, wie ich mit dem gängigen, aber unscharfen begriff umgehen will …

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ein wenig wie die kappeler milchsuppe

1499 gestand könig maximilian den eidgenossen autonomie in seinem reich zu. dabei ging es auch darum, ob die parteiungen weiterhin ein fehderecht haben sollten oder nicht. der eidgenossenschaft haben die zugeständnisse wenig genützt. den schon bald darauf brach die grösste fehde unter allen eidgenossen, der konfessionskrieg, aus, der zum grossen und langen schwanken zwischen blockaden und versöhnungen unter schweizern führen sollte.

levrat_pelli_1_5340048_1269938808antipoden des industriezeitalters: die spitzen von sp und fdp, gemeinsam für eine offene schweiz, unterschiedlich in der einschätzung, wie man das erreicht, haben sich wieder versöhnt, nicht zuletzt auf druck der basen, die andere sorgen haben, als streithähnen zuzusehen.

mit der reformation in zürich 1523 nahmen die spannungen zu konfessionellen fragen in der eidgenossenschaft rasch zu. bern und basel folgten 1528 zürich, sodass sich gewichte in den städten zugunsten der neugläubigen zu verschieben begannen. diese weiteten sich sich zur feindschaft, ja zum bürgerkrieg aus, als der reformierte pfarrer jakob kaiser in schwyz bei lebendigem leib verbrannt wurde. zürich wollte das 1529 rächen, bern folgte dem limmatstädtern, und zug stellte sich ihnen entgegen, um die innerschweiz zu schützen. es brauchte die vermittlung von glarus, halb habsburgisch, halb zürcherisch, um ein sinnloses blutvergiessen zu verhindern.

den friedensschluss erzwang aber auch das fussvolk, das offen fraternisierte, während ihre anführer verhandelten. auf der grenze zwischen zürich und zug stellten sie einen pott auf. die zuger brachten die milch, die zürcher reichten das brot. gemeinsam schlürfte man die milchsuppe, während der kompromiss verkündigt wurde: in den gemeinen herrschaften durften die neugläubigen predigen, nicht aber in den orten, die streng altgläubig bleiben wollten. die untertanen sollten selber wählen dürfen, welcher konfession sie anhängen wollten.

seither gehört die kappeler milchsuppe zu den vorzeigemomenten der schweizer geschichte, der nicht nur nach innen, auch nach aussen ausstrahlte. die schweizer, wie man sie immer mehr nannte, gelten seither als raufbolde, die gründlich vom leder ziehen, sich schliesslich aber auch versöhnen können. und nach innen ist die lehre aus dem kappelerkrieg, dass man nicht immer nur provozieren kann, sondern auch den kompromiss suchen muss, um die eigene autonomie zu wahren.

genau an das musste man unweigerlich denken, als man vom communique las, das fulvio pelli und christian levrat zu ihrem fürchterlichen streit über die departementsverteilung im bundesrat heute veröffentlichten. einen “knallharten lügner” nannte sp-chef seinen kollegen von der fdp vor laufender kamera, sodass dieser einen tag später frei-ins-haus-geliefert mit einer verleumdumsklage drohte. was den medienleute als willkommenes spektakel vorkam, ärgerte schon bald die fraktionsmitglieder hüben und drüben, die sich bekämpfen, aber auch begegnen müssen, wenn sie in der sache bisweilen anderer, gelegentlich aber auch gleicher meinung sind. politisch soll man streiten, ja, auf entgleisungen soll man dabei verzichten, genauso wie aufs fischen im juristenteich, war seither ihr motto hinter den kulissen.

ob man zwischen zwischen bulle und sorengo einen pot aufgestellt hat, um fribourger vacherin mit tessiner wein zu schlürfen, weiss ich nicht wirklich. den beim friedensschluss waren die medien nicht zugelassen, und ich konnte auch nicht von ferne vorbeiwandern. registriert habe ich die symmetrie der entschuldigungen, von unangebrachtem ausdruck bis überreaktion. und ich bekenne: ich finde es gut, dass sich die präsidenten der sp und der fdp wieder vertragen. denn ihre verbindung ist nötig, um die schweiz modernisieren, selbst wenn das nur dialektisch möglich ist und auch in zukunft nicht ohne konflikte zwischen antipoden abgehen wird.

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besuch im ottenleuebad

vor unseren füssen lag der nebel im sensetal. hinter uns war ein bergkamm, auf dem das junge holz, das nach dem lothar-strum gepflanzt wurde, ganz ordentlich wuchs. unmittelbar unter uns war der panoramaplatz von ottenleue. so weit – so klar, doch was bedeutet ottenleue?

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panoramatafel vor dem ottenleuebad

die verköstigung im garten des ottenleuebads war wunderbar gewesen. eine kalte milchschoggi hatte mich nach der morgendlichen wanderung gestärkt. ein paar jugenderinnerungen kamen auf, und die machten mich zusätzlich fit.

die nachfrage bei der servicefrau ergab, dass das bad seit längerem nicht mehr in betrieb ist. die werbung im hausgang zur toilette verweist auf ähnliches. der stil der 50er und 60er jahre des 20. jahrhunderts dominiert. das kleinkind mit nacktem po wirbt verschämt für nestlé-baby milch und barry, der bernhardiner, tut das gleiche für milka von suchard.

der name ottenleue wirkt noch älter. dass es auf den voralpenterrassen bären gab, ist gut vorstellbar. doch löwen? das wirkt sonderbar. und otto dünkt mich auch kein name, der für den rand der gesellschaft typisch ist.

die sage von h.l., die auf der karte am panoramaplatz erzählt wird, erhellt einen in dieser sache. man wird ins hohe mittelalter zurückversetzt – die zeit der kreuzzüge. otto soll ein bauer aus dem tal gewesen sein, durch das die kalte sense fliesst. begehrt habe er die tochter eines junkers, bekommen habe er sie jedoch nicht. denn der ritter verlangte, einen ebenbürtigen tochtermann zu bekommen und sandte otto nach jerusalem. gesagt, getan! dem vernehmen nach habe otto aus dem sensetal viele moslems umgebracht und das heilige kreuz brav verteidigt, bevor er zum ritter geschlagen wurde. genützt hat ihm das in der heimat indessen nichts. den seine angebetete verstarb, kurz bevor er zurückkehrte, sodass er sich entschied, sich ins tal, aus dem er stammte, in alle abgeschiedenheit zurückzuziehen. auf den terrassen, hoch über dem wasser und wenig unter den tannen, habe er gemerkt, wie lieblich das klima da sei, wie wohltuend die luft wirke und wie günstig sich das schwefelwasser auf seine körper ausgewirke. und so habe er sein herz, das einst einer frau galt, dann wie das von richard löwenherz im nahen osten kämpfte, den wunderbaren weiden am gurnigel geschenkt.

dem bad nebenan, das 1886 aufging, diente diese sage in früheren zeiten sicher. ob’s wirklich genützt hat, kann man bezweifeln. denn die geschichte ist typisch christlich, nicht wirklich unternehmerisch. das gilt nicht nur für das bad im sensetal, es trifft auch auf die ovo zu, die ich genoss. die marke wirkt heimlig, weckte bubenträume, gehört aber längst nicht mehr dem gutgläubigen bern.

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ordnung und fortschritt – die leitbilder aus dem 19. jahrhundert neu aufgelegt

brasilien, das diese nacht einen präsidenten oder eine präsidentin wählt, übernahm sein motto “ordnung und fortschritt” in die flagge. und ohne ihn hätte die soziologie ihrem namen bekommen. eine kleine hommage an auguste comte, den grossen, umstrittenen, vergessenen und wiederentdeckten wissenschafter aus dem 19. jahrhundert.

DSC00431statue von auguste comte, vor der pariser sorbonne, im gedenken an den begründer des positivismus, was mitte des 19. jahrhunderts noch starkes, wissenschaftliches denken mit wirkungsabsichten meinte.

1815 war in der europäischen geschichte ein wendejahr. kaiser napoléon verlor die schlacht von waterloo. die sieger, der russische zar, der österreichische kaiser und der preussisch könig erklärten die revolution für beendet. basierend auf gerechtigkeit, liebe und frieden leiteten sie die restauration der verhältnisse ein.

august comte, ein junger mathematiker aus montpellier, war mit der schroffen gegenüberstellung nicht zufrieden. er begann eine gesellschaftlehre zu entwickeln, welche die anarchie der moderne heilen sollte, ohne auf die konservativen rezepte zurückgreifen zu müssen: ordre et progès wurde zu seinem lebensmotto.

seine ersten schriften verfasste comte für den radikalen sozialreformer henri de saint-simon. sie setzten auf industrielle – unternehmer und arbeiter – und auf wissenschafter. neue arbeit brachten sie dem jungen mathematiker indessen nicht. denn der alte aristokrat publizierte sie unter seinem eigenen namen.

erfolgreicher war comte zweites werk. 1830 erschien der erste band des “cours de philosophie positive”, innert 12 jahren folgten fünf weitere bände. in ihnen rekonstruierte er drei stadien der menschheitsgeschichte: im ersten, dem theologischen, stellten sich die menschen fragen nach dem grund ihrer existenz; zu ihrer antwort schufen sie gottheiten, die gewissenheiten vermittelten. im zweiten, dem metaphysischen stadium, versuchten die menschen, ohne rückgriffe auf außerweltliche instanzen antworten auf die gleichen fragen zu finden. ins positive stadium treten sie, wenn das warum in den hintergrund rückt, dafür die funktionszusammenhänge entscheidend werden. comte glaubte damit, den leitfaden für den übergang in die höchste phase der menschheitsgeschichte gefunden zu haben.

der führenden wissenschaft für die dritte phase hat er den namen gegeben: er nannte sie soziologie, und er definiert ältere vorstellungen von gesellschaftslehren in seinem sinn um. soziale tatbestände sollten sich auf wissenschaftliche fakten stützen. und wissenschaft sollte stets anwendungsorientiert sein. soziale physik und soziale technik hätte man das auch nennen können. später ging comte noch weiter. im 1851 erschienen “système de politique positive” begründete er die theokratie oder gottesherrschaft neu, denn seine wissenschaft wurde nun zur religion – allerdings mit dem menschen und ohne gott an der spitze der schöpfung.

mit dieser wende spaltete comte seine anhängerschaft: die republikaner, meist französische linke, hielten dem modernen rationalisten comte aus den 1830er jahren die treue. soziologie war und ist für sie die disziplin, die der prognose künftiger gesellschaftlicher entwicklungen dient und politik so auf eine sichere basis stellt. die rechten konservativen wiederum feierten den comte der 1850er jahre, der die soziale harmonie mit hilfe eines neuen glaubens, befreit von alter wissenschaftsgläubigkeit, herstellen wollte.

noch heute steht die statue von auguste comte vor dem eingang zur pariser sorbonne. der umstrittene soziologe ist allerdings weitgehend in vergessenheit geraten. neu gelesen hat ihn jüngst wolf lepenies, der ehemalige rektor der berliner wissenschaftskollegs. er schildert ihn als mischung aus dem griechischen philosophen aristoteles umd dem christlichen apostel paulus. die versuchte klammer über all seine gegensätzlichkeiten habe comte zwischen stuhl und bank fallen lassen, auf denen die gesellschaftstheorien der linken und rechten bis heute ruhten.

régis debray, der frühere mitstreiter von che guevara, hat comte zu seinem 150. todestag wieder auferstehen lassen. anders als marx, meinte er zu seiner hommage an den grossen franzosen in filmform, habe comte das kernproblem der moderne vorausgesehen: die gefährliche illusion, “der Mensch könne sich ohne religiöse Bindungen in der Welt halten.” lepenies selber arbeitet an der zweiten wiederentdeckung comtes: den zeichen, die für die vermittlung von wissen in die massen unabdingbar seien, denn das wort alleine schaffe das nicht.

brasilien weiss das nur zu gut. es hat comtes motto in die nationalflagge übernommen. und brasilien lebt zwischen der hoffnung aus religiöser ordnung und aus materiellem fortschritt. wohl auch diese nacht, wenn der oder die präsidentIn neu gewählt wird, sodass lula da silva für höhere weihen in der weltpolitik aufsteigen könnte. auguste comte hätte es mit sicherheit gefreut.

stadtwanderer

bettag ohne beten

es war 1963. am abend, als wir erfahren hatten, dass john f. kennedy ermordet worden war, betete die ganze familie. für den amerikanischen präsidenten. für den leader der freien welt. für den katholiken. wahrscheinlich waren es nur ein oder zwei vater unser gewesen. eine besonderheit war das nicht. dass vater, mutter, schwester und ich gemeinsam beteten, und dass das gebet einem politiker galt, war jedoch unüblich. soweit ich mich erinnere, lag ein gefühl von krieg in der luft, von weltkrieg. wie ich später erfuhr, wohl eher von verhindertem krieg in der kuba-krise. ich war damals sechs jahre alt, ging in den kindergarten. es gab nur wenige momente in meiner bubenzeit, die mir so direkt geblieben sind. st. nikolaus in fribourg vielleicht, die studenten aus afrika ebenfalls, und die expo mit dem u-boot in ouchy dazu.

447px-Aufruf_bernbettagsmandat von 1832 der tagsatzung

die entstehung des eidgenössischen buss- und bettages ist nicht eindeutig. sicher, 1832 gab es das erste bettagsmandat der tagsatzung, damit das öffentliche leben ruhe. und 1848, ein jahr nach dem bürgerkrieg von 1847, gab es auch einen markanten tag der besinnung. die tradition der bettage ist jedoch älter, stammt aus den 17. jahrhundert und hängt höchstwahrscheinlich mit der bewusstwerdung der eidgenossenschaft als souveräner staat zusammen. noch älter sind gedenktage mit konfessionellem hintergrund, die sich mit der erfahrungen des 30jährigen krieges, von dem die schweiz weitgehend vorschont blieb, zum überkonfessionellen gemeinschaftstag entwickelten. seither ruft sich die eidgenossenschaft nebst der kirche in erinnerung. das kam in der krise von 1797 besonders zum ausdruck. als das ancien régime an der inneren immobilität zusammenzukrachen drohte, war der gedenktag besonders gefragt.

denkt man heute noch an bettag, wie er in meiner jugendzeit kurz und bündig genannt wurde, weil eidgenössischer dank-, buss- und bettag definitiv zu gestelzt war? ich bin mir nicht sicher, denn die bedeutung des gedenktages ist mächtig in den hintergrund gerückt. die schlagzeilen von heute gelten den anstehenden bundesratswahlen, dem amokgelaufenen rentner und der pannen im internet. alles medienaktualitäten von heute. vom versuch, zwischen christen und muslimen, die einander so wenig kennen, dass es schon beängstigend wirkt, ist nirgends die rede. auch nicht, dass die schweiz ohne bankgeheimnis nur so tut, als stecke sie nicht zutiefst in einer identitätskrise. und kaum ein thema, wo die schweiz im ausland vorbildlich wirkt, wird heute diskutiert.

so mache ich mich nach einem kurzem blog auf, hinaus, in den wunderbaren herbsttag. es geht auf den schafmattpass, im grenzgebiet zwischen solothurn und baselland. dort werde ich gebraucht, als grillmeister, nach dem feldgottesdienst am bettag, den die naturfreundInnen für die wandervögel veranstalten. beten werden ich nicht, singen vielleicht, den menschen ein wurst auf den weg geben schon, und sie vielleicht werde ich sie auch ein wenig zum inne halten bewegen.

stadtwanderer

ps:
ein schönes wortspiel gabs heute während der feldpredigt. wanderer seien nicht nur in bewegung, im wanderer steckt auch der andere. und so suchen, folgere ich, stadtwanderer auch andere in der stadt …

der heutige geburtstag der modernen schweizerischen eidgenossenschaft

abgestimmt hatte man eigentlich schon am 6. juni 1848. gemäss protokoll waren 15,5 kantone dafür, 6,5 dagegen. an stimmen zählte man 145’584 auf der ja- und 54’320 auf der nein-seite. doch erst am 12. september hielt die tagsatzung fest, die neuen bundesverfassung sei angenommen. seither gilt dieser tag als gründungstag der zeitgenössischen schweizerischen eidgenossenschaft.

P1010765dr. jonas furrer, der erste bundespräsident der schweizerischen eidgenossenschaft 1848, erinnerungsstatue in seiner geburtsstadt winterthur

das vergessen

von einer geburtstagsfeier ist heute allerdings nichts zu spüren. gut, die heutige “sternstunde geschichte” behandelte wenigstens das thema der nationalen souveränität und der internationalen einbindung der schweiz als staat und volkswirtschaft. kein wort verlor indessen bundespräsidentin doris leuthard heute zum thema, und auf der website des bundesrates findet man ebenso wenig dazu. funkstille, wie schon in den vorjahren!

vielleicht ist es die scham über die art, wie die erste volksabstimmung, mit der die schweizerische eidgenossenschaft zustande gekommen war. bis heute weiss man nicht, wie viele stimmberechtigte es damals gab. man kennt auch die beteiligung nicht. einzig, dass 199’904 gültige stimmen registriert wurden, ist belegt. doch zählte man nicht einmal in allen kantonen gleich. in luzern addierte man die abwesenden zu den befürwortern, ganz nach dem motto, wenn man schon nein sagen durfte und es nicht tat, kam das einem ja gleich. krasser noch war die entscheidung im kanton freiburg. der mehrheitlich liberale grosse rat fürchtete das konservative nein des volkes, sodass er entscheid, die neue verfassung auch ohne volksabstimmung gutzuheissen.

das erinnern
hintergrund dafür war der sonderbundeskrieg von 1847 gewesen. zur verteidigung der föderalistischen eigenheiten souveräner kantone gegen die zentralistische vereinheitlichung zur nation schweiz hatten sich die mehrheitlich katholischen kantone zur wehr gesetzt. nach zwei schlachten der liberalen freischärler gab man den plan auf, in luzern mittels putsch ein liberales regime zu installieren. dafür schlossen sich die kantone luzern, schwyz, uri, nid- und obwalden, fribourg und valais zu einem geheim gehaltenen schützbündnis, dem sonderbund, zusammen. als dies 1846 bekannt wurde, kam es zu proteststürmen in den liberalen kantonen. die stimmung radikalisierte sich. kantone wie st. gallen kippten auf ihre seite, sodass man die nötige mehrheit hatte, den sonderbund per tagsatzungsentscheid aufzulösen.

der luzerner konstantin siegwart-müller appelierte nun ans ausland, insbesondere an die adresse österreichs. im innern machte er vorschläge, die kantonsgrenzen neu zu ordnen: so sollten das berner oberland und das simmental obwalden und resp. dem wallis, die katholischen bezirke des aargaus luzern angegliedert und glarus zwischen schwyz und uri aufgeteilt werden. zudem war ein eigener kanton pruntrut vorgesehen. damit war die konfessionalisierung des konfliktes komplett.

die tagsatzung ordnete darauf die kanton luzern, schwyz, fribourg und valais an, ihre jesuiten, sichtbare aushängeschilder der katholischen, auszuweisen. nach erfolglosen verhandlungen intervenierte sie unter dem genfer general henri dufour in luzern und fribourg militärisch. nach gut 3 wochen bürgerkrieg hatten sie noch vor weihnachten 1947 gesiegt.

im revolutionsjahr 1848 machte sich ein ausschuss der tagsatzung daran, auf den liberalen und radikalen kantonsverfassungen der regenerierten kantone eine bundesverfassung auszuarbeiten. das reformwerk wurde in kürzester zeit fertiggestellt und zur entscheidung vorgelegt, um eine grundlage für einen bundesstaat auf parlamentarischer ebene gründen zu können. anders 1798 war es diesmal keine ausländische macht, die eingegriffen und eine verfassung diktiert hatte. doch handelte man auch diesmal revolutionär: genauso wie der bundesvertrag von 1815 den aufgelösten sondernbund nicht zugelassen hätte, weil er sich gegen andere kantone wendete, hätte der bundesvertrag nur einstimmig aufgelöst werden dürfen.

der krieg und der sieg der liberalen und radikalen hatte dies alles obsolet gemacht. mit der volksabstimmung aber sicherte mobilisierte man die kraft der bürgerschaft und sicherter sich mit ihr auch die legitimation, den bund auf einer neue verfassung aufbauen zu können. der bundesvertrag von 1815, den der wiener kongress verordnet, aber auch garantiert und den die tagsatzung unter einem wechselnden vorsitz zu vollziehen hatte, endet mit der feststellung des abstimmungsergebnisses über die bundesverfassung am 12. september 1848. die unregelmässigkeiten der abstimmung in luzern und fribourg übersah man genauso grosszügig wie die opposition der sonderbundskantone, verstärkt durch ablehnungen der verfassung in appenzell ausserrhoden, zug und tessin. es waren eben revolutionäre zeiten.

aus dieser schweizerischen revolution gingen fünf zentrale institutionen des neuen bundesstaates hervor: die stände, das volk, die bundesversammlung, der bundesrat und das bundesgericht. der nationalrat repräsentierte das volk, und der ständerat machte das für die kantone. und: der austritt aus der schweizerischen eidgenossenschaft war nicht mehr möglich!

die historische würdigung
die historikerInnen würdigen den schritt von 1848 als mutigen fortschritt, der sich neu an der amerikanischen bundesverfassung mit den zwei parlamentskammern ausrichtete. einen eigentlichen präsidenten wählte man indessen nicht. abgestimmt wurde in der bundesversammlung einzeln über sieben mitglieder des bundesrates, die dann, für ein jahr, einen präsidenten aus ihrer mitte bestellten. zum sitz der bundesbehörden wurde bern erklärt. politisch wurde man keine nation wie frankreich, verabschiedete man sich aber auch von den souveränen kantonen nach österreichischem geheiss. über krieg und frieden entschied nun der bund, ebenso über staatsverträge und streitigkeiten im innern. wirtschaftlich orientierte man sich am gemeinsamen raum, und mit dem bundesgericht sollten die rechtshändel letztinstanzlich einheitlich beurteilten werden.

geboren war die schweizerische eidgenossenschaft als bundesrepublik, ohne dass sie diese bezeichnung je angenommen hätte. denn die orientierung an staatsrechtlichen begriffen war nicht das wichtigste, was es jetzt brauchte. vielmehr stand die konsolidierung des bundesstaates nach aussen und innen im vordergrund, denn der revolutionäre funke, der 1848 in halb europa ausgebrochen war, erschloss angesichts der konservativen reaktion der monarchen rasch, sodass die schweiz der einzige staat ist, der von dauer aus ihr hervor gegangen ist.

stadtwanderer

krise der demokratie – kraft der demokratie

martin schaffner, emeritierter professor für geschichte an der universität basel, stellte seine eröffnungsrede zur heutigen tagung “wege zur direkten demokratie in den schweizerischen kantonen” unter das generalthema der “krise der demokratie” – und verkürzte damit die sache gerade als historiker.

843c13b33bangeregt wurde schaffner durch den europarat, der unter der leitung des schweizer politikers andreas gross jüngst ausgiebig über das gleiche thema debattiert hat. drei anlässe hätten den rat der euorpäischer völker alarmiert: die entpolitisierung der bürgerInnen, die sich nicht mehr beteiligen wollten, die demokratiepolitisch ambivalente rolle der medien und die institutionellen defizite der demokratie im zeitalter der globalisierung.

auch in der schweiz gibt es zwischenzeitlich eine kritische demokratiediskussion, konstatierte schaffner. so werde die intransparenz der parteienfinanzierung beklagt. partizipationsrechte blieben weitgehend an das bürgerrecht gebunden, und die relativierung des nationalstaates höhle die souveränität auch einer direkten demokratie aus.

das war eine harte einleitung – nicht zuletzt für einen historiker! denn die globale demokratiegeschichte verweist zurecht auf die spektakuläre ausdehnung der demokratie als regierungsform seit 1848. in mehreren schüben entwickelte sie sich zum weltweit verbreitetstes politischen system. sicher, zwischen den schüben gab es immer wieder krisen in der quantiativen ausbreitung, genauso wie in der qualitativen vertiefung der demokratie. und höchstwahrscheinlich befinden wir uns historisch gesehen in einer solche phase.

doch ist dies kein grund, sich auf den aufstieg und niedergang der demokratie einzustellen. eher zutreffend ist es, sich eine treppe vorzustellen, auf der phasen des aufstiegs solchen der stagnation folgen. damit wären wir heute auf einem solche plateau.

mir jedenfalls gefällt diese rhetorik besser als die des niedergangs. zwar sagt der plitikwissenschafter in mir, dass fast alle genannten symptome nicht falsch sind, doch treffen sie von mir aus den kern nicht. typisch dafür war heute, dass keiner der referentInnen in den panels auf die diagnose von schaffner wirklich einsteigen mochte. historikerInnen, die sich mit der demokratie beschäftigen, gehen generell davon aus, dass sich diese staatsform in der moderne, welche die amerikanische und französischen revolutionen begründete, ausbreitete und ausbreiten wird. vielleicht hat sie sogar vormoderne ursprünge, und ist sie unzerstörbar, denn sie bewältigt krisen durch selbstbeobachtung, und echte fehlentwicklungen korrigiert sie mit ihrer eigenen kraft letztlich seber. das ist ihre stärke.

stadtwanderer

was für ein asterix!?

den schlauen asterix kennt man. den starken obelix auch, und idefix, den hund fürs übersinnliche, muss man einfach gerne haben. doch wo für stehen sie eigentlich: für unsere vorstellung der geschichte? für das leben im kulturellen kunterbunt der gallier? oder für frankreich als nation?

die geschichten der unschlagbaren gallier hat man zwischenzeitlich intus. man geht auf reise, irgendwo auf dem kontinent, um im fremden das eigene zu entdecken, und findet sich so nicht nur in der vergangenheit, sondern auch in der gegenwart wieder.

der film
in “asterix bei den olympischen spielen” geht es von der bretagne nach griechenland. alafolix, ein hübscher jüngling aus gallien, will die olympischen spiele gewinnen, um die bezaubernde prinzessin irina aus athen heiraten zu können. asterix und obelix, dem vorhaben gegenüber anfänglich skeptisch, begleiten ihn, unterstützt von miraculix, damit das vorhaben nicht im desaster endet. mit dem abgeschlagenen brutus, sohn von gaius iulius caesar, haben sie indessen nicht gerechnet. denn auch er will sieger der olympioniken werden. auch ihn treibt der gedanke, die venus der griechen zu bekommen. doch sieht er das alles nur als vorspiel für sein lebensziel, dier machtergreifung in rom, gegen seinen vater.

in diesem wettlauf um sieg und ruhm schenken sich die römer und gallier nichts – genauso wenig wie die helden der olympischen spiele der gegenwart. tolle sportliche leistungen werden geboten, doch ist auch doping mit im spiel, und korruption beherrscht die schiedsgerichte. als das speerwerfen an die griechen geht, setzt brutus aufs ganze. vom ringen bis zum rennen – überall gibt es nun gekaufte siege für die römer. das jedoch ist die stunde von des cleveren sternchens aus gallien, das, vom irritierten publikum unterstützt, die schiebungen vor caesar beklagt, sodass dieser einen ultimativen vergleich ausrufen muss. das legendäre wagenrennen im oval des stadions soll alles entscheiden, sodass hochgerüstet wird, mit technik, taktik und dem berühmten trank der druiden. den nutzen diesmal aber nicht die gallier, sondern die römer, die jedoch nicht merken, dass man ihnen so eine fall stellt. denn der siegreiche brutus wird am ende disqualifiziert, abgeführt und in eine galeere verfrachtet, während der zweite alafolix zu seiner erhofften ehre kommt und irina heiratet, derweil idefix mit ihrem pudel kuschelt, und obelix mit asterix von der nächsten wildschweinjagd träumt.

der streifen, vor gut einem jahr erstmals in den kinos, zählt, gemäss prospekten, zu den aufwendigsten produktionen der europäischen filmgeschichte. in der tat erlebt man die welt der antiken metropolen hautnah, sieht man sich riesigen römischen soldatenheeren gegenüber, und das wagenrennen gleicht fast schon einem grand-prix der formel 1. dafür sorgen promis der gegenwart wie michael schumacher, zinédine zidane und adriana karembeu in nebenrollen, während clovis cornillac (astérix), gérard depardieu (obélix), alain delon (jules caesar), benoit poelvoorde (brutus), stéphane rousseau (alafolix) und vanessa hessler (irina) die hauptfiguren spielen. asterix-vater uderzo wurde beim kinostart vorgeworfen, eine seiner populärsten geschichten für einen lächerlichen action film freigegeben zu haben. in der tat, einige der szenen wirken etwas kitischig, doch das stört die hauptaussage des filmes nicht. denn mit “asterix bei den olympischen spielen” wird der ganze mythos der ruhmreichen gallier gegen alle andern aufs trefflichste zelebriert.

der mythos
entstanden ist der mythos, wie die nzz von gestern erinnert, 1858 im second empire von napoléon iii., als seine archäologen den ort entdeckten, wo die gallier 52 vor christus von caesar definitiv besiegt wurden. “alesia” war den lesern der “commentarii de bello gallico” stets ein begriff gewesen, doch war die stelle der schlacht ums ganze vom siegreichen statthalter roms nur ungenau beschrieben worden. luftaufnahmen der 1990er jahren machten klar, dass es sich tatsächlich um alise-sainte-reine handeln muss, genauso, wie seinerzeit vom grabenden kaiser vermutet.

vercingetorix ergab sich seinerzeit angesichts seiner verhungernden gefolgsleute auf dem mont auxois und wurde als kriegsgefangener in rom erdrosselt. napoléon iii. liessen ihm zu ehren eine überlebensgrosse statue, ja den galliern insgesamt errichten. seither kommen weder populärhistoriker noch franzosen an ihren ersten gemeinsamen helden nicht vorbei, – vergleichbar einem karl martell, charlemagne, philipp ii. auguste, jeanne d’arc, louis xiv. und napoléon bonaparte.

die national ausgerichtete geschichtserzählung zieht eine direkt linie von der vergangenheit in die gegenwart, um die zukunft historisch zu sichern. in frankreich hing sie stark mit der rivalität von frankreich und deutschland des 19. jahrhunderts zusammen, die sich zu kriegsförderndenen gemeinschaftsbildung mit herleitungen von den galliern resp. germanen zu legitimieren suchten. dem hat der archäologe und historiker jean-louis brunaux in seinem buch “Nos ancêtres, les Gaulois” entgegnet, es handle sich um sagenhaften geschichte, sich in erzählungen, comics und filmen eingespielt habe, die historische realität aber übel verkürze.

die aktualität
das alles spiegelt sich, wie die aktualität zeigt, bis heute im verhältnis von sport und politik. zidanes weltmeistertruppe stand einmal symbolisch für die erfolge der integrationspolitik im migrationsland frankreich. seit den blamagen der blauen auf dem fussballfeld, dramatisiert durch einen der migranten, der gerne mit den schönen des süden flirtet und sich ebenso wohl in der wärme des staatspräsidenten sonnt, wenn er nicht gerade ausweisungen der romas anordnet, inszeniert man lieber wieder projektionen der reinen und tapfern gallier, die jede einmischung durch fremde zu bekämpfen wissen, und dabei unschlagbar sind.

stadtwanderer

entstand die schweiz 1291? – ein provokativer vortrag

das thema ist ernst: ist die schweiz 1291 gegründet worden? darüber werde ich ende september in thun sprechen. denn das glaubte man 1891 ganz fest und feierte den geburtstag der schweiz ausgiebig. 100 jahre später liess sich das festen nicht einfach wiederholen. nicht zu unrecht, sage ich. denn 1791 gab es gar kein gedenken an einen solche gründungstag, genauso wenig wie 1691, 1591, 1491 und 1391. was also ist sache?

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geschichte hat einen doppelten wortsinn, wie golo mann immer wieder betont hatte: es ist das geschehene in früheren zeiten und die erzählung darüber in der jetzt-zeit. geschichte ist, woran man sich später erinnert, könnte man das auch nennen. darin spiegelt sich eben nicht nur die vergangenheit, sondern auch die gegenwart.

unsere erinnerung an “1291” entstand 1891 aufgrund des wunsches der nationalen einheit. bern feierte die legendäre stadtgründung von 1191; erstmals fanden sich die alten patriziergeschlechter und die neuen bürgerfamilien zu einem festakt zusammen. die angst vor der aufkommenden arbeiterschaft liess die alten gegensätze in den hintergrund treten.

der bund nahm das zum willkommenen anlass, ebenfalls ein versöhnungsfest zu veranstalten. freisinnige und konservative, die sich im sonderbundskrieg von 1847 noch mit waffen gegenüber standen, beendeten ihren politischen dauerzwist: der erste kk-vertreter wurde in den bundesrat aufgenommen, und die volksinitiative zur partialrevision der bundesverfassung wurde auf druck der konservativen zugelassen.

zudem wurden die unterschiedlichen gedächtniskulturen wurden zusammengelegt: der fortschrittgedanke der freisinnigen mit ihrem nationalen raumdenken verband sich mit der mythologe der innerschweiz, welche die unabhängigkeit der kleinen räume von allen herrschaften seit den habsburger vögten in der tell-figur bewahrt hatte. ferdinand holder hat dieser these mit seinem tellbild den treffenden ausdruck gegeben.

allerdings wurde der geburtstag der schweiz dazu von 1307 auf 1291 verlegt. historiker wilhelm öchsli begründete die verschiebung in einem eigens für den bundesrat geschriebenen geschichtswerk, indem er der älter auffassung des humanisten ägidius tschudi widersprach, der die gründung der schweiz auf 1307 durch den bund von brunnen datiert hatte. 1891 führte das zu einem tollen fest, 1907 indessen zu einem beschämenden besuch einer kleinen bundesratsdelegation an der kleinstfeier zum 600. geburtstag der schweiz.

der (de)konstruktivismus, der im gefolge von michel foucault seinen platz in der geschichtswissenschaft erobert hat, fragt golo mann radikalisierend nicht mehr, was war, sondern warum man sich wann an was erinnert. das ist eine ideologiekritische position, welche die produktionsbedingungen von geschichte in der jeweiligen gegenwart reflektiert. ich mag das, denn es hindert einen daran, geschichte für absolut zu setzen. allerdings bin ich kein ganz grosser anhänger der daraus auch abgeleiteten beliebigkeit von geschichten, wie das die postmoderne immer wieder auch propagiert.

mein vortrag in thun, soll zeigen, wie schweizer geschichte im bewusstsein darüber, dass sie immer auch schweizer gegenwart ist, aussehen könnte. hier nur die wichtigsten stichworte dazu: die politische gleichheit von mann und frau ist in der schweizer demokratie 1971 eingeführt worden. die direkte demorkatie ist von 1874, der föderalistische bundesstaat mit bund und kantonen datiert von 1848. moderne ideen begründeten 1798 die helvetische republik, die sich von vormaligen ancien regime so klar unterschied. 1648 wurde die eidgenossenschaft reichsunabhängig, und 1499 erkämpften sich die schlachtenbummler der verschiedenen orte ihren autonomen status im kaiserreich. davor war man rund 100 jahre kräftig (zusammen) gewachsen, denn war im mittelalter war, kann kaum als schweiz bezeichnet werden.

wer gar nicht an eine gründung der schweiz glaubt, der sieht sie entstehen und an ihren konflikten wachsen, wie dem waldsterben 1984, dem generalstreik 1918, der liberal-radikalen bewegungen nach 1830, der reformation von 1528 und dem investiturstreit 1076. denn die schweiz ist eine produktive verarbeitung von regionalismen, von religionsspaltungen, von ideologien, von sozialen auseinandersetzungen und von ökologiedebatten.

ich mache es klar: mit meinem vortrag zum fulehung will ich vor dem mittelalterverein thun die these begründen, dass die schweiz nie wirklich gegründet worden ist, sondern aus den gegengebenheiten heraus entstand. sie ist keine digitalfoto, die sekundengenau datiert werden kann, sondern ein farbbild, wie man es früher im wasserbad entwickelt hat. und: immer mehr fällt das licht der gegenwart in die dunkelkammer der vergangenheit, ohne dass es immer gleich scheinen würde. deshalb ändert sich auch die geschichte der schweiz von zeit zu zeit.

wohlan!

stadtwanderer

ps:
eine übersicht über all meinen vorträge bis ende jahr gibt es hier!