die wiederentdeckung des römischen reiches in der gegenwart

die regentage in den schwedischen wälder haben mich ein spannendes geschichtsbuch zu europa richtig gehend aufsaugen lassen, auch wenn sich mit der lektüre schon bald ein nachgeschmack ankündigte.

25708208nam ende des buches gibt der deutsche autor und verleger edmund jacoby seiner hoffnungen in knappster form ausdruck: europa habe mit seiner idee des nationalstaates zwar die ganze welt geprägt, sich selber aber weiter entwickelt. sollte es der eu gelingen, als erste union eine postnational gemeinschaft zu begründen, könnte europa zur weltmacht des 21. jahrhunderts werden.

das vorbildlich knapp gehaltene geschichtsbuch widmet sich der aufgabe, das römische reich in der gegenwart neu zu entdecken. europa sei bis zum ende des mittelalters mit der christlichen welt identisch gewesen, die sich von portugal bis russland erstreckt habe, und mit dem christentum als staatsreligion eine universalistische kultur begründet habe, wenn auch in zwei varianten: jener im osten, mit konstantinopel im zentrum, geführt vom kaiser, gestützt von einer orthodoxen kirche, und jener im westen, mit dem papst im mittelpunkte, der sich abwechslungsweise mit einem der rivalisierenden germanenstämme verband und so seine eigene macht mehrte.

etwas unverständlich verfolgt das buch im streifzug durch antike und mittelalter jedoch vor allem die westliche variante der europäischen entwicklung: die teilung in eine geistliche und eine weltliche späre im hochmittelalter, der aufstieg des verwaltungsstaates im spätmittelalter, die kirchenspaltung in der reformation, der siegeszug der wissenschaften und die aufklärung mit ihrer traditionskritik in der frühen neuzeit. sie sind zwar nötig, um die zentrale des buches zu begründen, die lautet: mit der französischen revolution werden gleichzeitig der nationalstaat zum vorbild erhoben wie auch universalistische werte jenseits der religionen und ihrer reiche postuliert. dieser erfolgsstory steht die misserfolgsgeschichte gegenüber, die, im nationalismus begründet, zu den katastrophen des 20. jahrhunderts führte, aus denen zuerst die usa und die sowjetunion als weltmächte entstanden, und sich heute eine mehr multipolar strukturierte welt ableitet, in der sich europa neu platzieren sollte.

der deutsche philosoph und historiker edmund jacoby erzählt gut, schreibt flüssig, und verbindet geschichten elegant zu seinem weltbild. sein buch überzeugt durch knappe kapitel und noch kürzere erklärungen zentrale begriffe. gerade deshalb wirkt es materialreich und konzis zugleich. das macht die lektüre lohnend und kurzweilig in einem, – selbst wenn man es nicht, wie das der autor macht, als lehrbuch für die gymnasien versteht.

dennoch kommt man nicht um den eindruck herum, eine zu kurze geschichte europa vorgeführt zu erhalten, die zu vieles ausblendet: die vorrömischen wurzeln in der weit verzweigten keltischen welt, die sich die griechischen städte handelnd und philosophierend erschlossen, die zentrierung europas weder in rom, noch in paris, london oder berlin, sondern im kaisertum in byzanz, im christentum, das keine kreuzzüge brauchte, um sich andere kulturen zu erschliessen, und dem osmanischen reich, das wie viele andere reiche auch verschwand, auf europäischem boden aber bleibend islamisch geprägte gesellschaften entstehen liess. als dies kommt in der abendländisch-christlich geprägten geschichtsbuch nur am rande vor.

wahrscheinlich müsste man, füge ich nach einigen tagen der interessierten lektüre bei, die europäische renaissancen des römischen erbes radikaler wieder entdecken, als dies in diesem buch geschieht, um zu jener kulturkritischen position zu gelangen, mit der europa als wirklich postnationale gemeinschaft begründet werden könnte, die gleichzeitig die errungenschaften der europäischen moderne garantieren, wie auch ihre nationalstaatliche begrenzung überwinden würde.

stadtwanderer

Edmund Jacoby: Kurze Geschichte Europas, Berlin 2009

sternstunde geschichte

sie schreiben geschichte. jeder auf seinem feld und auf seine art!

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christian gross (rechts) muss man niemandem vorstellen. das gesicht des basler fussballtrainers ist allen bekannt. am rheinknie ruhen viele hoffnungen auf ihm. denn er soll den “fcb” zur schweizer meisterschaft führen und mit einer sternstunde fussball geschichte schreiben.

geschichte schreibt auch thomas maissen (links), historiker mit schwerpunkt frühe neuzeit. der schweizer professor in heidelberg hat seine sporen an der uni basel abverdient, und seine kinder im teeni-alter schwärmen jetzt noch vom legendären club. so muss ein foto her, mit beiden geschichtsschreibern.

stattgefunden hat das alles in basels kunsthalle. geladen hatte der historiker roger de weck (nicht auf dem bild), gesprächsleiter der tv-sendung “sternstunde philosophie“. de weck kennt gross seit seiner schulzeit und vermittelte den schnapschuss, den der stadtwanderer (hinter der kamera), ebenfalls historiker, bewerkstelligte.

zusammengekommen waren die drei historiker mit den drei macherinnen der tv-sternstunden, nathalie wappler, nicola steiner und monica cantieni, um vier spezialausgaben einer neuen sendereihe zu konzipieren. “sternstunde geschichte” wird das ganze heissen. an vier sonntagen im diesem herbst werden sie ausgestrahlt. zur sprache kommen im hoffentlich animierten fachgespräch unter geschichtsschreiber- und -erzählerInnen grundfragen der schweizer geschichte. konkret behandelt werden “die alpen”, “ein- und auswanderungen”, die “tugenden der schweiz” und der umgang schweiz mit “konflikt und konkordanz”.

die produktion der sendungen wird in einer hoffentlich tollen august-woche sein. je eine diskussionsrunde in der calvinstadt genf, auf dem südländischen monte verita, im bündner kloster müstair und in an der limmat in zürich werden so themen der neuen dauerausstellung im schweizer landesmuseum aufnehmen, – und ins fernsehpublikum hinaustragen.

ebenso gross herauskommen wie der basler fussballtrainer, ja schweizermeister der geschichtsvermittlung will man mit der neuen serie “sternstunde geschichte” werden. man kann gespannt sein!

stadtwanderer

das stadtwandern ging leider vergessen

die schweizer wanderwege werden 75 jahre alt. ihre macher feiern das mit einer grossangelegten studie zum wandern in der schweiz. leider ging dabei das stadtwandern vergessen …
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1934 als möglichkeit der beschäftigung für stellenlose lehrer geschaffen, hat die organisation schweizer wanderwege die basis für einen erfolgreichen breitensport gelegt.

markus lamprecht, adrian fischer und hanspeter stamm sind soziologen in zürich. im auftrag der schweizer wanderwege und des bundesamtes für verkehr haben sie die schweizer wanderbewegung der gegenwart porträtiert.

dabei haben sie sich vor allem den massenphänomenen angenommen. denn wandern gehört in der schweiz zu den beliebtesten freizeit- und sportaktivitäten. rund ein drittel der wohnbevölkerung wandert. und: wer wandert, macht das im schnitt 20 mal im jahr, im mittel zu 3,5 stunden pro wanderung. ohne wandern gäbe es in der schweiz 170’000 inaktive mehr.

gemäss studie boomt vor allem das bergwandern. bewegung, kombiniert mit naturerlebnissen sind die zentralen wandermotive. störend sind vor motorfahrzeuglenker und abfälle. an kühe hat man sich gewöhnt.

der soziale wandel ging an der wanderbewegung nicht spurlos vorbei. vereinswandern ist out, gruppenwandern weitgehend auch. die grossen mehrheit ist individualistischer, geht allein, mit der familie oder freunden wandern.

spaziern gehen darf man kaum mehr sagen. denn die natürliche bewegungsart erlebt einen eigentlichen kommerzialisierungsschub. aus wandererInnen werden walkerInnen oder joggerInnen und bikerInnen. letzter sind von einer mehrheit noch akzeptiert, wenn sie die wanderwege benutzen.

karten, bücher, prospekte erleichtern einem die vorbereitung und umsetzung. persönliche tipps sind indessen mindestens so wichtig, für den entscheid, eine wanderung zu machen.

genau an dieser stelle wäre es wohl sinnvoll gewesen, auch den kulturellen bedürfnissen der wandererInnen nachzugehen. leider ist das in der studie “schweizer wanderwege” der zürcher soziologen ganz vergessen gegangen.

es mag sein, dass man das stadtwandern als nischenerscheinung (noch) negieren kann. intuitiv sage ich, auch dieser zweig boomt. denn nebst gesundheit und natur interessiert auch die kultur beim wandern.

der wichtigste unterschied zwischen berg- und stadtwandern besteht darin, die zivilisation nicht in die natur zu tragen, sondern sich direkt zu erschliessen. denn im städtebau, in der architektur und in der gartenpflege äussert sich die materielle kultur des menschen, die rückschlüsse auf den sinn des lebens gestern, heute und vielleicht auch morgen zulässt.

stadtwanderer

ein mord zu hitlers geburtstag – und sein nachwirken

am 20. april 1942 sollte adolph hiltler seinen 53. geburtstag feiern. nur 6 tage später würde der führer nicht nur parteichef, reichskanzler und staatschef sein, sondern auch als oberster gerichtsherr über recht und unrecht sprechen. wahrlich, an diesen tagen strebte die diktatur im deutschen reich ihrem höhepunkt zu.

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carnaval in payerne, wo 1942 der mord an einem jüdischen viehhändler geschah, und gegen den heute der einheimische schriftsteller jacques chessex, der den fall aufnahm, gehetzt wurde.

das blieb selbst im schweizerischen payerne nicht ohne auswirkungen, denn am 16. april 1942 wird im waadtländischen provinzstädtcher arthur bloch ermordet. bloch, eine viehhändler aus bern jüdischen glaubens, wird nach dem markt in einen stall gelotst, wo ihm weitere tiere angeboten werden sollen. doch dazu kommt es nicht, denn bloch wird im stall umgehend niedergeschlagen, gevierteilt, und in milchkannen abgepackt im neuenburgersee versenkt.

der brutale mord wird bald geklärt. die mörder sind alles leute aus payerne, die meisten von ihnen gescheiterte existenzen. sie gehören zur lokalen organisation der frontisten. angeführt werden sie von philippe lugrin, einem abtrünnigen pfarrer. unterstützung bekommen die gruppe auch durch die deutsche gesandtschaft in bern. 1943 werden die mörder verurteilt. lange haftstrafen werden ausgesprochen, derweil der pfarrer unbehelligt bleibt und nach deutschland fliehen kann. eine verarbeitung der schandtat findet aber nicht statt.

nun hat sich jacques chessex, der wortgewaltigste unter den welschen schriftstellern der gegenwart, die geschichte aufgenommen, und daraus einen roman gemacht. das ist nicht ohne, denn chessex wurde in payerne geboren. als der mord geschah, war jacques 8 jahre alt. fernand ischi, einer der verurteilten mörder, war der nachbar der familie chessex. vater chessex hatte bei ihm autofahren gelernt.

das buch, erst wenige wochen alte, ist umgehend zum umstrittenen bestseller geworden. 40’000 exemplare sind bereits über den ladentisch gegangen. die mehrheit davon in frankreich, ein teil aber auch in payerne. der stadtpräsident von payerne hat umgehend in die debatte eingegriffen. die geschichte sei passiert, man wisse darum. doch heute wolle man ruhe haben. das gelte auch für den versuch von chessex, die geschichte wieder aufleben zu lassen.

der vorschlag des schriftstellers, eine strasse payerns nach arthur bloch zu benennen, hat der gemeinderat bereits abgelehnt. während dem diesjährigen carnaval, der fasnacht in payerne, hat das “comite du devoir de mémoire” in anspielung darauf alle plätze in der kleinstadt nach dem einheimischen schriftsteller benannt, und auf einem wagen im umzug wurde eine milchkanne mit der aufschrift chessex mitgeführt, bei der die beiden ss als “ss” runen geschrieben waren.

ist chessex nun ein nestbeschmutzer? wer das buch liesst, merkt, dass die anklage gar nicht im zentrum steht. vielmehr beschreibt der roman das leben in der schweiz während dem krieg. nicht verschwiegen werden die wirtschaftlich schwierigen umstände. die arbeitslosigkeit grassierte in payerne wie anderswo auch; sie bildete den nährboden für den frontismus in payerne. doch dann kommt chessex auf den punkt: der umgang damit, die aufweichung von recht und unrecht, ist es, was er anklagt. denn die radikale gruppe in payerne steigert das mass an provokation. zuerst machte sie mit schiessereien auf jüdische hausbesitzer aufmerksam – un blieb unbehelligt. sie fühlte sich bestätigt, als die untersuchungen hierzu verschleppt werden. bis man auf den unglaublichen gedanken kam, dem führer in berlin zu seinem geburts einen mord an einem jüdischen viehhändler zu schenken.

keine zwei wochen später sprach eben dieser führer von höchster warte aus über recht und unrecht in seinem reich. vorübergehend.

stadtwanderer

jacques chessex: un juif pour l’exemple. paris 2009.

berns burgergemeinde muss bestätigen, was man über ihren früheren präsidenten schrieb

die burgergemeinde beschäftigte sich im winter 2008/9 mit nazifreundlichen verbindungen wichtiger mitglieder in den 30er und 40er jahren. sie relativiert zwar die aussagen der historikerin katrin rieder, doch kann sie ihre kernaussagen nicht widerlegen.

2862288444_ee925bf5ebder stolz der burgergemeinde, der sitz des präsidenten, wo auch schon frühere frontisten unwidersprochen residierten.

man erinnert sich: im august 2008 löste die berner historikerin katrin rieder mit der publikation ihrer dissertation einen heftigen wirbel in berns burgergemeinde aus. sie hielt in buchform fest, georges thormann, ein früherer präsident der bernburger, sei ohne gegenstimme in sein amt gewählt worden, obwohl er in den 30er jahren gauleiter der nationalen front bern war.

“Vertreter der Burgergemeinde der Stadt Bern haben sich in den dreissiger Jahren verschiedentlich antisemitisch-rassistische, eugenische und fremdenfeindliche Argumentationsweisen zu eigen gemacht”, fasst die sda die heute veröffentichten erkenntnisse aus dem neuen quellenband der burgergemeinde zusammen.

die unterstützung rechtskonservativer organisationen durch die burgergemeinde, insbesondere des schweizerischen vaterländischen verbands, lege sympathien für deren zielsetzungen nahe, zumal man das restliche politische spektrum nicht gefördert habe. das wird auch von der burgergemeinde akzeptiert. diese unterstützung, hält man heute relativierend fest, sei aber nicht unumstritten gewesen.

bezogen auf die nazifreundlicherkeit einzelner ihrer mitglieder beschwichtigt die burgergemeinde weiter, obwohl sie zugibt, die datenlage zu ihrem report sei unzureichend. die grosse zahl der burger sei den nationalsozialisten in der schweiz fern gestanden, meint sie, einzelne nicht. man dürfe die menschenfeindlichen argumentationsmuster jedoch nicht aus heutiger sicht sehen; vielmehr müsse man sie im zeitgenössische umfeld verstehen, denn städtische, kantonale und eidgenössische behörden hätten in ähnlichen situationen ähnlich argumentiert.

die botschaft der burgergemeinde entspricht durchaus der selbstbewussten, grundkonservativen haltung der berner elite. zuerst schweigt man alles tot, wie wenn nichts gewesen wäre; dann gibt man, unter druck, zu, was bekannt geworden ist, relativiert in eigener sache und beschuldigt andere nicht besser gewesen zu sein.

katrin rieders buch ist damit nicht wiederlegt worden. wenn eine differenz in der wertung bleibt, hat das mit der innen- und aussensicht zu tun, und der generation! rieders werk reflektiert das bewusstsein der heuigen geschichtsschreiberInnen zu fragen der schweiz und des dritten reiches resp. zu rassistischen tendenzen in den rechtskonservativen ideologie der schweiz, während der der bericht der burgergemeinde in dem der vorherigen generationen hierzu verharrt. man kann das nur so zusammenfassen: hätten die bernburger von beginn weg sich selber der frage angenommen, wären sie von jedem späteren verdacht befreit gewesen.

doch so bleibt: gäbe es provozierende geschichtsbücher wie das von katrin rieder nicht, gäbe es es auch keine selbstdarstellung der burgergemeinde zu diesem thema. obwohl es das problem selber bestanden hat.

stadtwanderer

berns burgergemeinde (in der fremddarstellung)

die stellung, das wirken und die herrschaft der berner burgergemeinde sind umstritten. deshalb unterscheiden sich die selbst- und fremddarstellungen erheblich. heute: die aussensicht, die katrin rieder in ihrer vieldiskutierten doktorarbeit skizziert hat.

700 seiten stark ist die dissertation der historikerin katrin rieder. sie in 70 blogzeilen abzuhandeln, ist nicht einfach, aber allemal ein versuch wert.

drei zugänge zum thema verschafft einem die jüngst publizierte doktorarbeit. die institutionengeschichte, die geschichte des netzwerks der burger und die geschichte des ungebrochenen konservatismus.

das soziale und symbolische kapitel der bernburger
für die kulturwissenschafterin rieder sind das soziale und symbolische kapital der burger entscheidend. sie stellen in bern ein weitreichendes netzwerk dar. die zugehörigkeit verspricht vorteile für berufsleute wie juristen, architekten oder denkmalpfleger. denn die burgergemeinde besitzt einen drittel des städtischen bodens, vergibt bauaufträge, bestimmt bei der stadtentwicklung mit und definiert, was schützenswert ist und nicht.

die anerkennung durch das netzwerk kann auch künstlerInnen und kulturschaffenden vorteile bringen. der kulturpreis ist für hiesige verhältnisse ausgesprochen gut dotiert; an zahlreichen ausstellungen, veranstaltungen und publikationen zur berner geschichte beteiligen sich die burger finanziell.

der eintritt ins netzwerk ist allerdings nicht gratis. bürgerliches leben, guter leumund und ein ansehnliche einkaufssumme sind die voraussetzungen, wenn man nicht durch heirat bernburgerIn wird. doch die mitgliedschaft in der burgergemeinde alleine bringt noch nicht das erwünschte netzwerk. massgeblich ist der zugang zu informellen gruppen wie die grand société, die bogenschützengesellschaft oder den johanniterorden. denn da trifft sich der kern der bernburger, der in gesellschaft und wirtschaft in position ist.

überhaupt sind nach rieder die 17000 burgerInnen gar nicht das entscheidende. sie profitieren von den privilegien bei der altersvorsorge, auch ohne zum engeren kreis der einflussreichen zu gehören. gesteuert wird die burgergemeinde, schreibt die historikerin, nicht durch die formaldemokratischen strukturen, sondern durch die informellen, vordemokratisch geprägten.

damit ist man nahtlos beim symbolischen kapital, das die bernburger mit ihren traditionsbewusstsein pflegen. es ist das überleben des konservatismus trotz der moderne. dass burgergemeinden auch unter demokratischen verhältnissen entstehen konnten und sich auch halten, interpretiert die historikerin rieder als unvollständigen sieg der liberalen, demokratischen und sozialen kräfte im 19. jahrhundert. deshalb habe sich das selbstverständnis der gnädigen herren bis in die gegenwart retten können: das bewusstsein, von besonderer herkunft zu sein und dies mit ausgeklügelten stammbäumen zu beweisen. das gestalten von familienbanden und heiratsverhalten, um in zentrale positionen zu gelangen. und natürlich die pflege der sprache, des unverwechselbaren sozioloektes der bernburger.

adeliges selbstverständnis ist nach rieder nicht parteigebunden, kennt auch verschiedene weltanschauliche richtungen. sie beinhalten rechtskonservative, reaktionäre und autoritäre elemente, deren gemeinsamkeiten die innere ablehnung von demokratie, gleichheit und freiheit sind. sie bauen auf der vorstellung eines starken staat auf, das hierarchisch-ungleiche im leben betont und über dissidente, die gefährlich werden können mit sozialkontrolle reagiert.

die öffentliche reaktion bei der publikation
die dissertation von katrin rieder hat bei ihrer veröffentlichung in bern hohe wellen geschlagen. tagelage beschäftigten sich die berner medien mit dem buch, und die burgergemeinde ging in die gegenoffensive über.

umstritten waren vor allem drei folgerungen, die sich aus der herleitung ergaben:

. die nähe gewisser exponenten der konservativen bernburger zu den antidemokratischen fronten der 30er jahre, die selbst dann kein thema waren, als die gleichen personen später ins präsidium der burgergemeinde aufstiegen;
. der einfluss auf die stadtentwicklung, bei der, wie die veränderungen im vilettenquartier zeigt, nicht die bewahrung des äusseren wichtig war, sondern die realisierung der interessen als grundeigentümer;
. und der ausscheidungsvertrag zwischen bürger- und burgergemeinde, der für den reichtum der burgergemeinde wesentlich ist.

das alles führte die historikerin dazu, am ende ihres die auflösung der burgergemeinde zu postulieren. dass sie das zu beginn des wahlkampfes in der stadt machte, wurde automatisch als politische wertung gelesen, und füllte die leserbriefspalten in ungewohnt heftiger art und weise.

ganz unabhängig davon lohnt es sich aber, die generellen these zur herrschaftsform des konservativen netzwerkes, das bin die gegenwart existiert, zu diskutieren. auch auf dem

stadtwanderer

katrin rieder: netzwerke des konservatismus. berner burgergemeinde und patriziat im 19. und 20. jahrhundert, zürich 2008.