mein baum. mein ärger. meine analyse.

im entscheidenden moment kannte ich ihn noch nicht. als ich seine bücher las, wurde mir klar, warum trotz vielen enttäuschungen meinen affinitäten zu ökologischen umstellungen bewahren werde. (m)eine kleine umweltgeschichte, erster teil.

buchs_agstandort meines baumes, bevor er dem autobahnzubringen weichen musste.

ronald inglehart ist ein lebender amerikanischer sozialforscher. er wirkt als professor für politikwissenschaft an der university of michigan – einem eldorado für empirische forschung.

sein erstes bekanntes buch trägt den namen “the silent revolution”, 1977 auf englisch erschienen und in unzählige sprachen übersetzt. eine der zeitgenössischen ruhigen revolutionen ist für inglehard der wertwandel im übergang von industriellen zu postindustriellen gesellschaften. postuliert wurde, dass materialistische durch postmaterialistische werthaltungen abgelöst würden.

wenn in einer gesellschaft bedürfnisse nach versorgung und sicherheit gewährleistet seien, entwickelten die menschen neue ansprüche, las ich da: solche der anerkennung und der selbstverwirklichung.

prägend sei nicht, was man habe, sondern was man nicht habe. denn danach strebe man. das gelte vor allem für das, was man in der jugendzeit nicht gehabt habe. das präge das weltbild, die werthaltungen des individuum – ein leben lang. wenn es die werte eine ganzen altersgruppe bestimme, liessen die mangelgefühle in den formativen jahren eine neue generation entstehen.

bei mir war es, was ich nicht mehr hatte: meinen baum! auf den ich als junge unzählige male geklettert war. er stand neben dem friedhof bei dem wir in buchs, aargau, wohnten.

als man beschloss, einen zubringer zur neu gebauten autobahn zu erstellen, nahm man auf gar nichts rücksicht. weder auf den friedhof, noch auf meinen baum. dieser wurde mit motorengehäul gefällt, genauso wie die grabesruhe für immer verschwand.

ich war ausser mir, zuerst wütend, dann traurig. denn mit dem baum entsorgte man auch einen teil der jugenderinnerungen. mein versteck in der astgabel, meine heimat in einsamen momenten, mein abenteurplatz, wo sich die gleichaltrigen an schulfreien nachmittagen rauften.

ich war knapp zwanzig, als man für eine volksinitiative unterschriften sammelte. in meiner erinnerung hiess das begehren “demokratie im nationalstrassenbau”. offiziell hatte die sache eine umständlicheren namen: volksinitiative «für die vermehrte Mitbestimmung der Bundesversammlung und des Schweizervolkes im Nationalstrassenbau» steht im amtsblatt. verlangt wurde, dass die politik, ja die bürgerInnen in sachen strassenplanung mehr zu sagen bekommen sollte. das wurde umgehend zu meinem programm.

an der uni hörte ich kurz danach vom wertkonflikt, der mit neuen sozialen bewegungen aufbreche. zu diesen zählte der dozent die umweltbewegungen. und ihre wichtigste analyse, die ich den soziologie-veranstaltungen kennen lernte, war die untersuchung von inglehart.

das alles machte mir mut. vielleicht war ich ja nicht der einzige, der sich innerlich empört, wenn man bäume fällt. vielleicht hatten andere in meinem alter ähnliche erlebnisse gehabt. vielleicht, so hoffte ich, seien wir viele.

inglehard zählte jüngere menschen und höhere bildungsschichten zu den vorreitern des postmaterialistischen wertwandels. er ging davon aus, sie würden immer mehr werden, wenn dank wohlstand versorgung und sicherheit für immer mehr menschen gewährleistet werden könnten. das verhiess gutes. denn es würden sich mit sicherheit immer mehr menschen finden, die auf der suche nach einem anderen leben seien.

der 26. februar 1978 brachte dann eine gewaltige ernüchterung. meine initiative, an die ich so geglaubt hatte, weil sie wenigstens nachträglich ein wenig für umweltgerechtigkeit sorgen würde, wurde an diesem sonntag versenkt. keine 39 prozent dachten so wie ich. kein kanton war dafür. im aargau war man sogar überdurchschnittlich stark dagegen.

seither weiss ich: die postmaterialistInnen sind eine fordernde minderheit, machen keine mehrheit aus. ob die postmaterialistInnen je in der mehrheit sein werden, glaube ich nicht, bezweifelt heute auch die sozialforschung.

erfolg haben sie nur, wenn sie das naturempfinden breiter kreise miteinbeziehen. zum beispiel beim schutz der hochmoore oder beim alpenquerenden verkehr.

denn die berge sind und bleiben für viele ein tabu. aus ehrfurcht, aus angst, aus freude, aus stolz. im mittelland ist davon nicht geblieben. es wächst die zivilisation in die natur hinaus. und wenn sich aktive umweltschützerInnen quer legen, ernten sie nur kopfschütteln.

mehrheit ist mehrheit, weiss ich nur zu gut. seit der lektüre der bücher von ronald inglehart weiss ich aber auch, dass ich mein leben lang aufrecht zu meiner minderheitsmeinung stehen werde.

stadtwanderer

regiert die angst?

ich bin ein grenzgänger, in sachen sprachen, siedlungsarten und nationalitäten. das prokoll eine begegnung mit meinem taxichauffeur aus asien.

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in seiner heimat hat mein taxi-chauffeur mathematik studiert. er engagierte sich in der volkspartei für die junge demokratie. doch dann kam es zum militärputsch. als aktivist der opposition musste er fliehen. zwar würden weiterhin wahlen abgehalten, und es wäre gut, er könnte mitbestimmen. doch die führung seiner parteie werden regelmässig von den wahlen ausgeschlossen.

nach europa kam mein gewährsmann via deutschland. dort traf er einen landsmann, der in der schweiz vorläufige aufnahmen bekommen hatte. beide waren allein und beschlossen, hierzulande als politische flüchtlinge asyl zu beantragen. sie hatten erfolg. seither leben sie in der agglo von bern, und gehen geregelten arbeiten nach.

taxifahren gefalle ihm, erzählt er mir gerne. man könne radio hören und zeitungen lesen, und man treffe immer wieder auf interessante menschen. einmal, nach einem interview von mir in einer lokalzeitung, sprach er mich an. ich sei doch der politexperte, versicherte er sich vorher noch. dann legte er mit fragen los.

ihn beschäftigt heute, was bei den wahlen im herbst geschieht. die volkspartei in seiner heimat und hier seien nicht das gleiche. beide wollte mehr demokratie, das sei gut. hier bedeute das aber, dass man gegen ausländer sei. er wolle niemanden kritisieren, glaube aber, ein wahlsieg der svp sei schlecht für ihn und seine landsleute.

ich bleibe zurückhaltend. der wind habe gedreht, dführe ich aus. die konservativen seien im kommen. mit ihnen gewinne das nationale wieder an bedeutung, und es steige die ausgrenzung von fremdem.

mein gegenüber nickt. doch ist er noch nicht zufrieden.

was können wir nun?, will er wissen. die wahlen wolle er nicht beeinflussen, er wisse, dass er auch hier keinen politischen rechte habe. das heisst aber nicht, dass er sich nicht sorgen mache, was hier geschehe.

ich finde, das beste sei, wenn sich menschen mischen. ausländer sollten zu schweizer mehr kontakte haben, und umgekehrt. was man im alltag erlebe, zähle am meisten. alle studien, die in den letzten 40 jahren dazu gemacht worden seien, würden darauf verweisen.
organisierte kontakte seien gegenüber behörden sinnvoll. vor allem in den städten, aber auch auf dem land, wo es ausländerInnen habe, könne man so zahlreiche probleme auf informellem wege lösen. das sei sogar gut schweizerisch.
schliessich kommen wir auf die medien zu sprechen. denn sie formen unsere bilder im grossen. wer sich nicht wehre, habe schon verloren. und wer verloren haben, bekomme immer heftiger auf’s dach. medienarbeit sei eine art schutzwall gegen diskriminierungen, sind wir uns einig.

das problem sei, schliesse ich, dass man, wenn einem etwas nicht passe, negatives vor positives stelle, differenziertheit zugunsten schematisierungen verschwinden und einzelfälle zum allgemeinen erhoben würden.

damit kommen wir auf die jüngsten abstimmungen zu sprechen. vor allem die ausschaffungsinitiative. er habe gelesen, es habe am meisten zustimmung gegeben, wo es am wenigsten ausländer habe. mein taxichauffeur will wissen: regiert da nicht einfach die angst? ich bestätige, denn die analyse könnte von mir sein. da habe sich der stadt/land-graben schon vor monaten manifestiert. denn auf dem land gäbe es viel weniger ausländer, doch habe fürchte man sich da am meisten.

nicht nur vor ausländern, auch vor den städteren.

was würde wohl geschehen, wenn sich nicht nur die landleute, für einmal wenigstens auch die ausländerInnen politische äussern dürften?, beende ich das gespräch. da käme wohl noch ein weiterer graben zum vorschein.

wir werden den faden sicher wieder aufnehmen.

stadtwanderer

die vox-analyse des landwanderers

eine tolle diskussion, die am sonntag mit dem aufgerissenen güllengraben entstanden ist. der stadtwanderer ist zum landwanderer geworden, und hat seine eigene vox-analyse zum abstimmungssonntag gemacht.

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je mehr rot drauf, desto mehr schweizerkreuz drin! gemeindekarte der abstimmung zur waffen-initiative

“angefangen hat es, wie bei so vielen anderen sachen, mit der abstimmung über den ewr. die schweiz solle dem eu-vorhof betreten, entschied der bundesrat. doch die stimmbürger/innen machten nicht mit. die traditionalisten waren gegen die modernisten. die alten gegen die jungen. die einfachen leute gegen die studierten. und das landvolk gegen die städte.”

“die städter verstehen uns nicht. sie wollten die bilateralen, den uno-beitritt, die personenfreizügigkeit, die abkommen von weiss ich wo, und sie waren bereit, den ehemaligen ostblockstaaten von unserem geld zu schicken. immer bekamen sie vom fehlgeleiteten souverän recht, denn die städter furchteten, von der eu drangsaliert zu werden.”

“städtische unsitten muss man heute als sogannte zeichen des fortschritts ertragen, mutterschaftsgelder bezahlen, schwule väter akzeptieren und kindstötungen vor der geburt zulassen. alles nur wegen den städtern!”

“als es um die ausländer ging, revanchierten wir uns erstmals. von denen wimmelte es ja in der stadt. und da sollten sie nur bleiben. erleichterte einbügerungen für secondos überall – sicher nicht. minarette auf dem dorfplatz – garantiert ohne uns. und gesetzesbrecher durchfüttern – undenkbar. sorry, ihr städter, die gehören ins flugzeug und weg damit.”

“wir sind stolz auf unsere tiefen steuern. denn wir haushalten sparsam. dulden keine bürokratie. und auswärtige einsprachen brauchen wir schon gar nicht. denn für umweltschutz sind nicht die, die naturnah leben, sondern die, die auf ihrem überdimensionierten ökologischen fussabruck steht.”

“natürlich, für die arbeit, da muss man in die stadt, und bezahlt man sich heute schon dumm und dämlich, egal ob automobilist und zugfahrer. genau dafür soll man bald noch mehr blächen müssen, meint die leuthard. wie gummistiefel riechen, weiss sie ja schon. und ihr wahlkampfspezi erfährt es, wenn er noch einmal sagt, wer auf dem land lebe, sei ein subventionsfetischist.”

“da lese man doch einmal die schriften vom famosen bundesamt für raumplanung. konzentration der investitionen auf die infrastruktur in den zentren. die leute aus dem lokalen zeughaus können ein lied davon singen. die bauern auch. überhaupt, die hasst man in den denkfabriken der städter. der föderalismus ist passé, steht über dem pult des direktors von avenir suisse.”

“jawohl, jetzt ist tradition suisse ist angesagt! genau darum lassen wir uns von joe lang und der galladé nicht entwaffnen. nicht einmal die untertanen der alten orte mussten ihr gewehre abgeben. und ihre lokalen sitten und bräuche wurden toleriert. selbst das haben uns die stadtdiktatoren heute weggenommen. um es in brüssel gegen mamom einzutauschen, was sie uns zwar nicht sagen, wir aber schon lange wissen.”

“wir haben es ihnen mit der münze heimgezahlt, mit der sie uns so lange über den tisch gezogen haben. jetz ist fertig, schuss!”

landwanderer

der populismus der populisten

spaziergang über mittag. das wetter war so wunderbar. vorbei ist die deprophase aus dem januar. beschwingt nahm ich die weltwoche von heute in der hand. henner kleinewefers, vormals professor für oekonomie, versucht sich darin als als populismus-analyst. ich widerspreche.

populi8in einem gehe ich mit dem emeritierten freiburger ökonomen einig. der verdacht der marxistischen politanalysen, der populismus führe per staatsstreich automatisch zu bonapartismus und der ebenso zwangsläufig zu faschismus ist historisch gesprochen widersinnig. ich gehe noch weiter: die unterstellte entwicklung verstellt sogar den blick auf das, was den populismus heute sozialwissenschaftlich so interessant macht.

treffend analysiert wird der populismus der gegenwart meines erachtens durch hans-jürgen puhle, frankfurter historiker und politologe. er spricht von einem neuen design-populismus in der mediendemokratie. das ist ein neuartigker politikstil, der sich auch in etablieren demokratien gut eingenistet hat, ohne diese ausser kraft zu setzen.

vordergründige symptome dafür sind die politische sehnsucht nach leadership und das madiale verlangen nach führungszentrierter politik. so werden spitzenpolitikerInnen zu dominatorInnen öffentlicher debatten, und es paart sich ein ideologischer fundamentalismus mit einer pragmatischen behandlung des augenblicks. zu der gehört ein kräftiger schuss an kontinuierlicher medialer empörung, um in stimmung zu kommen, die alles abweichende stigmatisiert, ja ausgrenzt.

die politologischen analysen, die mit diesem verständnis in jüngster zeit betrieben worden sind, fördern fünf eigenschaften des gegenwärtigen populismus’ zu tage:

. erstens, traditionelle parteien, interessenbezogene verbände und der staat verlieren an bedeutung, was zur propagierung zivilgesellschaftlicher alternativen durch populisten führt.
. zweitens, mobilisiert wird von populisten gegen die globalisierung, verstanden als machtkartell, begründet durch neoliberale politik, gelegentlich auch gepaart mit linke sukkurs.
. drittens, gefeiert wird durch populisten ein antimodernismus, mit dem man sympathien unter den verliererInnen in aktuellen transformationsprozessen sammelt.
. viertens, überlebensfähig sind catch-all parties, die den zusammenhalt ihrer vielschichtigen anhängerschaft gewährleisten, indem sie permanent den nerv der zeit suchen, treffen und inszenieren.
. fünftes, auswirkungen hat dies namentlich auf die campaigning-politik, die mit neuen medien getrieben wird, von der glaubwürdigkeit zentraler führungspersonen lebt, welche die sachfragen vorgeben, die zu behandeln sind.

populismus ist nicht unbedingt an eine politische ideologie gebunden. in europa zeigt er eine nähe zu rechten parteien, namentlich in lateinamerika findet sich das umgekehrte. da kommt die politologische analyse der ökonomischen wieder näher. anders als diese versteht sie populismus aber nicht als autochtone bewegung politisch enttäuschter mittelständler gegen die eliten. vielmehr sieht sie darin eine bewusste mobilisierungstrategie der massen durch führungsstarke persönlichkeiten – in politischen ämtern oder auch ausserhalb -, um legitimiert durch das einen magischen bezug auf das volk auch in umbruchphase die eigenen interessen durchsetzen zu können.

der populismus ist also vor allem ein populismus der populisten. das schreibt die weltwoche selbstredend nicht. sonst müsste sie sich ja hinterfragen.

stadtwanderer

wie die wahlen 2011 ausgehen …

… weiss niemand. mit gutem grund: denn wahlergebnisse sind das produkt aus kurz- und langfristigen einflüssen auf die wahlentscheidungen. erstere werden immer schwieriger vorauszusehen. man kennt nur ihr profil, nicht aber das gewicht der komponenten.

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mein analyseschema, wie ich die wahlentscheidungen analysiere. links sind die lang-, rechts die kurzfristigen determinanten.

das wahlsystem ist in der schweiz seit 90 jahren konstant. die kantone bilden unverändert die wahlkreise. und die generellen konfliktlinien im parteiensystem sind nicht einfach verschwunden, aber aufgeweicht.

bei der cvp wirkt die tradition noch am meisten. eine mehrheit ihrer wählenden hat eltern, die cvp (oder kk) wählten. bei allen anderen parteien ist dieser anteil unter 50 prozent. oder anders gesagt, die meisten parteien müssen heute die wählenden dort finden, wo sie heute sind, nicht, wo ihre familie war.

insbesondere die medien, teilweise auch die schulen und die gleichaltrigen sind an die stelle der familiären sozialisation gerückt. parteibindungen prägt der schuluntericht, seine verarbeitung unter gleichaltrigen, die generationen mit einem spezifischen medienkonsum entstehen lassen.

lange glaubte man, die themen des wahlkampfes seien alleine entscheidend. die ökonomen unter den wahlanalytikern lobten die vernünftige entscheidung. man wähle, wer einem programmatisch am nächsten stehe. das damit verbundene menschenbild wurde heftig kritisiert. wählerInnen seien keine informationsverarbeitungsmaschienen; sie würden sich auch aufgrund ihres tierischen instinkts entscheiden, sagen namentlich psychologInnen.

das gilt namentlich gegenüber personen: im kleinen wahlkreis, wo man sich kennt; im grossen wahlkreis, wo die werbung auf gefühle gegenüber kandidatInnen setzt; und gesamtschweizerisch – oder wenigstens sprachregional – wo nationale medienstars, präsidentInnen und neuerdings wahlkampfleiter die parteiimages formen.

damit wird politisch realität durch medienrealitäten überlagert. diese behandelt parteien wie produkte, deren schwächen neuigkeitswert hat: der zwist im parteivorstand, das geld in kampagnen, die macht über die lokalpresse. die parteien nervt es, immer mehr mit ihrem fremdbild konfronitert zu sein, weshalb sie zur direktkommunikation via youtube greifen, oder werbung schalten, wo sie ein positives umfeld bekommen. das alles kostet geld, und wer es für wahlen ausgibt, gerät in verruf. die negativspirale scheint auswegslos.

angesichts der veränderungen in den parteistärken sind auch schweizer parlamentswahlen zu indirekten bundesratswahlen geworden. die machtfragen werden wieder unverholen gestellt: soll die schweiz ein neues regierungssystem erhalten mit verringerter konkordanz, ist zum beliebten expertenthema geworden. wer zurücktreten soll, ist die hauptfrage der sonntagspresse. und zwischenzeitlich interessiert die bürgerschaft wieder, welche parteien regierungswürdig sind – und welche nicht.

mobilisierungsstrategien sind heute wichtiger als den einen oder die andere wechselwählerIn zu gewinnen. profitiert hat davon die svp, die lange auf polarisierung gegen links setzte, heute eher hegemonial agiert. chancen haben auch neuen parteien, die ohne lange geschichte, dafür mit grosser frische auftreten können. so sind die wichtigsten regierungsstützen gegenwärtig in der defensive. nutzen könnten die aufgezeigten mechanismen jedoch alle, wenn sie selber auf langfristige themenarbeit setzen würden, kurzfristige interventionsgabe zeigten, und ihre politik mit erkennbaren werten und glaubwürdigen personen kommunizieren könnten.

die zentrale frage in heutigen wahlkämpfen lautet: wer ist der treiber, wer sind die getriebenen? die höchste schule ist es, als partei oder kandidatIn massgeblich zu bewegen. die zweithöchste ist es, was auch immer geschieht, es zu seinem eigenen vorteil deuten zu können. ganz nach dem motto: das ziel aller wahlkämpfe ist es, selber im zentrum zu stehen.

womit wir von den langfristigen stabilisatoren zu den ganz kurzfristigen destabilisatoren der wahlentscheidung gewandert wären.

stadtwanderer

wie 2007 der svp-wahlkampf alles dominierte, das wichtigste aber unterschätzte

das parteiensystem der schweiz nationalisieren sich, dozierte politologe pascal sciarini 2007 bei jeder gelegenheit. wenn ein genfer professor das sagt, dann muss es stimmen. denn normalerweise hört man argumente aus der rhone-stadt, in der romandie oder auf jeden fall in genf sei alles anders als in der schweiz.

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symptomatisch für die wahlen 2007: alle blicke sind auf die svp, ihre themen, ihre repräsentanten gerichtet.

die nationalisierung der parteien war bei den letzten wahlen jedoch ungleich weit fortgeschritten. die cvp, aber auch die fdp verharrten weitgehend in ihren föderalistischen strukturen. sie gaben entsprechend den uneinheitlichsten eindruck ab. sp und grüne waren in den städte gut koordiniert, auf dem land aber kaum präsent.

am radikalsten ausgefallen ist die nationalisierung bei der svp. sie hat keine wirklichen hochburgen mehr, vielmehr hat sie die schweiz zu ihrer hochburg gemacht. die situation in den kantonalparteien bleibt zwar divergent, doch die vorgaben macht die nationale partei. “wir führen die partei wie eine marke: einheitlich, wertorientiert, mit erkennbarer emotion”, heisst es regelmässig aus dem nationalen parteisekretariat.

mit erfolg: in allen kantonalen parlamenten kam die svp 2007 auf 23 prozent der sitze. im nationalrat steigerte sie sich auf 32 prozent. oder anders: bei nationalen wahlen ist die partei erfolgreicher als bei kantonalen. vor allem wegen ihrer neu entdeckten mobilisierungskraft.

das hat mit campaigning zu tun: damit ist nicht einfach eine superkampagne gemeint, sondern der permanente wahlkampf. campaigning beschreibt das kommunikative verfolgen von konstant gehaltenen zielen, selbst wenn die relevanten arenen wechseln. campaigning ist es, was einer partei ein unverwechselbares gesicht gibt, in ausgewählten themen, mit wiederkehrenden repräsentantInnen und mit einer übergeordneten ideologie.

das war lange auch bei der svp nicht der fall. 1991 noch unterschied sie sich organisatorisch nicht von den anderen parteien. seither ist eine partei neuen typs entstanden. die svp entwickelte sich zur gut geführten wählerorganisation, die koordiniert zielgruppenspezifische ansprachen vornimmt: mal geht es um das “volk”, dann um “landwirte” und “gewerbetreibende”, schliesslich um “frauen, die sich von muslimen bedrängt” oder um “akadamiker, die durch deutsche konkurrenziert werden”.

das geht nicht ohne medien: die bleiben in ihrem selbstverständnis svp-kritisch, entwickelten aber verschiedene svp-affinitäten: der auttritt ihrer protagonisten sichert quoten, ihre streitkultur schafft anschlusskommunikation, und ihre themen tendieren dazu, die vorrangigen des wahlkampfes zu sein. zudem weiss die svp mit ereignissen wie dem geheimplan medienhypes zu schaffen, die dann werberisch verstärkt werden. und so gilt: wer mit der svp ist, ist auch ein wenig beim gewinner!

2007 führte die erste partei der schweiz vor, was das alles heisst: mit dem berühmt gewordenen schäfchenplakat setzte man das thema der ausländer, die kriminell seien und ausgeschafft gehörten, und mit dem motto “svp wählen – blocher stärken” stimmte sie das land auf die scheinbare hauptfrage des wahlkampfes ein.

einen fehler machte die svp 2007 bekanntermassen: am schluss glaubte sie selber an die von ihr geschaffene mediale kunstwelt. ihr wahlerfolg im nationalrat, beschränkt auch im ständerat, bestärkte sie, nicht nur die wahlsiegerin zu sein, sondern auch jedwelche vorgaben machen kann. das war ein trugschluss, denn es gab eine mehrheit auch ohne die svp. und diese formierte sich, als alle an die volkswahl christoph blocher glaubten, jedoch übersahen, dass es die 246 frisch gewählten parlamentarierInnen sind, welche den bundesrat wählen.

wie 2003 die machtfrage gestellt und bisher nicht wirklich beantwortet wurde

19. oktober 2003, 19 uhr 30: in der tagesschau des schweizer fernsehens kommentiert ueli maurer, svp-präsident, den neuerlichen sieg seiner partei bei den nationalratswahlen. er forderte einen zweiten sitz für die svp – damit hatte man gerechnet. der solle durch einen vertreter der neuen svp-linie eingenommen werden – auch das hatte man erwartet. ihr einziger kandidat sei christoph blocher – da waren fast alle überrascht!

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wahlsieger 2003 unter der bundeskuppel: svp und fdp – die übersehen, dass die parlamentswahlen keinen rechtsruck, vielmehr die bisher grösste bi-polarisierung zwischen den polparteien brachten.

ich stand unmittelbar neben maurer, als er die folgenreiche ankündigung machte. der svp-präsident wirkte ausgesprochen konzentriert, ja, restlos überzeugt, zum grössten coup in seiner parteikarriere anzusetzen. kein augenzwinkern war da, das auch nur den leisesten zweifel offen liess, das er scheitern könnte.

die mediale ankündigung der verlangten sitzverschiebung schlug wie eine welle ein, denn die svp wollte nicht nur führende kraft im bundesrat werden. sie missachtete auch das verbreitete wahlverfahren, das sich mit doppelkandidaturen bei bundesratswahlen eingebürgert hatte. und sie riskierte, den bisher zugkräftigsten oppositionsführer innerhalb der partei durch integration in eine kollegialbehörde zu verlieren.

ich gebe zu: lange hatte ich das christoph blocher nicht zugetraut, denn ich rechnete mit einem identitätsverlust für ihn und seine partei. dann schwenkte ich, glaubte fest, dass er die regeln der politischen kunst beachten würde; denn als unternehmer verhielt er sich insgesamt vernünftig. heute stelle ich fest: ich habe mich zweimal getäuscht. christoph blocher blieb im wesentlichen christoph blocher; dafür blieb er jedoch nicht lange bundesrat.

angesichts der dramatischen ereignisse übersah man das effektive wahlresultat der parlamentswahlen 2003 ein wenig. die bi-polarisierung der parteienlandschaft hatte ihren höhepunkt erreicht: die svp legte 4,1 prozent zu, doch grüne und sp gewannen ähnlich viel hinzu – wenn auch nur gemeinsam. wahlverliererinnen waren die fdp, die cvp und einige der kleinparteien. und: im ständerat geschah genau gegenteiliges. die sp machte am meisten sitze vorwärts, die svp wurde hier nur kleiner sieger. bezahlt hat die rechnung in der kantonsvertretung nicht die cvp, dafür voll die fdp.

die scharfe polarität zwischen links und rechts hatte mobilisiert, wie schon lange nicht mehr, und die ansprache neuer wählerInnen durch die polparteien hatte das parteispektrum auseinanderstreben lassen. die fdp kippte, rückte vom zentrum nach mitte/rechts, und propagierte schliesslich hansruedi merz als eigenen br-kandidaten. um ihre institutionelle macht zu wahren, unterstützte sie mehrheitlich die kandidatur blochers für den bundesrat. die cvp wehrte sich, einen sitz in der landesregierung. am ende gerieten sich joseph deiss und ruth metzler hinter den kulissen in die haare, und die tage der jungen appenzellerin im bundesrat waren gezählt.

2003 wurde die machtfrage gestellt, wie es in der schweizer politik unüblich war. die veränderungen in gesellschaft, politikultur und parteiensystem legitimierten dies, wurden aber zu belastungsprobe für die konkordanz. von zauberformel mag ich seither nicht mehr sprechen, nur noch von formel. wie konsenssuche kann überhaupt nicht mehr die rede sein, nur noch von wechselnden allianzen, um eine mehrheit zu haben. ob das eine zeitgemässe anpassung des regierungssystems der schweiz ist, die zu neuer stabilität führt, oder aber nur ein zwischenschritt in einer gründlichen transformation des bundesrates und des parlaments ist, weiss ich nicht wirklich.

auch ueli maurer und seine svp, die am 19. oktober 2003 so klar kommunizierten, als sie ihre eigeninteressen im auge hatten, blieben die antwort schuldig, ob sie eine schweiz mit einer verwässerten allparteien-regierung wollen, wo nur noch wählerInnen-anteile zählen, oder eine regierungs- und oppositionssystem mit einer bürgerlichen mehrheit unter ihrer politischen führung.

stadtwanderer

wie die territorialstrategie der svp 1999 fast unbemerkt aufgeht

“17 Prozent” lautete die prognose von filippo leutenegger, dem damaligen chefredaktor des schweizer fernsehens, am vorabend der nationalratswahlen 1999. das wäre ein plus von 2-3 prozent gewesen; er hätte die chance bestanden, dass die svp die cvp überholen und sich hinter der sp und fdp auf dem dritten platz einreihen würde.

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kartei des parteipolitischen wandels: die roten vierecke symbolisieren die wählerInnen-gewinne der svp bei den nationalratswahlen der 90er jahre

es kam anders: die svp legte 1999 um 7,6 prozentpunkte zu – was die grösste veränderung war (und ist), die es je in der schweizer wahlgeschichte unter proporzbedingungen auf nationaler ebene gegeben hat(te) – und die svp avancierte mit ihren 22,5 prozent erstmals in ihrer historie (es-aequo mit der sp) zur wählerstärksten partei der schweiz.

mit der einverleibung der kleinen freiheitspartei und der marginalen schweizer demokraten in die neue svp hatte man allgemein gerechnet; nicht aber damit, dass die aufstrebende partei namhaft in die hochburgen der fdp und die stammlande der cvp vordrängen würde. das ganze hatte system, territorilastrategie genannt.

demnach griff die svp, ausgehend von ihren regionen, wo sie schon stark war, die ehemals politischen verbündeten frontal an. das war für die berner und waadtländer noch ganz ungtewohnt, und in den regierungstreuen gebieten verlor die svp sogar. doch legte sie in zürich planmässig kräftig zu, und sie machte in luzern, basel, genf und st. gallen grosse fortschritte. bis heute wirkt das erfolgrezept von 1999 vielerots noch nach.

das wahlergebnis von 1999 überraschte im übrigen auch mich. ja, die veränderungen waren viel grösser, als es die svp selber angenommen hatte. am wahlabend brachte sie wenig geordnet die forderung auf, im bundesrat gestärkt zu werden. franz steinegger, der damalige fdp-präsident, für den der feind in der svp steckte, konterte dies schon während der sonntäglichen elephantenrunde so vehement, dass kein programm daraus werden konnte – vorerst nicht.

dass wir analytiker und kommentatoren allesamt zu ungenau hingeschaut hatten, was sich in den regionen tat, hatte nicht zuletzt mit der neuen mediensituation zu tun. roger schawinksi war mitten im wahlkampf 1999 mit seinem telezüri auf sendung gegangen, was für eine heidenaufregung sorgte. entbrannt war aber nicht die suche nach zuschauer und zuschauerinnen, entfesselt wurde der hahnenkampf unter den chefredaktoren der bisherigen durch die wette, wer christoph blocher mit einer relevanten aussage zur zauberformel zuerst auf dem sender hat.

diese rahmenbedinung ist nicht ohne nebengeräusche eben erst entschärft worden. zum guten, wie ich finde!

stadtwanderer

wie der rücktritt von otto stich den wahlkampf 1995 neu aufmischte

1995 steuerte der streit zwischen verkehrsminister adolph ogi und finanzminister otto stich seinem höhepunkt zu. denn der berner svp-bundesrat warb aus regionalpolitischen überlegung für zwei neat-transversalen, derweil das sp-regierungsmitglied die finanzierung von zwei tunnels für eine schwere belastung für den öffentlichen haushalt hielt.

detailder perfekt inszenierte wechsel von otto stich zu moritz leuenberger im bundesrat bescherte der sp den grössten wählerInnen-zuwachs seit einführung des prozorzwahlrechtes.

am 31. august kam es zur überraschende wende. otto stich kündigte seinen rücktritt aus der bundesregierung an. das war auch gleichzeitig die geburt des event-marketings. denn mit dem ausscheiden eines ihrer bundesräte mitten im nationalratswahlkampf überraschte die sp nicht nur die gesamte politische konkurrenz. die traf, kann hatte sie den ersten hammerschlag getroffen, gleich ein zweiter. die auf alles bestens vorbereitete sp-präsident peter bodenmann präsentierte in der folge7 denkbare nachfolger für otto stich, mit denen man sich hinfort medial auseinandersetzen musste, womit man unfreiwillig deren wahlkampf und den der sp oben drein betrieb.

man weiss es: nie gewann die sp seit einführung des proporzwahlrechtes für den nationalrat einen so grossen wählerInnen-anteil hinzu wie 1995. und die plus 3,3 prozentpunkte sind bis heute der sp-rekord geblieben.

das hat das szenario “bundesratsrücktritt im wahlkampf” berühmt gemacht. 1999 kopierte es die cvp und rette so die vorläufig letzte erfolgreich doppelvertretung im bundesrat. doch löste diese nachahmung auch politische gegenreaktionen aus. bundesratsrücktritt im wahljahr sind seither verpönt. die cleverste schlussfolgerung hat die svp darauf gezogen: sie setzt seither auf den wahlsieg, der sie im bundesrat stärken oder ihre vertretung sichern soll. 2003 brachte diese christoph blocher in die bundesregierung, 2007 täuschte sich seine partei nach dem wahlsieg jedoch, den sitz ihres stars mit dem wahlergebnis gesichert zu haben.

wie überraschend das perfekt vorbereitete neue momentum im wahlkampf 1995 war, lässt sich aus folgender remineszenz ableiten: radio drs vermeldet am 31. august in den 14 uhr nachrichten den rücktritt von otto stich als primeur. als die zuständige redaktorin die info, die sie kurz davor erhalten hatte, durch die bundeskanzlei verifizieren liess, dementierte diese zuerst. man sei eben noch in der bundesratssitzung vertreten gewesen; keine spuren von rücktrittsdiskussion seien erkennbar gewesen. nur wenig später kam dann die überraschende bestätigung aus dem bundeshaus. stich habe ganz am ende der sitzung sein rücktrittsschreiben verlesen – womit alles seinen lauf nahm.

seither nennt man das ereignismanagement. ausgangspunkt ist eine stark verdichtete handlungsabfolge, die medialisiert eine erwartungshaltung kreiiert, dass jetzt etwas entscheidendes geschieht. weil medien solche situationen lieben, gibt es spin-doctors (in parteien, in pr-agenturen, aber auch in medien selber), die solche geschichten drehen, damit kontinuierliche aufmerksamkeit erheischen und aber einer gewissen dauer ihrer kampagne meinungsbildend wirken.

überigens: die neat wurde gebaut, stichs nachfolger moritz leuenberger musste allerdings viele zusätzliche mittel auftreiben, um beide ogi-röhren finanzieren zu können. und im wahlkampf 2011 spekuliert man wieder, die viel kritisierte bundespräsidentin micheline calmy-rey könnte im september 2011 zurücktreten, um den sp-wahlkampf zu beflügeln. damals hatt die partei die 18.5 prozent wählerInnen-anteil aufzupolieren; diesmal wären es die 19,5 aus der letzten wahl!

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wie 1991 so manches ins rutschen kam

der 1. januar 1992 begann für mich schlecht. ich rutsche am morgen auf dem winterlichen glatteis aus und brach mir die rechte hand. meine schlussarbeiten als forschungsassistent und lehrbeauftragter an der uni bern musste ich dann mit links machen. dazu zählte auch die vox-analyse zu den nationalratswahlen 1991. gemeinsam mit sibylle hardmeier war ich mandatiert, die untersuchung zu machen und den bericht dazu schreiben. das wurde dann auch publiziert.

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Jürg Scherrer, erster Nationalrat der Autopartei aus dem Kanton Bern, und letztes Exekutiv-Mitglied der gleichen Partei in Biel/Bienne, heute Ehrenpräsident der Partei, die 1991 ihren höhepunkt hatte

meine persönliche erinnerung an die wahlen 1991 wird durch die autopartei geprägt. sechse jahre zuvor gegründet, kannte die neue rechtspartei 1991 ihren höhepunkte. im nationalrat kam sie auf 8 sitze. mit ihr hatte eine populistische partei neuen typs erstmals wirklichen erfolg. denn man unterschied sich von den schweizer demokraten, die ein zu kleinbürgerliches bild abgaben und einseitig auf migrationsfragen eingeschworen waren. dem versuchte man mit der autopartei etwas neues entgegen zu setzen, ging es doch um eine allgemeinere staatskritik, namentlich um beklagte einschränkungen rechtlicher und belastungen finanzieller natur. zum inbegriff des neuen freiheitsdenken avanciert der autofahren, das schönste für den unabhängigen mann, von der polizei schikaniert und vom steuervogt in beschlag genommen. es entstand auch eine neue feindbildpolitik, das auf den ebenso erstarkten grünen (“latzhosenträger” und “ökofuzis”) aufbaute.

man weiss es, die autopartei ist heute bedeutungslos. vor zwei jahren verlor sie mit dem abgang von jürg scherrer in biel-bienne ihr letztes exekutivmandat. ihr niedergang setzte jedoch schon mit der ewr-abstimmung 1992 ein, denn die svp machte es sich von nun an zur aufgabe, irritierte eu-gegner im eigenen land zu sammeln und öffnete mit der kampagne hierzu dem populismus den weg in eine regierungspartei. zahlreiche autoparteiler traten in der folge zur svp über, die verbliebenen begründeten sich als freiheitspartei neu, kannten aber keinen wirklichen erfolg mehr.

auch mein aufstieg als wahlforscher (und nicht-autofahrer) ist mit der autopartei verbunden. denn mit ihrem auftreten nahm auch das interesse an solchen phänomenen zu, und die nachfrage nach analysen wuchs im in- wie auch im ausland. ein referat mit dem titel “Linke und Grüne an die Wand nageln und mit dem Flammenwerfer drüber” – dem martialischen zitat von fraktionschef michael dreher, das der sonntagsblick publik gemacht hatte – verschaffte mir einladungen von bern bis wien. interessiert waren bürgerlicher parteien, die sich vom populistischen stil abgrenzen wollten, aber auch stiftungen, die sich mit den frühen erscheinungen des neuartigen phänomens in ganz europa ursächlich auseinander setzten.

meine kleine retrospektive auf zurückliegende wahlen macht mir heute deutlich, wie erheblich der politkulterelle, politkommunikative, aber auch politthematische wandel ist, der 1991 seinen ersten grossen politischen sieg feierte, danach transformiert anwuchs und uns heute so prägt.

ach ja, noch eines verbindet mit mich mit der autopartei von damals. am hirschengraben 5, wo ich seit mitte der 90er jahre arbeite, war vormals das parteilokal der ap-bundespartei. und im parteilokal, wo einst michael dreher ein und aus ging, machte ich die jüngste präsentation des wahlbarometers, das unter dem titel erschien: “Die SVP ritzt die 30 Prozent Marke”.

wahrlich 1991/92 bin nicht nur ich beim anstossen auf neue jahr ausgerutscht; die ganze parteienlandschaft der schweiz kam ins rutschen.

meine erinnerung an die wahlen 1975 und was daraus für 2011 wurde

meine mitarbeiterInnen feiern heute mit mir meine 25 jahre beim gfs. was mich erwartet weiss ich nicht. vielleicht etwas mit ein rückblick auf wahlen, oder gar eine vorausschau auf den oktober, denn 2011 stehen diesbezüglich wichtige entscheidungen an. woran ich mich in diesem zusammenhang aber erinnere, davon kann ich sehr wohl schon vor der kleinen interenen feier berichten.

das wahlergebnis 1975 überraschte: sp und cvp gewannen, während fdp und svp verloren. letztere lag erstmals (und letztmals!) unter 10 prozent, der damaligen eintrittsschwelle in den bundesrat. das resultat löste heftige diskussione aus. modellrechnungen zeigten: eine koalition aus sp, cvp und ldu hätte die mehrheit im national- und ständerat gehabt, und so eine neue bundesratszusammensetzung ermöglichen können.

3-300x196raimund germann, analytiker der wahlen 1975, bei denen erstmals ein politologe den rahmen der zau- berformel als quintessenz der politischen ent- scheidfinung in der schweiz durchbrach

die diskussion riss der zürcher tages-anzeiger an. theoretischer wortführer war der politologe raimund germann, der später das idheap als weiterbildungsstätte für bundesbeamtinnen in lausanne begründete. er war überzeugt, ein system der alternanz würde mehr zum fortschritt in der schweizer politik beiträgen als das der konkordanz. damit stand er jedoch weitgehend alleine. unter den zeitgeschichtlern und politologen widersprachen ihm urs altermatt und leonhard neidhard, wie germann alle der cvp nahe stehend, viel schweizerischer geprägter als germann. so wurde schon damals auf die konkordanzzwänge verwiesen, die sich aus den volksrechten ergeben würden, und auf die notwendigkeit der bündelung von kräften in einem staat, der sich einem kulturell stark fragmentierten umfeld gegenübersehe.

nun wurde mir aber gerade im rückblick auf die thesen von germann bewusst, dass sie es waren, die mich beflügelten, mich systematischer mit schweizer politik auseinander zu setzen. die parteien erschienen mir nützlich, um interessen durchzusetzen. befreiend wirkten sie aber nicht, denn die fdp dominierte alles, und sie dultet ausserhalb des von ihr definierten konsenses nichts.

in der zwischenzeit hat sich zahlreiches geändert. der landesring der unabhägigen ist von der politischen bühne verschwunden. cvp und sp gewinnen keine wahlen nicht mehr. die svp muss nicht mehr zitieren, ob sie 10 prozent-schwelle überschreitet oder nicht. die konkordanzkritik wiederum ist allgemeinwärtig geworden. kaum stehen wahlen an, finden die hintergrundsspalten der schweizer medien hier ihr vorrangig behandeltes thema. der konkordanz hat das alles nichts genützt. sie ist kein staatsprogramm mehr, eher eine flüchtige mischung aus kooperation, polarisierung und zweckallianzen.

auch ich habe mich verändert. gewachsen ist die einsicht in den sinn der konkordanz. dieser regierungskultur geht vielleicht das spektakulär ab, und sie tendierte dazu, konflikte zu verdrängen. doch ist sie auf dauer angelegt, und auf ausgleich in einem eher zusammegewürfelten staat. zugenommen hat auch meine feststellung, dass die realität heute vom ideal stark abweicht. letztlich haben wir anomische zustände: übergeordnete ziele und gelebt werde fallen längst auseinander.

da wird man sensibler, wenn namhafte tenöre der schweizer politik zum ende der konkordanz aufrufen. so hanspeter kriesi, der führende zürcher politologe, der diese woche via nzz angesichts der harschen polarisierung zur ordnung aufrief und der serbelden sp empfahl, ihre identität im jungbrunnen der opposition neu zu definieren. und so auch die weltwoche, die heute die streitkultur über jeden klee lobt, nicht weil sie lösungen bringt, aber die verhasste käseglocke über der schweizer politik sprengen soll.

doch frage ich mich, wohin wollen wir: die heutige politkultur zum massstab aller dinge nehmen und das regierungssystem anpassen, oder das politsystem aus sich heraus verstehen, und nach den anforderungen an regierungsparteien fragen?

beides hat unterschiedliche konsequenzen: im ersten fall soll die stärkste partei die regierungsverantwortung im innern und nach aussen übernehmen, – was auch immer dabei heraus kommt. im zweiten fall heisst es, nach koalitionen zu suchen, sie nicht nur macht wollen, sondern auch politik betreiben wollen.

seit 1986 bin ich nun beim gfs als politforscher angestellt. seit 1987 beteilige ich mich an der diskussion von nationalen wahlen, seit 1999 mache ich einen wichtigen teil der analysen selber. das wird auch 2011 der fall sein.

doch selten hatte ich so stark das gefühl, diesmal stehe ein richtungsentscheid an: denn der erfahrungsraum, den ich mir in einem vierteljahrhundert aneigenen konnte, ist so gross wie noch nie, und doch erscheint er mir angesichts des erwartungshorizontes, der sich gegenwärtig auftut, viel zu klein, um wirklich zu erahnen, was alles geschehen könnte, letztlich aber auch, was effektiv wird.

mal schauen, ob mir meine jungen mitstreiterInnen beim gfs.bern, heute abend weiter helfen können!

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religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

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wieder vermehrt im leutschenbach

zum auftrakt des wahljahres erscheint heute das erste wahlbarometer 2011. ich werde wieder vermehrt im leutschenbach zu gegen sein. ein paar gedanken auf dem weg nach zürich.

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ich weiss, nicht alle mögen umfragen vor wahlen. zum beispiel die parteien nicht, die schlecht abschneiden. zum beispiel gewisse medien nicht, die lieber selber schiedsrichter spielen, als die bürgerInnen zu wort kommen zu lassen. und zum beispiel wissenschafterInnen, die sich im forschungsfeindlichen kulturpessimismus üben.

immerhin, die reaktionen, die ich auf der strasse und in den restaurants erhalte, sind mehrheitlich positiv. denn sie wissen und spüren, dass demokratische öffentlichkeit nicht nur die der organisierten akteure sein darf, sondern auch sie eine stimme haben müssen.

leer geschluckt habe ich dafüe dieser tage, als ich von regula stämpfli, meiner ehemaligen mitarbeiterin (und stadtwanderer-leserin), mehrfach las, wer demokratie vermesse, schaffe sie ab. mit verlaub: ich widerspreche!

denn wer demokratie und demokratische entscheidungen nicht kontrolliert, öffnet der macht und dem machtmissbrauch tür und tor. das eine ist die politische kontrolle, das andere die politologische. beide ergänzen sich, und beide sind nötig.

demokratien sind im 21. jahrhundert in die defensive geraten. das stimmt. weil sie auf einer zentralen annahme basieren: sie sind die führende regierungsweise in führenden volkswirtschaften. heute gilt das so nicht mehr. mit china orientiert sich eine der prosperiendsten wirtschaften der welt, nicht mehr an demokratiekonzepten. in zahlreichen osteuropäischen demokratien fehlt es dafür am ökonomischen unterbau der jungen demokratie. und andernorts regieren autokratischer maker mit ihrer medienmacht über ganze völker.

doch: wer das vermisst, ist ein freund, kein feind der demokratie!

sicher, das wahlbarometer zu den wahlabsichten oder smartvote als kandidatenspiegel, interessieren sich für anderes. es geht ihnen nicht um institutionelle ausgestaltungen, die mehr oder weniger demokratisch sein können. doch auch sie vermessen, wenn man es so will, demokratische entscheidungen, damit sie durchschaubarer werden, fakten ansichten gegenüber stehen und so ein rationaler diskurs über politik erhalten bleibt.

demokratien leben von öffentlichkeit, und die besteht aus der beobachtung, der teilnahme und der kollektiven identitätsbildung. wer empirische forschung mit abschaffung gleichsetzt, verkennt die dinge.

deshalb halte ich hier fest: gewalttätiges handeln, autoritäres denken und machtkonzentration gefährden die demokratie weltweit, nicht ihre erforschung.

das ist nicht nur meine tiefste überzeugung. es ist auch die meinung vieler meiner kollegInnen in der wissenschaft und auch einiger zahlreicher mitstreiterInnen in den medien. keine und keiner von ihnen ist mir als demokratieabschaffer bekannt!

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der cousin von ivan s.

die plakate zur volksabstimmung über die initiative “für den schutz vor waffengewalt” erobern den öffentlichen raum. zeit, genauer hinzusehen – und über den bisher unbekannten staatspopulismus nachzudenken.

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eigentlich ist es ein widerspruch ins sich: der populismus definiert sich dadurch, dass die interessen der einfachen leute durch vertreter der betuchten schichten vertreten werden, weil die politik, genauer die mehrheit im staat, das nicht mehr mache. demnach wäre der staatspopulismus die form des populismus, wo der staat die interessen des kleinen mannes und der kleinen frau vertritt, weil der staat das nicht mehr macht …

wenn ich mir die werbung für und gegen die anstehende volksabstimmung über die volksinitiative zu gemüte führe, komme ich zum schluss, dass genau das der fall ist. der reihe nach.

zuerst: die initiantInnen, mehrheitlich links, nehmen mit dem erschossenen teddybären die ängste der familien auf, die das drama erlebt haben, dass ein vater die mutter und die kinder mit der ordonnanzwaffee bedroht, verletzt oder umgebracht hat. sie politisieren das gefühl der unsicherheit in der gesellschaft, weil sich der staat aus ihrer sicht vernünftigen lösungen jenseits von mythen um den wehrhaften bürger im land verweigert. das kann man auch als “klassischen” populimus kritisieren.

sodann: die gegner der initiative haben zwei aussagen auf ihre plakate gebracht: einmal die bedrohte tradition der schweiz als schützengesellschaft, die im 19. jahrhundert die politische kultur der schweizerischen eidgenossenschaft mitaufbauten; sodann der illegale waffenbesitz durch ausländisch wirkende typen. mit letzterem kontert die gegnerschaft direkt, dass ihre widersacher die sonst typisch rechte thematik der sicherheit im alltag aufgenommen haben. die botschaft dazu: nicht unsere soldaten sind gefährlich, sondern die cousins von ivan s. aus der abstimmung über die ausschaffungsinitiative.

nun ist das nicht nur die fortsetzung des gebrauchs von stereotypen, wie sie die nationalkonservative opposition in den letzten 10 jahren entwickelt und werberisch verfestigt hat. es ist die kampagne der bürgerlichen parteien, die den standpunkt der mehrheit in den behörden vertreten.

für mich jedenfalls ist es neu, dass die behördenseite sich des misstrauens der bürgerInnen bedient und damit wirbt. denn ihr weltweit übliches geschäft ist es, vertrauen in die eigene sache zu fördern, welche das funktionieren des staates auch in schwierigen situationen ermöglichen soll. wenn einzelnen regierungsparteien oppositionelle stile in ihrer werbung gebraucht haben, setzte es üblicherweise eine defitige kritik ab. dass man nun genau das im namen der mehrheit von regierung und parlament macht, kann man das – bei aller semantischen problematik – eine bisher unbekannte form des staatspopulismuses nennen.

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appläuse für die erfolgreichsten schweizerInnen

bei einer show wird gezeigt, was man zu bieten hat – beim swiss award 2010, was die schweiz für sich selber und für die welt letztes jahr erbrachte. und sich hierfür sichtbar gut gelaunt gestern abend auch applaudierte.

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für mich der intensivste moment des abends: die dankesrede von sophie hunger für den swiss award 2010 in der kategorie “show”

das erdbeben in haiti bestimmte das hochmedialisierte, gestrige geschehen im züricher hallenstadion am meisten. denn mit dem publikumspreis für den den und die schweizerIn des jahres 2010 wurden marianne kaufmann und rolf maibach geehrt. der bündner war bis vor kurzem direktor des albert-schweitzer-spital in deschappeles auf haiti; die bernerin wirkte gleichzeitig als krankenschwester unter den opfern des erdbebens auf der karibikinsel.

moderatorin sandra studer führte wie immer elegant und gekonnt durch die gala. ihr viersprachiges jahresthema waren die löcher. nicht nur in der erde haitis – denn auch der vulkanausbruck auf island und seine folgen kam zu sprache, genauso wie der rettungsschacht für die bergleute in chile – und selbstverständlich das weltrekordträchtige loch durch denn gotthard, der europa durch die schweiz führt. dennoch schafften es die gemeinsam nominierten bohrmeister adolph ogi und moritz leuenberger nicht, den immer begehrteren titel zu gewinnen. denn die konkurrenz für die auszeichnung ist zwischenheitlich ziemlich stark geworden.

in der kategorie politik wurden die alt-bundesräte von der newcomerin pascale bruderer übertroffen. gekonnt hatte sie als nationalratspräsidentin das parlament durch wahlen und sachgeschäfte geführt, tuchfühlung mit grossen der welt wie dem dalai lama geknüpft, und brücken in die gespaltene schweizer gesellschaft gebaut. dafür erhielt sie den politischen swiss award 2010. den für wirtschaft ging an felix richterich, dem chef von ricola, deren bonbon-absatz die firma zum weltmarktleader gemacht hat.

im in- und ausland erfolgreich waren schliesslich auch sophie hunger und martin suter, die gekrönten für show und kultur. ihre reaktionen auf den preis hätten jedoch nicht gegensätzlicher sein können. die musikerin hielt die vielleicht gehaltvollste rede des abends; der schriftsteller fehlte ohne angabe von gründen und liess eine kurze dankesnotiz durch einen kollegen verlesen. das mag typisch sein, dafür, dass unsere künstler, die emotionen ansprechen, das publikum lieben, jene, die unseren intellekt schärfen sollten, es immer mehr meiden.

so stimmte die analyse von bärbi an meiner seite: es seien entscheidungen des herzens gewesen. das trifft sicher auch auf emil zu, dem 78jährigen komiker, der für seine lacher über generationen hinweg den streng geheim gehaltenen life time award erhielt. und es traf auch zu, was man vielerorts hören könnte: die entscheidungen des abends waren (manchenorts anders als meine favoriten, aber) durchaus vertretbar. genauso wie der relounch der sendung, die besser als auch schon gefiel.

das anschliessende essen verbrachten wir am tisch von hans-ueli müller, dem neuen besitzer der kartonfabrik im bernischen deisswil. er war mit seiner reizenden familie gekommen, welche ihn in seiner riskanten rettungsaktion trotz anfänglich hohen verlusten unterstützt, weil man überzeugt ist, langfristig etwas gutes zu tun. eines ist sicher: als banker, der er im hauptberuf ist, wäre müller kaum zur auswahl gestanden. als unternehmer nebenbei, der zivilcourage beweist, figurierte er von der “bilanz” portiert zurecht weit oben unter den nominierten in sachen wirtschaft.

“applaus, applaus”, kann man da nur sagen. oder wir es der täschmeister hinter der fernsehkulisse während der aufwärmrunde dem publikum im zürcher hallenstadion auf neudeutsch sagte: appläuse für die speziellsten unter uns!

schweizerIn des jahres wird …

morgen kürt die srg einmal mehr den oder die schweizerIn des jahres. insgesamt und in den sparten: politik, wirtschaft, gesellschaft, kultur und show. beim sport stehen die ausgezeichneten schon fest. hier meine diesjährigen favoriten.

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viel wurde jüngst diskutiert, wie das auswahlverfahren beim siwss award zustande kommt. auch mir als beteiligter war es nicht immer klar.

jetzt lässt man grosse transparenz walten. eine nominationsjury, welche die trägerinnen der veranstaltung repräsentiert, schlägt im herbst des jahres rund 30 personen vor, die sich in ihrem bereich besonders hervor getan haben. eine davon unabhängige academy bewertet die vorschläge und verteilt so die awards in den kategorien. bekannt gemacht werden die plätze 1-3 je kategorie. sie, und die drei besten beim sport, nehmen an der wahl des oder der schweizerin des jahres teil. doch entscheidet hier kein fachgremium, sondern das tv-publikum.

selber bin ich teil der academy, also jenes gremiums, dass die spezialpreise verteilt. rund 100 weitere personen aus der ganzen schweiz zählen hierzu. erstmals weiss ich, wer sie sind.

um die transparenz zu erhöhen, lege ich hier meine favoriten unter den nominierten offen; es sind dies:

kategorie “politik”: pascale bruderer, nationalratspräsidentin
kategorie “wirtschaft”: hans-ueli müller, investor (namentlich im kanton bern!)
kategorie “gesellschaft: fabiola gianotti, teilchenphysikerin am cern
kategorie “kultur”: melinda nadj abonji, schriftstellerin
kategorie “show”: bligg, musiker

beim sport konnte ich nicht mitentscheiden – und habe ich auch keine favoriten. denn davon verstehe ich definitiv zu wenig. was nicht heisst, dass die von mir bevorzugten echten chancen haben, zu obsiegen …

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die konkordanz ist zerbrechlich, zerbrechen wir sie also!

“Wird die Tatsache, dass die Schweizer Geschichte reich an inneren Spannungen ist, die Risikobereitschaft von Souverän und Parteien erhöhen und sie im Herbst 2011 Experimente wagen lassen, welche die allseits beklagte Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit der Landesregierung beheben könnten?”

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die konkordanz ist zerbrechlich, tragen wir ihr sorge: neujahrskarte der neuen bundes- präsidentin micheline calmy-rey mit der umgekehrten botschaft, die thomas maissen heute verbreitet

der das fragt, ist kein unbekannter: historiker thomas maissen hat im herbst 2010 eine viel gerühmte neue schweizer geschichte auf den tisch gelegt, mit der er die bedeutung der bürgerlich-fortschrittlichen kräfte ausgehend vom 19. jahrhundert für die etablierung des politischen systems herausarbeitete und betonte, das projekt schweiz sei nie fertig geworden, dafür traditionsbewusst immer unterwegs gewesen – so auch heute.

die antwort auf die in der heutigen nzz am sonntag aufgeworfenen frage lautet für maissen kurz und bündig: “Nein.”

denn der leidensdruck sei zu klein, um die liebgewordene konkordanz zu verabschieden. wozu auch?, fragt er sich, denn dem land gehe es wirtschaftlich gut. doch die politik sei nicht fähig, rechtzeitig auf entwicklungen in den usa, der eu und supranationalen gerichten zu reagieren.

in seinem beitrag entwirft der historiker mit bündnerisch-finnischen wurzeln sein gegenprojekt. denn thomas maissen ist überzeugt, dass in einer demokratie eine regierung, die ihre gemeinsame basis verloren habe, demissionieren müsse, um dem (neuen) regierungsprogramm der erfolgreichen parteien platz zu machen.

die wählerInnen schenkten bei wahlen ihren parteipolitischen favoriten ihr vertrauen, und sie sollten vier jahre später überprüfen, ob das verantwortungsvoll wahrgenommen worden ist oder nicht, ist sein argument.

in der schweiz der gegenwart heisst dies für den geschichtsprofessor in heidelberg, das überholte konkordanzsystem aufzugeben und durch eine bürgerliche koalition aus svp, fdp und cvp, allenfalls unter einschluss von bdp, evp und glp abzulösen. angesichts der 30 prozent linksgrünen wählerInnen in der schweiz garantiere das für längere zeit eine mehrheit.

angeführt werden solle die neue bundesregierung durch die svp, die ende jahr drei bundesräte bekommen solle, dafür aber auch verantwortung übernehmen müsse. das bürgerliche zentrum aus fdp und cvp solle vier sitze in der bundesregierung haben, um weiterhin die mehrheiten ausmachen zu können. die sp dagegen habe nichts mehr in der regierung verloren, und auch die grünen würden keine alternative hierzu bieten.

klassische einwände, wie die wirkungen der direkten demokratie, des föderalismus und der gemeindepolitik, welche die konsenssuche erzwingen würden, lässt der vordenker der bürgerlichen nicht gelten. mindestens als experiment befürwortet er einen systemwechsel, um zu sehen, was an der konkordanz dran ist – und was nicht.

denn diese sei im 20. jahrhundert angesichts der sprachkulturellen spaltung nach dem ersten weltkrieg, der sozialen gegensätze in der wirtschaftskrise und der äusseren bedrohung durch den nationalsozialismus entstanden. krisen im system seien üblicherweise nur bei umstrittenen personenentscheidungen wahrgenommen worden. die inhaltlichen probleme habe man erst nach 1989, dem fall der berliner mauer und dem ende des kalten krieges, realisiert. jetzt sei die zeit reif, die konsequenzen zu ziehen.

ohne das würde die schweiz nach maissen in einer paradoxen situation verharren: die rechte fordere mit einer bisher unbekannten rhetorischen brutalität die fortsetzung, was in der nachkriegszeit konkordanzpolitik gewesen sei, während die gemässigten ihre umgestaltung an den veränderten internationalen rahmen forderten. beide seien auf einem auge blind: die gemässigten unterschätzten die heftigkeit eidgenössischer konflikte, die auch in bürgerkrieg ausufern könnten, und die nationalkonservativen negierten die politischen voraussetzung des wirtschaftlichen erfolgsmodells. nötig sei deshalb eine neue verbindung, die auf beiden augen sehe!

maissens diagnose kann man durchaus folgen. seinen schluss kann man aber ebenso bezweifeln. denn ob die nationalkonservativen kräfte der schweiz, die sich in den letzten 20 jahren in form einer neuen svp gesammelt haben, willens sind, verantwortung zu tragen, wenn die wählerstimmen nicht weiter steigen, kann man bezweifeln. anfechten kann man auch, dass ein übergang zur einem regierungs-/oppositionssystem ohne gründliche institutionelle veränderungen dauerhaft nicht zu haben ist. 2008 war der belegt dafür. schliesslich fragt man sich auch, ob es richtig ist, einen neuen bundesrat zu zimmern, ohne die programmatischen anforderungen an die regierungsarbeit vorher zu erörtern.

so zweifle ich nicht, dass ein bundesrat ohne sp in der lage ist, die bürgerlichen interessen innenpolitisch besser einzuschätzen, ich bin aber sehr unsicher, dass er angesichts der kulturellen spaltungen auch aussenpolitisch das augenmass finden würde.

in meiner optik gibt es für die bundesratswahlen 2011 nicht nur einen ausweg, sondern drei szenarien gibt: erstens die von maissen skizzierte entwicklung zu einer liberalkonservativen nationalen sammlung, zweitens den ersatz von eveline widmer-schlumpf durch einen konkordanten svp-vertreter (und damit die rückkehr zur zauberformel) und drittens einen unkontrollierten übergang zur kleinen konkordanz mit dem zentrum und einem der beiden politischen flügel in der regierung.

was sich davon durchsetzen soll, würde ich nicht unabhängig vom wahlausgang beantworten, auch nicht von der fähigkeit, im wahljahr aufzuzeigen, wo zwischen den blöcken politische gemeinsamkeiten bestehen, die nicht nur im momentanen spektakel interessant erscheinen, sondern auch in der geschichte sinn machen werden.

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décroissance will in bern wachsen

es war eine unübliche beilage, die gestern mit den berner zeitungen kam: “Décroissance – Die Mutmacherin” hiess sie. aufgerufen wird damit, sich vom wachstumszwang zu befreien. 120’000 potenzielle leserInnen hat man so bedient, denn die neue politökonomisch inspirierte bewegung will rasch anhängerInnen gewinnen.

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immer mehr städter und städterinnen wollen wissen, woher ihr rüebli kommt

das visuelle am titelblatt des maganzins sprach mich nicht an. eine soziokulturelle beilage, wie man in bern jenseits des mainstream silvester feiern kann, dachte ich mir zuerst. dann blieb ich beim stichwort “mutmachen” hängen – und begann mich zu interessieren.

das wachstum in den ländern des nordens könne nicht die lösung sein, las ich im editorial von philipp zimmermann, student der geschichte und präsident der grünen in spiez. vielmehr sei der wachstumszwang das hauptproblem. unterlegt wurde das in der folge mit dem neuesten buch der bekannten publizisten urs p. gasche und hanspeter guggenbühl. “Schluss mit dem Wachstumswahn – Pladoyer für eine Umkehr” ist ihr titel und passt genau ins konzept der décroissance.

entstanden ist die bewegung in frankreich innerhalb der grünlinken aktivistInnen. bisher fand sie vor allem in der französischsprachigen schweiz unterstützung. im märz 2010 fanden sich einige berner sympathisantInnen in der brasserie lorraine zusammen und beschlossen den brückenschlag über die sprachgrenze. basisdemokratisch und offen versteht man sich. im käfigturm, dem alten gefängnis, das zum polit-forum der eidgenossenschaft umgebaut worden war, wagte man sich mit einer vortragsreihe erstmals an die öffentlichkeit. im magazin ist so ein “abc der décroissance” entstanden, das einem das weltbild der neuen bewegung handlich erschliesst.

scharf kritisiert wird etwa der green new deal, der basis des wirtschaftskonzepts der schweizer grünen werden könnte. widersprochen wird ihm, weil er, in anlehung an den new deal des amerikanischen präsidenten roosevelt, ein neuer wachstumspakt sei, um mit ökologisch ausgerichteten wachstum aus der wirtschaftskrise heraus zu finden. das wirkt für die décroissance-leute wie klimaretten mit easy-jet – und ist damit schon im ansatz diskrediert.

wer in rom nach mailand wolle und im zug nach neapel sitze, müsse umsteigen, nicht die verlangsamung der fahrt verlangen, lese ich einige seiten später. nullwachstum wird so begründet, das ohne arbeitslosigkeit möglich sei. wenn die notwendige umstrukturierung langfristig vorbereitet werde, verlaufe der übergang ohne soziale härten, verspricht der deutsche buchautor helmut knolle. und adriano mannino, philo-student und juso-aktivist in zürich, propagiert das grundeinkommen zur absicherung aller, sollte es nicht klappen.

wenn sich die männer in der broschüre mit der theorie befassen, sind die frauen für die praxis zuständig. ursula schmitter, familienfrau in interlaken, nimmt sich die landwirtschaft vor. empfohlen wird die ernährungssouveränität, die, wie die kleinbäuerliche via campesina, auf selbstversorgung, lokale und regionalen handelt setze. was das im wg-alltag heisst, führt politologin marina bolzli vor. soliTerre, die sich für direkte verträge zwischen produzenten und konsumenten stark macht, liefert den wöchentlichen gemüse- und salatkorb in die vegetarier-haushalte. anti-speziesismus müsse genauso selbestverständlich werden wie anti-rassismus und anti-sexismus, heisst es im weiteren.

es ist ein kunterbund an gelebter alternativer lebensweise, harscher globalisierungskritik und linker ideologiesause, die einem da geliefert wurde. einiges ist mir aus meiner studentenzeit bekannt, vieles ist der ist-zeit angepasst und weniges wirkt auch ein wenig wie eine säkulare religion. verantwortet wird das alles von antidot, einem verein, der meist die woz beliefert, dank grosszügigen spenden aus dem leserInnen-kreis (selbstdeklaration) nun auch via bund und bz 120’000 neue interessentInnen ansprechen konnte.

wow, dachte ich mir, und ertappt mich beim hauptwiderspruch der gross angelegten marketing-aktion: die bewegung décroissance will unbedingt wachsen. sie wird es auch, wie die junge schriftstellerin bolzli selbstbewusst prophezeit. denn immer mehr städtische konsumentInnen wollen wieder wissen, woher ihr rüebli kommt. und das treibt auch die alternative ökonomie an.

stadtwanderer

die schweizer medien – les médias suisses

ein thema – zwei bücher, eine recherche – zwei perspektive, eine buchvernissage – zwei preise!

0-3413478richard aschinger spricht leise. die worte kleben ein wenig an seinen lippen. seine augen sind fest auf das manuskript gerichtet, das er in seiner recht hand hält. mit der linken gibt er, wenn es ihm wichtig wird, den takt vor. verhaltener protest eben. dann erhebt sich sein blick ein wenig über den brillenrand hinaus, sucht das publikum, um es etwas verdeutlicht anzusprechen. wenn er dabei seinen kopf leicht bewegt, fallen die ungekämten haare etwas weniger auf.
viele jahre hat der gestandene und gealterte journalist über und für die schweiz berichtet. aus new york, aus zürich und aus bern. internationales, nationales und lokales hat ihn stets interessiert. für letzteres ist der redaktor des “tagi” und des “bund” sogar mit einem preis ausgezeichnet worden. seither wirkt er als freier autor – vor allem über die entwicklungen der medienlandschaft schweiz. das ist nicht nur selbstbeschäftigung, das ist auch eine grundfrage zur zeit.
das buch, das aschinger verfasst hat, heisst “Die News-Fabrikanten. Schweizer Medien zwischen Tamedia und Tettamanti”. vielleicht ist das dem verlag schon etwas peinlich, weil diese news nur wenige tage nach dem druck schon etwas antiquiert wirkt. deshalb listet der europa-verlag das buch unter “Schweizer Medienmachen. Schleckzeug statt Information”. so wird wohl die zweite auflage heissen, um etwas zeitloser gültig zu sein.

eclectica_infopop_couv250dieser titel ist auch deutlich näher an der französischen version. geschrieben hat sie christian campiche. benannt wird sie “Info-Popcorn. Enquêtes au coeur des médias suisse”. das trifft das projekt genauer, denn entstanden ist, nach vielen jahren der absenz, wieder einmal eine kritische gesamtschau zum stand der schweizer medien.
campiches auftritt bei der vernissage ist eleganter als der von aschinger. das beginnt schon beim grau melierten haar, das der riese fast zwei meter über dem boden trägt. seine worte ans berner publikum sind auch gewählter, aber nicht minder deutlich. dafür hat auch welsche journalist ein manuskript mitgebracht, und er hält es fest in beiden händen, genauso wie er seinen gegenstand zupackend vor augen hatte.

recherchiert haben die beiden medienkollegen gemeinsam. ihr thema: der zerfall der medien angesichts der konkurrenz auf dem werbe- und medienmarkt, die neuorganisation der presse in form von konzernen und die fragile rolle der öffentlichen meinung in der mehrsprachigen demokratie der schweiz. wahrlich, zwei bücher zur zeit, und vorteilhaft, dass wieder einmal ein thema nicht nur aus zürcher oder genfer optik behandelt wird und das verfasste das als schweizerisch gilt, sondern ein bilingues projekt realisiert wurde.

getextet haben die beiden aber unabhängig von einander, nur gegengelesen haben sie die manuskripte, die es seit dieser woche zu kaufen gibt. ich bitte nach der buchpremiere beide um ein autogramm. je eines, dass die medien auf der anderen seite des röschtigrabens beschreibt. richard aschinger ist ganz verlegen, braucht ein weile, bis er die situation rafft, um dann in berndeutschem französisch sich über die liebe zwischen den landesteilen auszulassen, die blüht, weil man sich nicht immer mit der nötigen deutlichkeit verstehe. christian campiche kommt ohne verzug zur sache. deutsch meidet er aber, dafür schreibt er in sauberem französisch, tamedia (und tettamanti) seien alleweil besser als hersant aus frankreich.

was in ihren büchern steht, weiss ich noch nicht. die buchankündigungen und die ersten buchbesprechungen versprechen viel. zum beispiel eine analyse zur lage der nation. denn ohne medien gäbe es keine gesellschaft mehr. und genau diese medien unterlägen einem rassanten wandel. das alles nehme ich mal zur kenntnis, mit vorsicht jedoch, denn schon im klappentext lese ich, wie die pr in den journalismus vordringt, wie die der markt alles verändert, was um wichtig ist. das ist wohl auch im buchmarkt so.

a propos buchmarkt: 38 francs bezahlt man für die version von campiche, 26 franken für die von aschinger. nur während der buchvernissage in der münstergasse-buchhandlung waren beide noch gratis …

stadtwanderer

die stadt neu denken

es war eine gediegene atmosphäre. im hotel bellevue tafelten, wie jeden dienstag, die berner rotarier. dazu erhalten sie einen vortrag. gestern nun war ich an der reihe. um über die stadt in geschichte, gegenwart und zukunft nachzudenken.

tschaeppaet_berngelingt bern der sprung aus der tiefe nach ganz oben, wie es die hauptstadtregion beabsichtigt?

peter ziegler, präsident der vereinigung, selber politikwissenschafter und ex-chefredaktor des “bund”, hatte mich als stadtwanderer eingeladen, beflügelt von den sensibilitäten für das urbane, etwas über die lage in bern zu berichten. die jüngste entscheidung, die haupstadtregion schweiz zu gründen, bildete einen unerhofft eindrücklichen rahmen.

meine these zum gestrigen vortrag lautete: in der schweiz dominiert das selbstverständnis als ländliche kultur. die gemeinde ist die kleinste zelle der politischen gemeinschaft. letztlich würde sie sich gerne autonom verwalten. doch sie hört zum ämtern, kantonen, zum bund, und sie teilt sich ihre aufgaben mit den verschiedenen staatlichen ebenen. ihre überragende bedeutung erhielt die gemeinde in den 1830er jahren. die herrschaftlichen verhältnisse des ancien régimes wurden durch das aufbegehrende volk gründlich zerschlagen. das zentralistische modell, das die franzosen während der helvetischen republik einführen wollten, wurde abgelehnt, denn das dezentrale galt sichere bremse gegen die ansprüche der partrizier, zünfte und städtbürger, die sich immer als etwas besseres sahen.

damit geriet auch die schweizer stadt, politik-, verwaltungs- und wirtschaftszentrum in einem gewesen war, in die krise. ihre zukunft lag nicht mehr in der politisch abgesicherten sozialen herrschaft, denn mit der trennung von stadt und kanton und der gleichsetzung von stadt und gemeinde verlor sie ihre herausragende stellung. für die wirtschaftliche entwicklung in die breite, auch für die demokratisierung der politik war das unerlässlich – und anfänglich auch verkraftbar, lebten doch in der agrargesellschaft nur 10 prozent der menschen in der schweiz in einer stadt.

doch heute ist das alles ganz anders. mehr als vier fünftel der ökonomischen wertschöpfung werden in den urbanen gebieten erbracht. mehr als zwei drittel der einwohnerInnen leben in einer stadt oder in einer agglomerationsgemeinde rund herum. die industrialisierung hat die städte vergrössert, verstärkt, aber auch verändert. um den mittelalterlichen kern vieler städte sind neue quartiere entstanden, bisweilen sozial gehoben, bisweilen sozial bescheiden. die verlagerung der ökonomischen aktivitäten vom zweiten in den dritten sektor hat die gerade in den städte die neuen dienstleistungen im gesundheitswesen, in bildungsstätten, im handel, in banken, in versicherungen rasch anschwellen lassen. das leben auf dem grünen wurde lebensinhalt der städterInnen und hat das urbane von den zentren hinaus in die peripherien getragen. aktuelle schlägt das pendel wiederum. nicht zuletzt mit der neuen migration ist die kernstadt wieder attraktiver, wirtschaftlich, sozial und kulturell, und sie boomt, mit allen vor- und nachteilen.

mit dieser rasanten entwicklung von der stadt des 18. zu jener des 21. jahrhunderts hat die politische entwicklung nicht mitgehalten. sie ist im wesentlichen im volksdenken des 19. jahrhunderts stehen geblieben, verbunden mit einigen, eher technokratisch ausgerichteten neuerungen, die in der nachkriegszeit schrittweise eingeführt worden sind. die probleme hat das nicht wirklich behoben: so fallen die steuern dort an, wo man wohnt, nicht aber wo man arbeitet oder die freizeit verbringt. mit querfinanzierungen versucht man das gröbste zu vermeinden. doch kann das nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in vielem über quartierfragen entscheiden, nicht über kernfragen.

den versuch, das alles wieder ins lot zu bringen, erleben wir gegenwärtig, insbesondere in bern. der kanton hat sich dezentralisiert, aber auf mittlerer stufe, denn er will mit regionalkonferenzen übergeordente fragen wie verkehr, soziales und kultur besser koordinieren. idealistInnen halten das für ein viel zu schwerfällige staatsreform, fordern, bern neu zu gründen, das heisst durch fusionen starke kernstädte in den wichtigen agglomerationen entstehen zu lassen. noch findigere zeitgenossen haben ermittelt, dass es dem kanton bern besser gehen würde, wenn er sich nach basler vorbild in bernstadt und bernland teilen um noch mehr subventionen zu erhalten. das alles zeugt davon, dass man nach neuen politischen strukturen sucht, die der gewandelten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen realitäten rechnung tragen. weil die jetzigen nicht mehr greifen.

eines wurde mir bei den vorbereitungen zum gestrigen vortrag klar: die urbanität der schweiz hat sich in den letzten 15 jahren stark entwickelt. die ruralität ist in die defensive geraten. gerade deshalb erhebt sie sich in den hergebrachten strukturen so kraftvoll – vor allem aber als abwehr alle dessen, was man mit stadt und abstieg auf dem land in verbindung bringt, dem der abstieg effektiv droht. das blockiert uns gegenwärtig, was der bewältigung von stadt/land-konflikten wenig dienlich ist. es blockiert aber auch die perspektivische betrachtungsweise. man denkt nicht mehr an das, wass die städte in zukunft für den staat bedeuten werden, was sie brauchen, um international zu bestehen, und innerhalb der schweiz ihrer effektiven rolle gerecht zu werden.

man denke, hörte ich nach meinem vortrag einen kommentar, stadtführungen seien fürs gemüt, dabei seien sie eine herausforderung für den intellekt.

stadtwanderer

übrigens: die informativsten politische städteporträts der schweiz findet man auf dem web unter badac.