hauptstadtregion gerade noch rechtzeitig aus der taufe gehoben

nach vielen diskussionen, zahlreichen initiativen und einer planungsstudie ist die hauptstadtregion schweiz aus der taufe gehoben worden.

gruendungsvorstandder gründungsvorstand mit den co-präsidenten rickenbacher und flury an der spitze

fünf kantone, 17 städte und 3 regionale organisation haben am letzten donnerstag die hauptstadtregion schweiz gegründet. co-präsidenten des vereins sind vorläufig andreas rickenbacher, sp-regierungsrat und volkswirtschaftsdirektor des kantons bern, und kurt fluri, stadtpräsident von solothurn und fdp-nationalrat.

drei ziele verfolgt der verein:

• die gemeinsame identität stärken und die vernetzung verbessern, um das vorhandene potential der region optimal zu nutzen.
• die nähe zur politik vermehrt als wirtschaftliches kapital nutzen und die damit verbundene wertschöpfungskette stärken.
• die hauptstadtregion schweiz im schweizerischen raumkonzept schweiz gleichwertig positionieren wie die metropolitanregionen.

das ist lobenswert: denn die vorläuferorganisation, der espace mittelland, musste schliesslich ohne grosse ausstrahlung erlangt zu haben, beerdigt werden. nun hat die politik angebissen, realistische vorgaben gemacht, und ein erstes budget gesprochen. damit lässt sich ab 2011 ein netzwerk aufbauen, das einfluss nimmt, auf kommende raumanalysen, und auf institutionelle neuerungen.

symbolisch wurde der verein im inselspital gegründet, einem der zentralen wirtschaftsfaktoren der hauptstadtregion. denn das medizincluster der region kann sich sehen lassen. möglich wäre es auch gewesen, die gründung mitten im bahnhof bern vorzunehmen, weil dieser für die vernetzung des westlichen mittellandes absolut zentral ist.

im arbeitsprogramm 2011 figurieren zahlreiche konkrete projekte:

• hauptstadtfunkition: wissenschaftliche analyse der volkswirtschaftlichen bedeutung der hauptstadtfunktion und definition von massnahmen zur stärkung der entsprechenden wertschöfpungskette,
• s-bahn: aufbau eines integrierten öv-gesamtsystems mit einer leistungsfähigen s-bahn als rückgrat,
• öv-knoten bern: vertretung des projekts «Zukunft Bahnhof Bern» durch gemeinsame lobbyarbeit auf aundesebene,
• raumkonzept schweiz: zusammenarbeit bei stellungnahmen und gemeinsame lobbyarbeit bei der umsetzung des raumkonzepts,
• universitätsspital insel und weitere allianzpartner»: positionierung der hauptstadtregion als kompetenzregion für ein anwendungsbezogenes gesundheitswesen im in- und ausland,
• mehr- und fremdsprachige und internationale matura: schliessung einer lücke in der hauptstadtregion.

ich freue mich, dass das netzwerk noch knapp rechtzeitig fertig geworden ist, um die wichtigste aufgabe zu erfüllen, wie ich sie auf der website formuliert habe: “Berns Stärke als Politzentrum hat nationale Reichweite. Darauf muss man setzen und Berns Rolle national ausrichten – als zentrale Schaltstelle der drei schweizerischen Metropolitanräume Zürich, Basel und Genf/Lausanne.”

stadtwanderer

lob dem schwindenden gemeinwohl

“Selbstverständlich zurückzugreifen auf die Konensressourcen eines von einer breiten Mehrheit geteilten Gesellschaftsvertrages ist heute nicht mehr möglich.” georg kohler, der das sagt, forschte als professor für politische philosophie an der universität zürich unter anderem zum schweizerischen selbstverständnis. darüber schreibt er in der woche nach dem ja zur ausschaffungsinitiative in der nzz am sonntag ein essay zu lage der nation.

011106BEX500wenn politik zur pokerrunde jede(r) gegen jede(n) verkommt, stirbt das gemeinwohl – und damit auch die fähig, in einer welt des globalen verhandels sinnvoll bestehen zu können.

kohler zentrale frage lautet “Wie kann ein Land, dessen Lebensformen stets darin bestanden hat, in grösstmöglicher Weise neutral zu bleiben, mit der Tatsache einer mehr und mehr supranational regulierten Welt fertig werden?” seine antwort ist nicht einfach: kluge politik erfordere heute anpassung an normen, die man nicht selber gesetzt habe; sie verlange ein gefühl für die stimmungslagen von funktionseliten, welche die multipolare welt beherrschten.

kohler weiss es selber: das alles widerspricht dem kollektiven unbewussten der schweiz. dieses sei durch den krieg bestimmt worden, aus dem der wille zum zusammenhalt jenseits kultureller unterschiede entstanden sei. heute bestimme indessen nicht der krieg das geschehen, sondern die verhandlung. in verhandlungen zu bestehen, setze gemeinsame ziele voraus, die man kohörent verfolge. genau daran kranke die schweiz.

denn die inneren polarisierungen hätten tiefe gräben in den boden für eine gemeinsamen strategie jenseits der abkapselung geschlagen. anders als auch schon, seien nicht mehr verschiedene interessen die ursache. vielmehr gehe es um das eigene, den kampf um das selbstverständnis der schweiz.

die nationalkonservative seite habe mit ihrer abgrenzung von allem zunächst die besseren karten, sei es durch den rückgriff auf mythen in der geschichte oder durch die mobilisierung von unsicherheit angesichts realer veränderungen. doch all das sei trügerisch, hält kohler dezidiert dagegen, denn in der jetztzeit könne man sich gar nicht mehr abkoppeln. die bewältigung der grossen probleme der gegenwart liesse sich nur druch kooperationen lösen.

zu dem, schliesst kohler, ist die schweiz der gegenwart nicht mehr in der lage. innerlich zerrissen, beschäftige sie sich nicht mehr mit dem aussenpolitischen notwendigen, sondern nur noch mit dem eidgenössisch verträglichen. sie wähle nicht mehr den kompromiss, sondern setze auf extreme. das sei gefährlich. sinnvoller sei die suche nach dem gemeinwohl, was stets das “gut schweizerische” gewesen sei. wer das beschädige, falsch oder überflüssig finde, “der tue dem Land keinen Dienst”, meint philosoph georg kohler.

stadtwanderer

mitten in der konservativen revolution?

es ist ein grosses wort, die konservative revolution. momentan ist es in vieler leute mund, um den umbruch zu kennzeichnen, den wir gegenwärtig erleben. und so frage ich meine kritische leserschaft: stimmt das alles?

2010-48-cover-smallumittelbar nach den sieg der svp bei den national- und ständeratswahlen 2007 proklamierte christoph mörgeli die konservative revolution. der trend verweise nach rechts, und die svp müssen in medien, in schulen und in der verwaltung gestärkt werden.

spätestens mit der abwahl von christoph blocher aus dem bundesrat galt das papier des zürcher historikers als überholt. auch bei mir. angesagt war eine sachorientiert politik unter partnern mit respekt füreinander. die svp schlingerte eine weile, ging vorübergehend in die opposition und musste zusehen, wie sich der konkordanz-orientierte flügel abspaltete und zur bdp wurde.

mit der finanzmarktkrise begann jedoch ein neues kapitel auch der schweizer politik. das vertrauen in banken wurde erschüttert, als der staat der praktisch insolventen ubs mit 68 milliarden franken aushelfen musste. hinzu kam der druck der usa, aber auch der eu mit den schwarzen listen, der zur aushöhlung des bankgeheimnisses und neuen doppelbestreuerungsabkommen mit zahlreichen staaten führt. die politische aufarbeitung des ganzen ist noch im gang; sie hat den missmut der bürgerschaft gestärkt. die abstimmungsniederlagen der behörden bei der minarettabstimmung, aber auch bei der bvg vorlage zeigten dies exemplarisch.

seither ist die stimmunglage mehr oder minder aufgewühlt. die debatte um die anti-abzocker-initiative des schaffhauser unternehmers thomas minder steht exemplarisch hierfür. versuche der beruhigung kommen vom politsichen zentrum her, das sich in der allianz der mitte neu formiert hat. die vorgezogenen bundesratswahlen diesen herbst hätten diese entwicklung verstärken sollen. bis zum tag der wahl glaubte man das auch; doch mit der departementsverteilung brachen die politischen gegensätze an persönlichen rivalitäten wieder auf.

im zurückliegenden abstimmungskampf war die maximale polarisierung angesagt: svp und sp kämpften bedingungslos für ihre initiativen und verbreiteten ein gefühl von wahlkampf 2011. die medien mischten sich teils mit kampagnenjournalismus heftig ein, und der spiegel der emotionen stieg im ganzen land fast täglich an. am ende obsiegte die svp dreimal, alle andere wurden marginalisiert. trutzig wie die volkspartei ist, versammelt sie sich morgen in der romandie, selbst wenn sie dabei im tiefen schnee tagen muss. auch wenn das alles nicht freiwillig geschieht: politische manifestationen unter freiem himmel haben etwas urtümliches an sich, sind zeichen des politkulturellen wandels.

in der tat, ist das wort der konservativen wende seit dem abstimmungswochenende wieder in vieler leute mund. vom programm von mörgeli spührt man die einflussnahme der svp auf die schule. verschiedenen harmos-volksabstimmungen, die mundart-debatte, und das svp-programm für die volksschule haben das gesellschaftspolitische klima aufgemischt. der direkte übergriff auf die medien scheiterte zwar, wie das krasse beispiel der baz zeigte. dennoch ist unübersehbar, dass der einfluss der svp auf diverse zeitungen gestiegen ist und das sich in den neuen e-medien eine eigene szene ausbreitet. einzig bei der verwaltung spürt man von der angekündigten konservativen revolution noch wenig. deren politisierung wäre wohl auch ein fanal.

dazu passt, dass dieser tage diverse einschätzungen des sich abzeichnende klima ins gleiche horn stossen: die weltwoche heute ahmt einen meiner artikel zur befindlichkeit der schweiz auf dem stadtwanderer nach, indem ich über das thema des rückzugs nach innen spekulierte. unverdächtige politologen wie andreas ladner sehen ähnliches am beispiel der entwicklungen bei volksabstimmung zu fragen des fremden. journalisten und experten tendieren also zur zustimmung, und kaum ein intellektueller dieses landes erhebt seine stimme, um uns vom gegenteil zu überzeugen.

heute morgen ertappte ich mich heute bei der lektüre eines meiner interviews für eine jugendzeitschrift, das nich noch vor der abstimmung gegeben hatte, wie ich den zeitgeist vor einem monat deutete: die schweiz gibt sich bei weitem nicht auf; ihr freiheitswille ist ungebrochen. ihre moderne identität ist angesichts von wirtschaftslage und gesellschaftsdiskurs in eine krise geraten. gefragt ist, was angesichts der aktuellen unsicherheit von dauerhaftem wert erscheint.

stecken wir mitten in der konservativen revolution?

stadtwanderer

wie viele kriminelle ausländerInnen vor ort brauchte es für ein ja zur ausschaffungsinitiative?

es kommt nicht auf den ausländerInnen-anteil an, ob eine gesellschaft bereit ist, mit den Menschen, die sich dahinter verbergen, korrekt umzugehen. es kommt vielmehr auf die bereitschaft einer gesellschaft an, sich dieser herausforderung zu stellen. dabei geht es nicht einmal um die problematik vor ort, sondern um die problematik mit unseren bildern der orte.

Tagesschau vom 29.11.2010
mehr dazu hier

um gleich mögliche einwände auszuräumen: es geht mir nicht darum, den volksentscheid vom sonntag zu kritisieren. er steht, und er ist unwiderruflich. es geht mir um grundsätzlicheres: nämlich um die frage, was zum volksentscheid geführt hat.

die übliche argumentation lautet: je mehr ausländerInnen es an einem ort hat, desto mehr kriminalität durch ausländerInnen gibt es- und umso wahrscheinlicher ist ein ja zur ausschaffungsinitiative gewesen.

“mitnichten!”, muss ich entgegnen.

am vergangenen sonntag sagten kantone wie appenzell innerrhoden oder uri weit über dem mittel ja zur ausschaffungs-initiative, derweils vor allem baselstadt sie mehrheitlich verwarf. da wiederum ist der ausländerInnen-Anteil hoch, und das trifft auch auf den prozentsatz der ausländerInnen unter den straffälligen zu. in appenzell innerrhoden oder uri wiederum gilt das nicht.

das sind nicht einfach zwei herausgegriffene beobachtungen. es ist ein verallgemeinerungsfähiger zusammenhang – und das sowohl in der deutsch- wie auch in der französischsprachigen schweiz.

falsch wäre der schluss, je mehr ausländerInnen wir in der schweiz hätten, desto geringer wäre die annahmechanche von initiativen wie derjenigen zur ausschaffung krimineller ausländerInnen. denn das ist die zeitliche analyse.

richtig ist aber die folgerung, dass es regionen gibt, die zu jeder zeit mit problemen mit ausländerInnen besser zu rank kommen, als solche, die schon an geringen schwierigkeiten scheitern.

warum? zunächst hat es etwas mit lokalen mentalitäten zu tun. herrschen in einer region nationalkonservative werte vor, ist die abgrenzungsbereitschaft hoch. denn das geht häufig einher mit der forderungen einher, schweizerInnen gegenüber ausländerInnen generell zu bevorzugen. und es korrespondiert mit dem wunsch, sich gegenüber dem ausland abzugrenzen. das ist in gegenden mit vorherrschenden linksliberalen werten beileibe nicht der fall. denn da ist gleichberechtigung jenseits von nationalitäten im schwang, und eine offene schweiz wird unverändert befürwortet.

damit bin ich bei meiner zentralen feststellung: es kommt nicht nur auf die zahl, zusammensetzung und rechtsverstösse von ausländerInnen in der einheimischen bevölkerung darauf an, um zu bestimmen, wie wahrscheinlich es ist, dass man initiativen wie die zur ausschaffung krimineller ausländerInnen befürwortet. es kommt auch auf die aufnahmebereitschaft der lokalen kulturen an.

dies korresponiert mit der generellen konfliktlinie zwischen konservativer und liberale politkultur. es ist aber auch abhängig vom mediale diskurs, von der politischen werbung und von der politisierung durch parteien. denn diese politischen akteure verfestigen latent vorhandene bilder von ausländerInnen, von kriminalität und von den zusammenhängen zwischen beidem.

wo es zu solch zementierten images über ausländerInnen gekommen ist, wird über diese abgestimmt, egal, ob es lokale probleme mit ausländerInnen gibt oder nicht. die Angst davor, zustände zu bekommen, wie man sie vom hören-Sagen aus anderen orten zu kennen glaubt, lässt einen präventiv ja sagen.

und nun die pointe: in der mediengesellschaft multiplizieren sich die darstellungen gerade auch von menschen. die medialität beenflusst unserer wahrnehmungen der realität – und unsere modi der entscheidungen von sachlich bis aufgebracht.

deshalb kann es auch sein, dass es gar keine kriminelle ausländerInnen vor ort brauchte, damit man ja zur ausschaffungsinitiative sagte!

stadtwanderer

die macht verlagert sich zu den medien, und der journalismus wird durch pr ersetzt.

die kette der krisenbefunde zum zustand der mediendemokratie schweiz reisst nicht ab. jetzt hat sich auch andreas blum, historiker, politiker und journalist im ruhestand, pointiert zu wort gemeldet. zustimmung und widerspruch sind absehbar.

__1_588209_1195726654andreas blum, historiker, früherer schauspieler, ehemaliger sp-nationalrat und vormaliger direktor von radio drs.

wer andreas blum kennt, weiss dass er ein brillianter rhetoriker ist, dass er etwas zu sagen hat, und dass er das unmissverständlich vermitteln kann. nun hat er sich in luzern an einer medientagung in die laufende debatte über den zustand der medien, und daraus abgeleitet, der politik, geäussert. und das tönte so, und liesst sich so:

die verantwortungsgemeinschaft von medien und demokratie ist ernsthaft gefährdet. die medien diktieren die politische agenda. die information steigt, gleichzeitig schwindet der diskurs, denn die gesteigerten nutzungsmöglichkeiten lösen die öffentlichkeit in ihrem komponenten auf.

den faszinierenden innovationen durch die digitalisierung von wort und bild stellt blum das bedrohungspotenzial der demokratie durch medien gegenüber. die diversifizierung des angebots gehe mit einer nivellierung des angebots einher. und der wirtschaftliche überlebenskampf gefährde die medienvielfalt.

alles in allem hält blum einen substanzverlust der politik fest. die macht verlagere sich zu den medien, und der journalismus werde seinerseits durch pr ersetzt. das alles störe die balance vom macht und verantwortung erheblich. “Politische Entscheidungen werden käuflich”, rief der referent aus.

wenn blum bei der analyse durch vielen zeitgenossen zustimmung finden dürfte, ist mit widerspruch bei den schlussfolgerungen zu rechnen. denn blum fordert eine neue staatliche medienordnung, unter einbezug des internet. und er schlägt vor, die gebührengelder der srg so umzuverteilen, dass qualitativ anspruchsvolle tageszeitungen gestützt werden. der srg rät er, die grundversorgung in allen sprachregionen sicherstellen, darüber hinaus einen publizistischen wettbewerb ermöglichen.

wird das zur wahrheit in den medien etwas beitragen, frage ich als kleines medium meine leserschaft?

stadtwanderer

was ist das für eine zeit, in der wir leben?

in was für zeiten wir leben, wollte ich dieser tag von verschiedenen personen wissen? hier drei antworten, die ich diese woche bekommen habe!

fragezeichen_56ja10j039gkoccs4og4s0s8c_c7ydh3wqmzkggw0sgk444w0o4_thzunächst: die lage sei misslich. das haushaltsbudget sei angespannt. krankenkassenprämien drückten, die steuern auch. was auch immer man mache, es gäbe eine busse! zu schnell gefahren, falsch parkiert, oder mal in eine einbahngasse abgebogen. immer bekomme man eins auf dach. die politik sei längst aus dem ruder gelaufen. jeder schaue nur noch für sich. es profitierten die reichen – politisch rechts wie links stehend. die einen seien für mehr freiheit – ihre freiheit beim gnadenlosen geldverdienen. die anderen stünden für mehr staat, der unentwegt abgaben kassiere. vielleicht sei das nicht sehr menschlich, aber unumgänglich: man brauche andere, bei denen man dampf ablassen könne. denn je mehr der kopftopf pfeiffe, umso mehr brauche es ein ventil. mit den ausländern sei alles krasser geworden. selbstverteidigung sei nötig. so schnell wie möglich, und so klar wie möglich. wuff!

sodann, die schweiz sei wie das paradies. man sei fleissig, habe erfolg, verdiene gut. wer nur wolle, der könne aufsteigen. jeden tag im büro, jeden abend an der börse. am ende läppere sich was zusammen. wer eisern an sich glaubt, komme voran. leistung lohne sich noch, investition in sich selber auch. göttis seien vorteil, aber keine sicherheit, denn letztlich zähle der eigene wille. manchmal schaffe das probleme, im alltag, zu hause, mit der beziehung. dann müsse man sich neu arrangieren, um wieder angreifen zu können. das leben sei ein kampf. würden alle so denke, wäre die schweiz wie eine oase des fortschritts in einem mehr des rückschritts. man müsse auf der hut sein, denn es gäbe viele neider, die am liebsten aufspringen und von anderen profitieren würden. das gehe nicht, denn das lähme. wenn es dem einzelnen gut gehe, dann gehe es letztlich allen gut. und wer könne das nicht wollen?

schliesslich, endlich gäbe es einen aufstand gegen die egoismus, gegen die grenzenlose selbstverwirklichung, gegen die ungleichheit der menschen. solidarität sei wieder angesagt, im alltag, in der gemeinde, am arbeitsplatz. mit der lebensgemeinschaft, mit den gemeinnützigen, mit der umwelt. noch seien viele zu wenige bereit, dem profitdenken abzuschwören, ethik und moral wieder platz zu verschaffen. doch täglich würden es mehr, weil man begreife, dass sonst alles kaputt gehe: die erde, die natur, die tierwelt – und schliesslich auch die menschheit. harmonie mit sich und anderen, mit lebenwesen und dem erdball seien angesagt. denn sonst gäbe es gar keine zukunft mehr, nur den untergang. gute lebensverhältnisse seien nicht zu verachten, doch dürften sie nicht zur ausbeutung anderer werden. denn letztlich sei es das ziel, dass es allen besser gehe, wenn immer möglich.

es mag sein, dass die antworten hier etwas knapp zuammengefasst sind. es mag auch sein, dass sie deshalb etwas typisiert vorkommen. doch sind sie authentisch. bei meinen wanderungen über mittag erfahren, von menschen erzählt, mitten in der stadtbeiz, in kleinstädten an guter lage, und in vororten, wo es leben lässt.

und, so frage ich hier weiter: was ist deine zusammenfassung der zeit, in der wir leben?

stadtwanderer

matthäus schiner, der erste schweizer kardinal

wer weiss nichts von der niederlage der eidgenossen in marignano? wohl kaum jemand, der nur das mindeste aus der schweizer geschichte kennt. doch wer weiss, wer die eidgenossen in die folgenreiche schlacht führte? kaum einer, der nicht spezialist ist für die umbruchszeit vom mittelalter zur neuzeit. die nachhilfe.

POSU5_13kardinal matthäus schiner, aus dem goms, führte die eidgenossen in die niederlage von marignano, bevor er an der seite von kaiser karl v. europäische grossmachtpolitik betrieb.

alles begann im goms und endete in rom. matthäus schiner wurde 1465 im oberwallis geboren, den tag hatte man nicht notiert. in como wurde der bub aus mühletal zum priester ausgebildet, 1499 mächtiger bischof in sitten. von da aus herrschte er über die seelen seiner walliser schäfchen, aber auch über wichtige alpenpässe zwischen nord und süd.

das machte schiner unumgänglich. denn 1493 schlossen der könig von frankreich und der kaiser frieden. sie teilten sich das burgundische erbe, und sie hofften danach, ihre macht in oberitalien zu vermehren. schiner war zeit seines lebens ein haudegen, die sich voll und ganz auf die seite des kaisers stellte. das brachte ihm die kardinalsweihe in rom; im gegenzug musste er die begehrten eidgenossen gegen den könig aus paris mobilisieren.

1512 gewannt man in pavia, 1513 in novara je eine schlacht. die söldner in den schlachten führten die gefürchteten eidgenössischen heerführer. diese wiederum lenkt der kardinal aus dem wallis. er warihr grosser stratege. rom ehrte ihn mit dem titel “Befreier Italiens und Beschützer der Kirche”. doch dann kam alles anders, als man dachte: 1515 wurde die schlacht zu marignano geschlagen. es siegten die franzosen unter françois i. 12000 eidgenossen liessen ihr leben für die grossmachtfantasie des walliser kardinals.

danach ging schiner nach zürich, denn im wallis war er nicht mehr willkommen. schiners fenster zu europa öffnete sich mit dem tod von kaisers maximilian 1519. drei könige wollten kaiser werden. der aus frankreich, der aus england und der aus spanien. schiner schlug sich voll und ganz auf die seite von carlos i., der bald darauf als karl v. kaiser wurde. der kardinal zog mit ihm im kaiserdom in aachen ein. gemeinsam mit den truppen des papstes eroberte schiner 1521 mailand zurück – seine persönlich rache für die schmerzende niederlage sechs jahre zuvor.

schiner stand auf dem höhepunkt seiner macht als der lebensfroh renaissance papst leo x.starb. nun war er einer der herausragenden papabili. erasmus von rotterdam, der humanist, empfahl den geistesverwandten als neuen kirchenführer. doch verweigerten ihm die franzosen hartnäckig ihre stimmen, bis schliesslich ein niederländer als kompromiskandidat unter dem namen hadrian vi. papst wurde. schiner folgte ihm ergeben, ohne noch lange zu leben. denn 1522 starb er in rom an der pest. fast schon symbolisch: sein grab wurde zerstört, als die kaiserlichen söldner kurze zeit später die papststadt in der sacco di roma plündern und der weltlichen machtpolitik der kirche mit ihren schweizer helfershelfern ein ende setzten.

matthäus schiner, erinnere ich mich, ist in meinem geschichtsunterricht in der schule nicht vorgekommen. erst als nach dem studium in einem zürcher antiquariat das buch über die 100 wichtigsten schweizer kaufte, erfuhr ich vom berühmten walliser. heute gilt es als global player der europäischen politik, wie ihn der freiburger historiker volker reinhard nennt. in der tat: er ersann und er realisierte auch europäische politik, wie es der konservative philosoph gonzague de reynold einst nannte.

wer weiss, vielleicht ist er genau deshalb bei vielen unbeliebt.
vielleicht ist das so, weil er mit seinern walliser gebrochen hatte.
vielleicht auch, weil er eine religös motiverter hetzer des einfachen fussvolkes war, das in marignano sein leben liess.

stadtwanderer

polit-talk an der poschi-station

ich wartete auf mein poschi. da spricht mich eine ältere frau im wartehäuschen in der berner länggasse an. doch sie verwechselte mich, mit einem beamten bei der gewerbepolizei. als ich mich vorstellte, sagt sie, sie würde mich trotzdem kennen. vom fernsehen. und den abstimmungen. und so ergibt das eine wort das andere.

los ging es mit der ausschaffungsinitiative. sie sei taxifahrerin gewesen, sagte sie mir meine gesprächpartnerin. “wenn du einmal das messer am hals hattest”, fuhr sie fort, “und du nicht mehr weisst, ob du deine familie noch einmal siehst, machst du dir nicht lange gedanken, wie du da stimmen sollst.” sie sei für die initiative, bekannte sie, während sie ein wenig an ihrem wägelchen zog, das aussah, wie eines der post, mit dem man die grossen postfächer lehren kann.

als ich auf den gegenvorschlag zur ausschaffungsinitiative zu sprechen kam, waren wir sofort bei karin keller-sutter. der name sei ihr zu kompliziert, gab die ex-taxichauffeuse offen zu. was sie wolle, sei aber gut. da wisse man, was man habe. sie hätte es gerne gehabt, wenn die st. gallerin bundesrätin geworden wäre. mit simonetta sommaruga sei sie aber auch zufrieden. dass sie keine juristin sei, sei sowieso ein vorteil. die meisten seien keine juristen, fügt sie mit einem augenzwingern bei. gerne möchte ich antworten, ich auch nicht.

doch da wird mir das wort gleich abgeschnitten: der bundesrat sei nicht mehr viel wert. er verpasse jede gelegenheiten, sich beim volk zu empfehlen. er lebe wie die sieben zwerge. dann entschuldigt sie sich umgehend. so habe sie das nicht gemeint, aber viel vertrauen können man da einfach nicht mehr haben. selbst wenn der wirkliche zwerg nicht mehr dabei sei.

damit sind wir nahtlos bei der steuergerechtigkeit. da dampft es gleich von neuem aus dem gesicht meines gegenübers. es sei ja schlimm, dass der villiger nochmals arbeit angenommen habe. nötig habe er es ja nicht mehr gehabt. darum sei es besonders schade, dass er seine unabhängigkeit gegenüber der ubs nicht mehr genutzt habe. es sei beschämend, dass er die ganster habe laufen lassen. doch das sei wohl typisch für die fdp. die nehme es von den kleinen und gebe es den grossen. pelli gehöre auch dazu: sein generalabonnement als parlamentarier habe er gratis. von den anderen wolle er nun mehr geld. nach einer kurzen gedankenpause führt sie aber bei. “ich bin in keiner partei. ich wüsste auch nicht wo. denn darin sind sich alle politiker von links bis rechts einig: dass das volk für ihre dummheiten bezahlen müsse!”

wir verabschieden uns, denn unsere busse fahren in verschiedene richtungen. mir entgeht der nebensatz in der abendkonversation nicht: “machen sie es gut, wenn sie das nächste mal sagen müssen, wie es rauskommt!”

ich werde mich ihrer erinnern …

stadtwanderer

der wanderweg der schweiz

die schweiz ist müde geworden, sagen die kulturpsychologen von demoscope, welche einmal im jahr das klima der schweiz vermessen. sie bleibt in ihrer grundbefindlichkeit zentriert, auch wenn sie sich in den letzten jahren wieder etwas nach innen gewandt hat.

seit einen vierteljahrhundert verfolgt das institut demoscope das psychologische klima der schweiz. dafür befragt es jährlich einmal einen querschnitt der schweizer wohnbevölkerung. herzstück der untersuchung sind knapp 30 werte, die einem wichtig oder unwichtig sein können. sie sind, nach dem vorbild des amerikanischen sozialforschers daniel yankehlovich, so ausgesucht, dass die kombination eine karte gibt von konservativ bis progressiv, von binnen- bis aussenorientiert.

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die schweiz heute: für demoscope ist das eine gesellschaft die beschränkt progressiv und noch etwas beschränkter binnenorientiert ist. in den 00er jahren des 21. jahrhundert hat sie sich von ihrer aussenorientierung um einiges abgewandet. und sie ist etwas weniger progressiv.

in den 26 jahren, in denen man diese art von erhebung macht, hat sich die helvetische gesellschaft von ihrer ausgeprägt konservativen binnenausrichtung gewandet. am klarsten aussengerichtet war man 1986, am progressivsten 2001. seit entwickelt man sich zurück, ohne wieder dort zu sein, wo man startete.

interessant ist, dass verwurzelung, die in den 70er jahren noch der typische wert war, dem materialismus der 80er jahre gewichen ist, die jahrtausendwende durch den hedonismus geprägt war, und heute die müdigkeit ein typischer wert ist.

wenn wir auf dem jetzigen pfad weiter wandern, werden wir bald einmal bei ruhe und ordnung ankommen, vielleicht gar bei einem neuen autoritarismus, oder dann bei der reserviertheit, legt uns jedenfalls das psychologische klima, wie es in adligenswil gemessen wird, nahe.

stadtwanderer

warum wir gründungstage brauchen

aegidius tschudi lebte im 16. jahrhundert. der glaner war politiker, wirkte in sargans, rorschach, baden und schliesslich in rapperswil. wo auch immer er ämter inne hatte, suchte er nach alten verträgen und schriftlichen erzählungen. daras entstanden die ersten geschichtswerke zur schweiz, in denen der heutige 8. november im jahre 1307 von grosser bedeutung war.

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schweizer karte von aegidius tschudi aus dem jahre 1538, welche die alte eidgenossenschaft der 13orte zeigt, im moment als die junge gemeinschaft wegen der reformation in zwei bünde zerfiel.

nach ausbruch der reformation verfasste tschudi seine schweizer chronik. dabei behandelte er die geschichten des raumes, der durch die auseinandersetzung mit den haus habsburg zwischen 1393 und 1499 zusammengewachsen war, angesichts der reformation aber in zwei lager zu zerfallen drohte. wilhelm tell kam dabei zu ehren. der bauer aus dem schächtental avancierte so erstmals zu symbolfigur für urtümliche schweiz, auf die man sich auch bei unterschiedlicher konfession und weltanschauung beziehen konnte. und mit wilhelm tell entstand erstmals auch die gründungssage der eidgenossenschaft.

die allem zu grunde liegende verschwörung datierte aegidius tschudi auf mittwoch vor martini. die nachträgliche umrechnung datierte das auf den 8. november 1307. damals sollen sich die innerschweizer zusammengerottet haben, um ihren aufstand gegen das königshaus habsburg zu vereinbaren, das die verbrieften rechte der innerschweizer nicht anerkannen wollte. nur 10 tage lässt tschudi den habsburgische vogt hermann gessler wilhelm tell in der hohlen gasse zum legender apfelschuss auf seinen sohn befehlen. danach soll es in gebrodelt haben rund um den vierwaldstättersee. am neujahrstag sei es dann mit dem grossen burgenbruch in der schweiz losgegangen, bis am 1. mai 1308 könig albrecht i. von habsburg vom verwandten johannes von schwaben und helfershelfern unter den eidgenössischen kleinadeligen umgebracht wurde. erst sein nachfolger, der luxemburger heinrich vii., bestätigte 1308 die freiheitsbriefe der urner, schwyzer und erstmals auch die nachgereichten der unterwaldner.

aegidius tschudi befasst sich nicht nur mit der gründungssage der schweiz, die bis ins 18. jahrhundert nach ihm erzählt wurde, erst dann, angesichts neuer quellen stück für stück umgestaltet wurde, bis sie 1891 die von wilhelm öchsli neu verfasste form erhalten hatten, welche die jahrhundertfeierlichkeiten des damaligen jahres mit dem 1. august als höhepunkte prägte, weil die geschichte von 1307 auf 1291 und von albrecht von habsburg auf seinen vater rudolf von habsburg umprojiziert worden war.

tschudi schrieb bis 1572, seinem todesjahr auch an einer umfassenden geschichte unseres raums, von den anfängen bis in die damalige gegenwart. denn der humanist war dem mittelalterlichen denken, wonach die welt ein ei mit papst und kaiser an der spitze war, entrückt. seit der renaissance war man sich gewahr geworden, dass diese ei nicht anfang und ende der welt, sondern nur eine phase in der entwicklung gewesen war. in der gallia comata, dem gewöhnlichen gallien begründete liess er die burgunder, die alemannen und die langobarden im 5. bis 7. jahrhundert der reihe nach ins gebiet der späteren eidgenossenschaft einwandern und dabei die noch älteren siedler der rätier und gallier überlagern, die vormals unter römische herrschaft geraten waren, bis die von den germanen zerstört worden war.

für die zeitgenossen tschudis war dieses neue, posthum bekannt gemachte bild der schweiz ein hammerschlag. denn der raum, indem wir und indem sie lebten, ist durch verschiedene, zurückliegende einwanderungsweillen demografisch und kulturell geformt worden. die kelten (oder gallier und raetier) bildeten die älteste, identifizierbare grundlagen, aus den nach der römischen herrschaft gallo- und rätoromanen geworden waren, dann von mehr oder minder assimilierbren germanenstämme überrannt wurde, die ihrerseits unter merowingische, karolingische, sächsische, fränkische und schwäbische herrschaft gerieten, dabei teile des (heiligen) römischen reiches im hohen mittelalter bildeten, bis dessen macht im 13. jahrhundert stückweise zerfiel, und die trutzgemeinschaften der eidgenossen an verschiedenen stellen entstanden, auf die wir uns direkt beziehen.

die lehre daraus ist bis heute hart: erstens, jede geschichte eines volkes ist soweit richtig, als sie die geschichte anderer völker, die durch wanderungen und eroberungen vertrieben, unterdrückt oder ausgerottet wurden, mitdenkt. zweitens, unser bedürfnis nach grundungssagen entstand mit der renaissancegeschichtsschreibung à la tschudi, als sich die historiker gewahr wurden, dass die vorfahren, auf dies sich die volksgeschichte bezog, nicht die ersten waren, die da siedelten, sondern nur in einer kette von siedlern rechte beanspruchen konnten. diese zurückversetzung in den zustand der normalität wurde durch die erzählung der spezialität, die aus einer gründung hervorgegangen sei, überhöht.¨

erzählt am 703. jahrestag der ersten vermeintlichen gründung der eidgenossenschaft.

stadtwanderer

wissenschaft, medien und politik

diese woche wird der historiker walther hofer 90. seiner art, sich als wissenschafter auch in medien zu äussern und in die politik einzumischen, verdanke ich viel. ein rückblick auf die zeit, als ich beim berner professor studierte.

hoferhistoriker mit herz und verstand
inhaltlich hatten wir nicht selten differenzen. so war walther hofer überzeugt, der nationalsozialismus sei das werk weniger gewesen, die man dafür zur rechenschaft ziehen müsse. ich war damals fasziniert von den analysen des deutschen politikwissenschafters reinhard kühnl, der die verschiedenen formen bürgerlicher herrschaft von der demokratie bis zum faschismus untersucht hatte. hofer verwarf die idee struktureller wie auch psychologischer erklärungen vergangener politik und schimpfte, dass ich den nationalsozialismus mit all seinen vernichtungslagern auf die harmlosere stufe des faschismus stellen würde (was ich beileibe nicht tat).

hofer war am besten, wenn er sich provoziert fühlte. dann konnte man seine innere erregtheit von den füssen bis zum kopf sehen, spürte man, wie er seine seelischen kräfte sammelte, die den intellekt befeuern sollten, damit er in einem grossen bogen durch die weltgeschichte die widerwertigkeit der kritisierten aussage vorzuführen. denn dann legte er in vorlesungen sein manuskript weg, dozierte er frei, skizzierte die mächte des 20. jahrhunderts, analysierte er die programm der regierungen und parteien und erzählte er gegenwartsgeschichte, sodass man nur noch staunen konnte. das alles war nicht immer einfach, meist von seinem liberal-konservativen hintergrund geprägt. doch es beflügelte eine ganze historikergeneration, die bei ihm studiert hat. andreas blum, der frühere radiodirektor gehört dazu, erwin bischof, der sekretär des trumpf puur, auch, genauso wie der heutige eda-staatssekretär peter maurer.

meine drei jahre bei walther hofer

meine erstes thema, das ich bei walther hofer nach 1980 zu bearbeiten hatte, war das berüchtigte massaker von katyn, bei dem 1940 mehrere tausend polnische offiziere als teil einer umfangreichen aktion des bolschwestischen volkskommissariats des innern umgebracht worden waren. offiziell waren es die nazis gewesen. als sie die massengräber entdeckten, avancierten die greultaten sofort zu einem der kernthemen der propaganda. die wissenschaft musste sich dem thema stück für stück annehmen, bis der sachverhalt geklärt war und michail gorbatchev 50 jahre danach die beteiligung der sowjeunion klarstellte. die öffentlichkeit wiederum erfuhr davon wohl erst in diesem jahr, als der russische premier vladimir putin und der polinische ministerpräsident donald tusk zu einer gemeinsamen gedenkfeier aufriefen, in deren vorfeld es zum tragischen absturz eines flugzeuges mit fast der gesamten politischen staatsspitze und angehörigen des massenmordes kam.

aus diesem thema heraus entstand auch meine abschlussarbeit als historiker, die den schweizer aerztemissionen an die deutsch-sowjetische front gewidmet war. dabei ging vordergründig um eine mission des schweizerischen roten kreuzes mit 120 aerzten, hintergründig im schweizerischen aussenpolitik, die in berlin koordiniert worden war, schweizerische interessen im falle einer eroberung der sowjetunion gebündelt hatte, und deutschland gegenüber als schweizer beitrag im kampf gegen den bolschewismus deklariert worden war. dank vermittlung hofers erhielt ich den relevanten zugang zu den bisher nicht gesichteten akten, um ein kleines kapitel schweizerisch-europäischer geschichte schreiben zu können, die der mentor für ihre trouvaillen lobte, deren schlussfolgerungen zur anpassung der schweizerischen aussenpolitik zwischen 1940 und 1943 er jedoch zu verallgemeinernd fand. nichts desto trotz erhielt ich dafür den seminarpreis für die beste abschlussarbeit in meinem semester.

wissenschafter, medienmensch und politiker
vielen leuten ist hofer als svp-nationalrat in erinnerung; den journalistInnen vielleicht auch als präsident des hofer-clubs geläufig. seinen schritt von der theorie in die praxis, von der wissenschaft in die politik begründete der parteilose hofer stets mit dem ziel, schweizer aussenminister zu werden. mit seinen professuren in berlin und in new york hatte er hierfür die fährte gelegt, und man spürte in seinen ausführungen, dass der politikwissenschafter henry kissinger als amerikanischer aussenminister stets sein vorbild war.

man weiss es, walther hofer schaffte dieses ziel nicht. leon schlumpf kam ihm als svp-bundesrat zuvor. 1979 zog er sich aus dem nationalrat zurück, 1980 auch aus dem europarat. die klärung des reichtstagsbrandes als element der machtergreifung hitlers, die ihm das deutsche bundesverdienstkreuz einbrachte, und die überführung spaniens von der diktatur francos in einem parlamentarische monarchie, die hofer als vertreter der europäischen staaten vermittelte, blieben seine grössten wissenschaftlichen und politischen leistungen. in der heimat ereilte ihn 1983 ein schicksal, mit dem er kaum gerechnet hatte. seine recherchen über die verbindungen der nazis in die schweiz brachten ihm 1983 eine klage durch nachfahren des rechtsanwaltes wilhelm frick ein, die zu einer breiten solidarisierung unter historikern, gleichzeitig aber auch zu einer bisher nicht bekannten kollektiven verurteilung der geschichtswissenschafter wegen übler nachrede führte. das traf den mann, der sich ein leben lang für forschungsfreiheit als kennzeichen von demokratie ansah.

ein teil des erbes von hofer …
mit dem abschluss der matur 1939, die der sohn des gemeindeschreibers aus dem seeländischen kappelen in biel ablegte, brach der zweite weltkrieg aus. dieser hat den berner wissenschafter angetrieben, politisch wach gehalten, und den historiker geformt, der auf dem lehrstuhl wie auch in seinen zahllosen radiobeträgen stets anregend war. dem geist, welcher einer reifen persönlichkeit entsprang, fühle ich mich seit den 3 jahren, in denen ich bei walther hofer studiert habe, verpflichtet, auch wenn ich danach einen anderen weg eingeschlagen habe, auf dem ich bis heute wandere.

in diesem sinn: herzliche glückwünsche zum 90. geburtstag, walther hofer!

stadtwanderer

die schweiz, der diskurs und der zusammenhalt

eigentlich wollte ich nach einer strenge woche nur noch nach hause. doch begegnete ich auf dem perron des zürcher bahnhofs georg kohler, und ich kam mit dem philosophen schnell ins gespräch. ein kleiner reisebericht.

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georg kohler, emeritierter professor für politische philosophie an der universität zürich

er war unterwegs ins hotel bern. dort tage die neue helvetische gesellschaft, sagte er. die hätten ihn angefragt, über die zukunft der direkten demokratie zu reden – was er gerne mache.

seit einem jahr ist der philosoph pensioniert, nicht aber arbeitslos, denn unverändert interventiert er in der öffentlichkeit.

ob es wahr sei, dass roger köppel, der chefredaktor der weltwoche, bei ihm studiert habe, will ich wissen.

“jawohl”, bekomme ich zur antwort. doch sei er beileibe nicht der einzige, der sich regelmässige in die politik der schweiz einmische und in seinen seminaren positiv aufgefallen sei, erwidert der professor mit stolz. das gelte auch für katja gentinetta, der stellvertretenden direktorin von avenir suisse, für pascale bruderer, die nationalratspräsidentin, und cédric wermuth, den juso-chef. sie alle seien schülerInnen von ihm.

“was hält die schweiz zusammenhalten?”, nimmt michnun wunder, denn die vier namen stehen bei mir für nationalkonservatismus, wirtschftsliberalismus, linksliberalismus und neosozialismus – und damit für weltanschaulich viel trennendes.

die antwort kommt rasch: die mythen würden die leute heute eher trennen als vereinen, die institutionen des staates seien für die einen sehr wichtig, während sich andere ihnen gegenüber ganz gleichgültig verhielten. “der diskurs”, kommt der philosoph in fahrt, “hält die schweiz zusammen!”. wir würden uns permanent vergewissern, wo wir stehen – und genau das verbinde.

weder sind wir ein parlamentarischen system wie grossbritannien, noch eine präsidialsystem wie die usa. wir haben zwar eine starke exekutive, doch wird die macht von bundesrat und bundesverwaltung durch den föderalismus gebrochen. das gegenstück hierzu ist weniger das parlament, mehr die direkte demokratie, denn das volk gibt mit initiativen gas und bremst mit referenden.

so sind wir ständig am erwägen: nach dem zweiten weltkrieg traten wir der uno nicht bei; in den 80er jahren änderten regierung und parlament ihre diesbezüglich haltung, und die bevölkerung votierte 2002 nach einem früheren nein mehrheitlich für den beitritt. den eu-beitritt wiederum lehnen die meisten ab, der bilaterale weg dagegen gestützt, genauso wie die personenfreizügigkeit, auch wenn die gesellschaftlichen folgen immer umstrittener werden. anders als man es im ausland sieht, belassen wir es nicht bei wenigen grundsatzentscheidungen, sondern vergewissern wir uns wiederkehrend, ob der eingeschlagene weg zum ziel führt.

“das”, so kohler, “machen wir aber zunehmend nur mit uns selber”. so halten wir selber zusammen, ohne zu fragen, ob auch andere zu uns halten. dann braucht der philosoph ein starkes bild: “wir haben mit dem bilateralismus ein schmale gasse nach brüssel gebaut, die unseren vorstellungen von autonomie und verbundenheit entspricht. doch kann der druchgang rasch gesperrt werden, wenn der elefant sich in diese gasse setzt.”

zwischenzeitlich ist es rund um uns herum mäuschenstil geworden. der eine und die andere hört wohl zwischenzeitlich zu, als wir in bern einfahren. keine fondue hält die schweiz zusammen, vielleicht auch kein geld, und fast sicher keine bundespräsidentin, habe ich erfahren. vielmehr ist es der diskurs.

wenn er nur immer wieder stattfindet, denke ich mir. denn im moment reden köppel und wermuth gar nicht miteinander, pascale bruderer und katja gentinetta vielleicht ansatzweise etwas.

wenn die these des philosophen stimmt, muss sich da einiges bessern, schon nur unter den politikerinnen, wirtschaftsfunktionären, journalistInnen und intellektuellen – geschweige denn zwischen ihnen, den sprachregionen, dem volk und dem ausland.

irgendwie will mir scheinen, dass wir da am auseinanderdriften sind, weil wir nebeneinander leben, und von einander hören und übereinander lesen. so haben die diskurse der direkte demokratie keine zukunft, würde ich vortragen, hätte die nhg mich eingeladen.

was georg kohler genau sagen wird, weiss ich nicht so genau, als wir uns auf dem berner perron in bern freundlich verabschieden.

stadtwanderer

die geschichten der schweiz in postheroischer zeit

in meiner kindszeit spielte ich gerne indianer und cowboy. klar, wir hatten unsere helden, winnetou oder robin hood. doch wussten wir schon früh, dass sie nicht wirklich, nur erdacht waren. später, im gymnasium, waren wirkliche vorbilder wichtiger: mahatma gandhi, che guevarra, ho chi minh oder mutter theresa, die sich alle für eine bessere welt eingesetzt hatten.

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peter von matt, germanist, buchautor und zeitdiagnostiker äussert sich über schweizergeschichte in der postheroischen kultur der gegenwart

da erschienen die schweizer helden, die sich in alten schlachten hervorgetan hatten, irgendwie komisch. spätens nach der rekrutenschule war einem auch klar: was auch immer da einmal gewesen sein mag, davon ist heute nichts mehr übrig geblieben. deshalb glaubte man auch kaum, dass der zweite weltkrieg wegen unserer armee an der schweiz vorbeigezogen war. entsprechend fiel das urteil über die feiern der veteranen aus.

der berliner politikwissenschafter herfried münkler, hat das in drei begriffe gefasst: präheroische, heroische und postheroische gesellschaften unterschied er. die ersten leben von schlägerbanden ohne historisch-politisches bewusstsein. die zweiten haben ihre helden, die aus kriegen hervorgegangen sind und pflege die erinnerung an sie, während die dritten mit forderungen nach opferbereitschaft und ehrgefühl zugunsten neuer herausforderungen kaum mehr etwas anfangen können.

im grossen interview mit der nzz am sonntag nimmt peter von matt diese vorstellung mit bezug auf die schweiz auf, ohne von einer abfolge der gesellschaftsformen auszugehen, mehr, um das gleichzeitige des ungleichzeitigen in uns aufzuzeigen.

auch er sei in einer heroischen umgebung aufgewachsen, sagt der luzern. einmal sei er zeuge gewesen, wie sich ein besoffener aufgerappelt habe, um den alten eidgenossen keine schande anzutun. dabei sei es schon nachkriegszeit gewesen – dem grossen bruch mit den vermeintlichen heroen, welche europa in die bisher grösste katastrophe gestürzt hatten. das habe die schweiz mit verzögerung nachvollzogen, etwa mit der kritik an den diamantfeiern 1991. das können man auch an den vorstellungen der schweiz an der expo nachvollziehen: 1964 war der pavillon der armee ein gewaltiger igel. 2002 habe die armee gar nicht mehr stattgefunden, dafür sei man, etwas ratlos, an einer wellness-chilbi teilgenommen.

nun ist peter von matt dafür bekannt, dass er auch in postheroischen zeiten an die bedeutung der geschichte glaubt. denn jeder mensch ohne erinnerung lebe im leeren, sagt er, um beizufügen, das das eigentlich niemand wolle: “Und deshalb gibt es einen stillen, aber entschlossenen Aufbruch in das verlorene Eigene.” da gehe es nicht mehr um idole. aber um die eigene, tatsächliche geschichte. produktionsweisen, lebensformen und alltagskulturen interessierten dafür, weil es zu uns gehört, und uns niemand nehmen kann, angesichts der zusammengebrochenen ideologien nach 1989.

den neuen aufbruch sieht von matt zwischenzeitlich auch in der wissenschaft. dass geschichtsbücher wie das von thomas maissen geschrieben würden, sei ein gutes zeichen. denn es sei nicht positionslos verfasst, aber auch nicht aus der warte des richters, der den gang der weltgeschichte besser als alles andern kennen würde. in rückkehr begriffen sei auch die erzählung, die nicht einfach ursachen und folgen aufzeige, sondern auf der suche nach sinn sei.

dabei geizt der emeritierte literaturprofessor nicht mit seitenhieben: die svp versuche, direkt zur heroischen geschichtsschreibung zurückzukehren. das schienbare ende der 68er erlaube, geschichte wieder so zu sehen, wie sie schon immer gewesen sei. doch das sei bloss restauration der alten ideologie. von matt mag aber die hype von heidi in der konsumwelt nicht. weil bald jeder käse und sirup so heisse, möge er gar nicht mehr einkaufen gehen.

am liebsten wäre peter von matt, wir würden uns mit den wirklichen aufbrüchen in der schweizer geschichte beschäftigen. zum beispiel mit 1830, einem der europäischen revolutionsjahr, das in der schweiz gezündet habe wie kein anderes. entstanden sei damals die schweiz der gemeinden, der kleinen netzwerke, die sich selbst verwalten wollten, aber auch die moderne schweiz, die sich wirtschaftlich entwickeln wollte, offen für industrialisierung und modernisierung gewesen sei, und schliesslich auch die politische schweiz, die über handels- und gewerbefreiheiten hinaus an der vision einer direkten demokratie der bürger (später auch der bürgerinnen) gearbeitet habe.

leider höre man darüber fast niemanden reden, beklagt sich der literaturpapst. dabei stimmt das wirklich nicht! ich werde ihm eine stadtwanderung anbieten – nicht um neue heroen zu schaffen, denen auch ich kritisch gegenüber bleibe, aber um die geschichten zu erzählen, die zu uns gehören, und von denen andere auch erfahren sollten.

stadtwanderer

wanderkarte des reichtums in der schweiz

der basler soziologieprofessor ueli mäder ist mit einem forschungsteam auf wanderschaft gegangen. er hat mit und über reiche gesprochen, seine mitarbeiterInnen haben statistiken ausgewertet und den mediendiskurs über reiche in der schweiz ausgewertet. herausgekommen ist ein stattliches buch mit dem titel “Wie Reiche denken und lenken“, das gestern im rotpunktverlag erschienen ist. dabei geht es um reichtum in unserem land, ihre geschichte und aktuelle fakten, wie man es sonst kaum präsentiert bekommt.

reichaufgefallen ist mir vor allem die karte der wohnorte mit 100 superreichste seite 316. an ihrer spitze steht der schwedische ikea-gründer ingvar kamprad (zirka 35 milliarden chf) im bernischen gstaad, wo sich auch ernesto bertarelli, bernie ecclestone und gunter sachs aufhalten. für mäder ist es typisch, dass die neureichen städte meiden. bevorzugt werden aussichstreiche see- oder hanglagen, mit direkter wasser- oder bergsicht. stadtnähe gehört immer noch zu den vorteilen, denn da lockt namentlich das kulturelle angebot.

die karte zeigt, dass der zürich-, zuger, vierwaldstätter-, luganer- und genfersee ganz besonders viele superreiche haben. da sind denn auch die meisten steuerparadiese, die mit sehr tiefen ansätzen oder pauschalabkommen milliardäre locken. nach den stadtstaaten singapur und hongkong hat die schweiz zwischenzeitlich die grösste dichte von ihnen auf der ganzen welt.

genf wiederum wirbt mit dem ruf der internationalen stadt, exklusiven privatschulen und banken, die auf vermögensverwaltung spezialisiert sind. anders ist basel, das sich kunst- und kulturmetropole empfiehlt und so den alten geldadel, den daig hält, nicht aber neureiche wie roger federer, daniel vasella oder marcel ospel. die ziehen steuergünstige gemeinden der innerschweiz zu ziehen.

in zürich und zug gibt es ebenfalls zahlreiche der superreichen. in ihrem schlepptau ziehen auch weniger reiche in bestimmte quartiere, wie dem seefeld. dies bleibt nicht ohne folgen, kaufen investoren doch häuser systematisch auf, finden sich aufwendige renovationen oder neubauten in grosser zahl, bis die einheimische bevölkerung die boden- und in der folge mietpreise nicht mehr leisten kann, sodass die soziale durchmischung schwindet. da ist schon mal von “seefeldisierung ganzer quartiere” die rede.

am radikalsten vorgehen wollte in dieser hinsicht der kanton obwalden. reiche können wünschen, wo sie bauen wollen, entsprechend wird umgezont. neun zonen mit bis zu 5000 quadratmeter boden wurden so ausgeschieden, um einkommens- und vermögensstarken personen vorbehalten zubleiben. das war dann doch zu viel des guten: in einer referendumsabstimmung wandten sich am 29. november 2009 62 prozent der einheimischen gegen die errichtung von sonderparks für exklusive lebensweise in den alpen.

stadtwanderer

ein jahr vor den parlamentswahlen …

… werde ich sicher nicht sagen, wer gewinnt und wer verliert. gedanken mache ich mir aber, in welchem klima die wahlen stattfinden werden.

Tagesschau vom 24.10.2010

die finanzmarktkrise hat die welt geschüttelt. globale krachten banken in sich zusammen, wirtschaftszahlen brachen weltweit ein, die arbeitslosigkeit stieg allenthalben, die verschuldung der staaten nahm vielerorts zu, und steuererhöhungen werden von zahlreichen regierungen erwogen. auch wenn das alles in der schweiz gemässigter ausfiel, als dies weltweit der fall, ist dabei vieles zerbrochen, was vielen wichtig war: die ubs war nicht mehr garant für stabilität, vielmehr bedrohte sie diese; dem bankgeheimnis wurde die grundlage entzogen, und die managermoral in den internationalen firmen wird vom einheimischen gewerbe und unternehmertum offen in frage gestellt.

gleichzeitig ist unser bewusstsein für gesellschaftlichen konfliktlagen sensibler geworden, denn viele menschen fühlen sich heute unsicher: die migration wird kritischer beurteilt, die schwäche der fast inexistenten integrationspolitik wird klarer benannt, kulturelle entfremdung angesichts neuer alltagskonflikte im öffentlichen raum wird zum thema, überhaupt, das zusammenleben verschiedener konfessionen wird problematisiert. gleichzeitig gibt es verbreitete klagen über die zersiedelung, den kulturlandverlust, und den drohenden kollaps im öffentlichen und privaten verkehr. die öffentlichen finanzen bleiben beschränkt, bildungsoffensiven werden immer seltener und verlaufen immer häufiger im wirrwarr der einzelninteressen, der lange geforderte umbau der sozialwerke ist umstritten, während die krankenkassenprämien ungebremst nach oben schnellen.

das alles heisst nicht, dass wir unsere positive einstellung zur schweiz verloren hätten. mitnichten sogar! genauso wie in vielen europäischen ländern hat auch bei uns der nationale reflex an bedeutung gewonnen. der wunsch nach eigenständigkeit ist wachsend, wenn schon in wirtschaft und kommunikation nicht mehr möglich, dann wenigstens in kulturellen und politischen fragen. die gefährdung kommt aus dem ausland, die lösung liegt im inland. wirtschaftlicher protektionismus, gesellschaftlich kälte und nationalistische frontstellungen haben vielerorts zugenommen. typisch schweizerisch ist es, dass sich das auch auf das zusammenleben der sprachkulturen nachteilig niederschlägt und politische blockierungsgefühle überhand nehmen. gleichzeitig sind immer weniger institutionen in der lage zu vermitteln und gemeinschaftsbildend zu wirken. und massenmedien neigen dazu, das alles zu überzeichnen, um mit der krisendiagnose der eigenen krise entrinnen zu können.

das gemisch, das so entsteht, ist explosiv. der zorn der zeit kann sich daran fast überall entzünden. auch wenn dieser hie und da berechtigt ist, ist er kein guter ratgeber für die unmittelbare zukunft. für diese braucht es ein gemisch aus sensibilität für neue gesellschaftlichen konfliktlagen einerseits, kühlem blut, dort veränderungen einzuleiten, wo sie nötig ist, ohne dabei in hysterie zu verfallen. denn das, was die schweiz ausmacht, ist die zuversicht, für probleme lösungen zu finden, die nicht ideal sind und nicht alle befriedigen, dafür pragmatisch sind und schnell einmal wirken. und genau darauf kommt es an: ob wir die zukunft schwarz oder weiss sehen.

so hoffe ich, dass die klagen auf hohem niveau nicht unterdrückt werden, aber auch nicht überhand nehmen, weil die angst vor der zukunft so zum thema, wird das sie sich produktiv auf die politik und die sicherheit der menschen in diesem land auswirkt.

rendez-vous in einem jahr!

stadtwanderer

der mittelstand ist wieder gefragt

alles spricht vom mittelstand. doch kaum jemand weiss, was das damit gemeint ist. so rede hier wenigstens von der geschichte und gegenwart des phänomens, das man damit in der schweiz in verbindung bringt.

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thomas minder, bürgerlich denkender unternehmer aus dem schaffhausischen und initiant gegen die abzocker-mentalität der banken, hat der stimmungslage des mittelstandes wieder eine stimme gegeben.

die germanische gesellschaft kannte drei stände: den adel, den klerus und die bauern. in die wurde man geboren, was stabilität garantierte. das reichte denn auch, um auch in der alten eidgenossenschaft die soziale realität zu beschreiben, auch wenn in den städten handwerker und kaufleute hinzu gekommen waren.

erst mit der industrialisierung der schweiz nach 1830 änderte sich der charakter der rural geprägten gesellschaft. in den städten wuchs die bevölkerung schneller als auf dem land. ein unternehmerisches bürgertum entstand, und mit ihm bildete sich auch eine lohnabhängige arbeiterschaft aus. beides begann, gewerbe und landwirtschaft zu bedrohen. modernisten verstanden das als unausweichliche entwicklung hin zur zweiklassengesellschaft; traditionalisten verteidigten den neu entdeckten mittelstand als schutzwall gegen kapitalisten und proletarier.

letztlich war beides überzeichnet: denn die viel beschworene gesellschaftliche mitte verschwand nicht, noch blieb sie in ihrer bisherigen form erhalten, weshalb man auch vom alten und neuen mittelstand – und verallgemeinert von mittelschicht – spricht, von den selbständigen im handwerk und bauernstand resp. den unselbständigen unter den facharbeitern, angestellten und beamten, die weder zu den reichen, noch zu den armen gehören.

der historiker albert tanner hat die entstehen und den wandel des begriffs “mittelstand” nachgezeichnet. zunächst hält er ihn für einen typisch deutsche wortschöpfung, ohne wirkliche entsprechung im französischen und italienischen. sodann beinhalte er ein bekenntnis, nämlich das fundament von staat und gesellschaft in der schweiz zu sein, ja das synonym für das volksganze zu sein. schliesslich sei er ein vielfach verwendeter politischen kampfbegriff: die gute ordnung sei daran geknüpft, dass die gruppen der gesellschaft, die weder vom internationalen geschäft, noch von staatlicher unterstützung lebten, für die stabilität der gesellschaft unentbehrlich seien. ein blick in die realität der politik in zahlreichen kantonen zeigt, wie treffend diese schilderung ist.

doch ergab sich das alles nicht gradlinig. gerade während krisenzeiten, wie jener den 30er jahren des 20. jahrhunderts, stellten sich beispielsweise der gewerbe- und der bauernverband gegen jedwelche gesellschaftliche erneuerung. vielmehr belebten sie wirtschaftsvorstellungen, die direkt an die vorindustrielle zeit mit korpationen wie zünften in den städten und zwangsvereinigung zur beweidung von alpwirtschaften anknüften. die konvervative volkspartei, aber auch die neue schweiz übersetzen das nach 1933 in die politik. damit drangen sie nicht wirklich durch, prägten aber den kriseninterventionismus der zwischenkriegszeit.

auf die national und populistische politik verzichteten die exponenten des alten mittelstandes nach dem zweiten weltkrieg. mit der anerkennung der liberalen wirtschaftsartikel 1947 kam die wende. nun befürwortete man rationalisierungen, um im ökonomischen wettbewerb bestehen zu können, und propagierte man selbsthilfe auf betriebs- und verbandsebene als zentrale ziele der mittelstandspolitik.

seit einigen jahren tobt erneut ein kampf um die richtige mittelständischen interessenpolitik. gewerbe und landwirtschaft schwanken beispielsweise zwischen sozialpolitischem antietatismus und forderungen nach protektion von branchen in der globalen wirtschaft. mittelstand wird wieder vermehrt gleichgesetzt mit gesunder mitte sowohl gegen die masslos gewordene klasse der internationalen manager, wie auch der pauperisierten, försorgeabhängigen unterschichten. und, obwohl der begriff soziologisch gesprochen immer inhaltsleerer wird, bezieht sich die politik fast schon inflationär auf ihn: parteien buhlen um den mittelstand, medien thematisieren seine ängste, und sozialforscher belegen verarmungstendenzen.

fast schon symptomatisch: der jüngste wahlkampf in der stadt zürich drehte sich um den mittelstand. im beginnenden abstimmungskampf um die steuerinitiative geht es massgeblich darum, ob die rechte mit dem steuerwettbewerb oder die linke mit dem abbau von privilegien für reiche die bessere mittelstandpolitik betreibe – und auch ich referiere nächste woche in burgdorf zum thema, was den mittelstand in der heutigen zeit umtreibe.

ich muss mir noch echt gedanken machen, wie ich mit dem gängigen, aber unscharfen begriff umgehen will …

stadtwanderer

debattieren will immer wieder gelernt sein

ende monat mache ich einen ausflug ins oberland. zu den debatten an den nationalen konferenz der jugendparlamente. danach will ich im berner oberland auch wandern gehen.

2-1die debatte von elżbieta woźniewska

sicher gab es in meiner jugendzeit gelegentlichen streit mit meinen eltern. doch das war letztlich alles tand. denn die prägende auseinandersetzung hatten wir eines sonntags in einem restaurant nach dem herrlichen braten, als es um religiöse toleranz ging. ich war ein junger gymnasiast, der eben das theaterstück “nathan der weise” des aufklärers gotthold ephraim lessing gelesen hatte, und ich trug die ideen des dramas meiner mutter und meinem vater mit verve vor.

meine eltern, beides katholikInnen, die im sinne des ökumenischen konzils lebten, waren zunächst überrascht. denn meine härteste aussage war, dass keine religion die wahrheit für sich beanspruchen könne, vielmehr alle grossen religionen ausdruck einer kulturellen entwicklung der menschheit seien, die vor gott gleich seien.

mit dieser debatte emanzipierte ich mich zugleich von der kirche wie auch von meinen eltern. mit ihr lernte ich aber auch, dass selbst harte debatten, die tiefe wurzeln der überzeugungen berühren, respektvoll geführt werden müssen, wollen sie nicht einfach kampf mit siegern und besiegten sein, sondern auseinandersetzungen, die alle weiterbringt, im idealfall auf einer neuen stufe der erkenntnis zu einigkeit führt.

nun wurde ich vor einigen wochen angefragt, an der nationalen konferenz der jugendparlamente teilzunehmen. motto der dreitägigen veranstaltung ende oktober, die im berner oberland ausgerichtet wird, ist, “auf dem gipfel debattieren zu lernen”. das hat mich an meine eigene jugendzeit erinnert und angesprochen. erwartet werden 200 jugendliche, die in lokalen jugendparlamenten der schweiz aktiv sind. treffen werden sie sich in interlaken, grindelwald und auf der jungfrau. das wird hoffentlich nicht nur in höhenmetern eine steigerung der debatten geben, die jugendliche selber führen sollen, um die wohl grundlegendste form der politik zu erlernen. mit ihr geht es darum, das pro und contra in einer sache herauszuarbeiten, im wechselspiel der argumente vorzutragen, um das ergebnis von dritten beurteilen zu lassen. denn die weisheit soll aus dem urteil der vielen, die sich so eine meinung bilden, entstehen.

adolf ogi, der ewig junge und zuversichtliche, wird die konferenz wie immer gekonnt eröffnen. dann sind die jugendlichen in zahlreichen arbeitsgruppen an der reihe. ich werde versuchen, im abschliessenden plenum die debatte über die zukunft der politischen schweiz zu bereichern. ich denke, über grundlegende überzeugungen der schweizerInnen zu sprechen, über das politische im alltag und im parlament, über die aktuelle regierungsreform, und über die voraussetzungen, dass die hoffnung angesichts aller polarisierungen, die wir in den letzten 20 jahren erlebt haben, nicht stirbt. denn es geht mir mit dem auftritt darum, dass sich junge menschen, die so eigen sind, bewusst bleiben, jede und jeder einzelne träger der kollektiven weisheit zu sein, an der wir teilhaben, wenn wir uns demokratisch mit uns selber auseinandersetzen …

… und eine tollen ausflug in die natur nicht vergessen!

stadtwanderer

schneckenmigration im zeitalter der globalisierung

christoph oberer ist aus dem baselbiet. das hört man, wenn er referiert. eigentlich ist er studierter historiker. doch die leidenschaft des laboranten am naturhistorischen museum basel gilt den schnecken. wenn er darüber referiert, gibt es fast so viele geschichten zuhören wie schnecken hat.

schneckenschnecken wandern nicht, war einer der hauptsätze am heutigen vortragsabend des bernischen vogelschutzes. doch mit der globalisierung werden sie in alle weltgegenden verschleppt. eisenbahnen und autostrassen transportieren nicht nur menschen und güter, auch schnecken. beispielsweise die spanische wegschnecke, die 1960 mit salaten aus dem süden in die schweiz kam und innert weniger als einem halben jahrhundert zur verbreitetsten schneckenart aufstieg.

die neueste folge der globalisierung an der schneckenfront betrifft die kantige laubschnecke, weiss oberer zu erzählen. eigentlich stamme sie aus süditalien, verstehe ich. über den export von wc-schüsseln verbreite sie sich aber in die halbe welt. am liebsten hätte sie betonwände, wo feines moos wächst, das sie liebend gern frisst. in basel würde es schon millionen davon geben. in bern werde sie bald auch in massen auftreten. eine eigentliche plage sei sie schon in den amerikanischen städten. die lonza forsche bereits nach einem effizienten gift gegen den urbanen eindringlich.

oberer schildert das und vieles anderes in eindrücklichen geschichten, die man so nicht jeden tag zu hören bekommt. das ist zu allererst lehrreich. so weiss ich etwa, dass schnecken zu besten nahrungsverwerten gehören. ihr kot interessiert einfach niemanden mehr. es ist aber auch unterhaltsam, der mann mit dem hund, wie er sich vorstellt, weiss auf jede frage aus dem publikum eine eigängige antwort. vielleicht hätte man sich am ende eines langenvortrages eine einordnung aller überraschungen in eine gesamtschau gewünscht, damit auch einem laien wir mir nicht nur die perlen des vortrages, auch sein roter faden bleibt. doch der referent ist sichtbar kein theoretiker, vielmehr ein lebender praktiker.

vor den schneckenplagen können man entweder kapitulieren. oder man können sie bekämpfen, mit heissem wasser oder gefrieren in der kühltruhe, höre ich an diesem abend. neu im kommen sei, mit schnecken zu flüstern. “das ist dein salat, den kannst du haben, doch die anderen sind mir”, sei das motto der gespräche, mit denen sich sogar die schneckenforschung neuerdings beschäftige. das alles sei viel besser, als schnecken zu zerschneiden, was man das lange gemacht habe. denn das bringe gar nichts, ausser neuen schnecken, weil zerschnittene schnecken proteinbomben seien, was andere schnecken begehrten und zu ihrer vermehrung führe.

ein kurios-tolle sache, so ein abend bei den schneckenspezialistInnen, die einen grossen bogen schlagen von traditionellen schneckenkulturen über globalisierungsmigrationen bis hin zu selbstschutzmassnahmen gegen invasive arten. nur politisch darf man das nicht nehmen, sonst würden aus langsam kriechenden schnecken schnell sich bekämpfende hunde!

stadtwanderer

wenn wählerInnen wandern

ich war diese woche nicht sehr aktiv, mit bloggen als stadtwanderer. denn ich war beruflich stark beschäftigt, mit den wanderungen der wähler und wählerinnen in der schweiz.

es gehört zu den üblichsten politanalysen: wenn bei wahlen eine partei gewinnt, und gleichzeitig eine andere verliert, dann ist klar, wer auf kosten vom wem gewonnen hat.

doch das muss nicht so sein. es könnte auch sein, dass die partei, die gewinnt, bisherige nichtwählerInnen mobilisieren konnte, während die gruppierung, die verliert, solche an die nichtwählenden verloren hätte, ohne dass von allen anderen auch einer die partei gewechselt hätte.

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für eine besser auflösung klicke man hier die datenbank an und schaue dann unter “wählerstromanalysen” nach.

das instrument, um das zu überprüfen, heisst wählerwanderungsanalyse. es funktioniert, nicht nur, aber ganz ordentlich mit umfragen, bei den wählerInnen selber auskunft geben, wenn sie das letzte mal gewählt haben, wen diesmal, allenfalls wen sie das nächste mal wählen würden.

und das sind die ergebnisse meiner beobachtungen zum wählerInnenwandern seit 2007:

die neuen parteien, die glp und die bdp ziehen bisherige nicht wählerInnen an. die sp profitiert ein wenig von den bundesratswahlen, welche ihre denkbaren wählerInnen mobilisiert hat. bei der svp, den grünen und der cvp verlaufen die wanderungen umgekehrt. ein teil der wählerschaften von 2007 ist, wenigstens für den moment, demobilisiert.

die glp ist auch für wechselwählerInnen attraktiv. sie gewinnt zu lasten der grünen, der sp und der fdp. sie ist die einzige partei, die damit lagerübergreifend bisherige wählerInnen für sich gewinnen kann. das gilt bei der bdp nur eingeschränkt, die cvp, fdp und svp unzufriedene wählende anspricht. die cvp kann das etwas neutralisieren, weil sie von der fdp dazugewinnt, diese wiederum, weil sie gegenüber der svp zulegt. alles andere ist kaum nachweisbar.

die dicke der pfeile zeigt an, wie welche veränderungen grösser und welche kleiner sind. generell kann man festhalten: die mobilisierungseffekte sind zwischenzeitlich wichtiger geworden als die auswirkungen durch das wechselwählen.

nun sind wählerwanderungen alles andere als stabil. man kennt letztlich zwei muster von wanderungen: der trend zu mitte und die polarisierung. bis 2007 herrschte letzterer vor, seit einiger zeit, ist er nicht mehr einfach gesetzt. das bild das wir hier haben, gleicht eher dem trend zur mitte, wobei nicht die cvp die attraktivste partei, sondern die neuen angebote mitte/rechts und mitte/links dies sind.

das alles wird durch kampagnen, der themenwahl, den medialen auseinandersetzungen und den personenangeboten beeinflusst. über letzteres weiss man noch sehr wenig, den medienwahlkampf ist schwer vorherzusehen, während bei den themen alle parteien darauf setzen, jene zu lancieren, von denen sie sich am meisten versprechen.

wanderkarten der wählerInnen, die daraus entstehen, werde ich weiter skizzieren, noch sechs solche, wie hier abgebildet, sind bis zu den nationalratswahlen in einem jahr vorgesehen.

so, jetzt ist aber meine deformation professionell aber definitiv wieder vorbei!

stadtwanderer

ein wenig wie die kappeler milchsuppe

1499 gestand könig maximilian den eidgenossen autonomie in seinem reich zu. dabei ging es auch darum, ob die parteiungen weiterhin ein fehderecht haben sollten oder nicht. der eidgenossenschaft haben die zugeständnisse wenig genützt. den schon bald darauf brach die grösste fehde unter allen eidgenossen, der konfessionskrieg, aus, der zum grossen und langen schwanken zwischen blockaden und versöhnungen unter schweizern führen sollte.

levrat_pelli_1_5340048_1269938808antipoden des industriezeitalters: die spitzen von sp und fdp, gemeinsam für eine offene schweiz, unterschiedlich in der einschätzung, wie man das erreicht, haben sich wieder versöhnt, nicht zuletzt auf druck der basen, die andere sorgen haben, als streithähnen zuzusehen.

mit der reformation in zürich 1523 nahmen die spannungen zu konfessionellen fragen in der eidgenossenschaft rasch zu. bern und basel folgten 1528 zürich, sodass sich gewichte in den städten zugunsten der neugläubigen zu verschieben begannen. diese weiteten sich sich zur feindschaft, ja zum bürgerkrieg aus, als der reformierte pfarrer jakob kaiser in schwyz bei lebendigem leib verbrannt wurde. zürich wollte das 1529 rächen, bern folgte dem limmatstädtern, und zug stellte sich ihnen entgegen, um die innerschweiz zu schützen. es brauchte die vermittlung von glarus, halb habsburgisch, halb zürcherisch, um ein sinnloses blutvergiessen zu verhindern.

den friedensschluss erzwang aber auch das fussvolk, das offen fraternisierte, während ihre anführer verhandelten. auf der grenze zwischen zürich und zug stellten sie einen pott auf. die zuger brachten die milch, die zürcher reichten das brot. gemeinsam schlürfte man die milchsuppe, während der kompromiss verkündigt wurde: in den gemeinen herrschaften durften die neugläubigen predigen, nicht aber in den orten, die streng altgläubig bleiben wollten. die untertanen sollten selber wählen dürfen, welcher konfession sie anhängen wollten.

seither gehört die kappeler milchsuppe zu den vorzeigemomenten der schweizer geschichte, der nicht nur nach innen, auch nach aussen ausstrahlte. die schweizer, wie man sie immer mehr nannte, gelten seither als raufbolde, die gründlich vom leder ziehen, sich schliesslich aber auch versöhnen können. und nach innen ist die lehre aus dem kappelerkrieg, dass man nicht immer nur provozieren kann, sondern auch den kompromiss suchen muss, um die eigene autonomie zu wahren.

genau an das musste man unweigerlich denken, als man vom communique las, das fulvio pelli und christian levrat zu ihrem fürchterlichen streit über die departementsverteilung im bundesrat heute veröffentlichten. einen “knallharten lügner” nannte sp-chef seinen kollegen von der fdp vor laufender kamera, sodass dieser einen tag später frei-ins-haus-geliefert mit einer verleumdumsklage drohte. was den medienleute als willkommenes spektakel vorkam, ärgerte schon bald die fraktionsmitglieder hüben und drüben, die sich bekämpfen, aber auch begegnen müssen, wenn sie in der sache bisweilen anderer, gelegentlich aber auch gleicher meinung sind. politisch soll man streiten, ja, auf entgleisungen soll man dabei verzichten, genauso wie aufs fischen im juristenteich, war seither ihr motto hinter den kulissen.

ob man zwischen zwischen bulle und sorengo einen pot aufgestellt hat, um fribourger vacherin mit tessiner wein zu schlürfen, weiss ich nicht wirklich. den beim friedensschluss waren die medien nicht zugelassen, und ich konnte auch nicht von ferne vorbeiwandern. registriert habe ich die symmetrie der entschuldigungen, von unangebrachtem ausdruck bis überreaktion. und ich bekenne: ich finde es gut, dass sich die präsidenten der sp und der fdp wieder vertragen. denn ihre verbindung ist nötig, um die schweiz modernisieren, selbst wenn das nur dialektisch möglich ist und auch in zukunft nicht ohne konflikte zwischen antipoden abgehen wird.

stadtwanderer