demokratiegeschichte und stadtwandern (in bern)

letzte woche war so viel los, dass ich gar nicht dazu kam, meinen vorsätzen für die woche nachzugehen. zuerst oesterliche rituale, dann der falsche stadtheilige, und schliesslich, – als ich über die demokratiegeschichte recherchieren wollte – leerte sich die grüne-grüne salatsaucen-mischung über dem bahnhofplatz aus. nun habe ich aber zeit gefunden, meine neue thematische stadtwanderung als demokratiegeschichte zu konzipieren. hier vorerst die eckpunkte:

1. station: gerechtigkeitsbrunnen

der brunnen hat nebst der iustitia vier gewalten, welche ihre verständnisse von gerechtigkeit symbolisieren: der sultan, der kaiser, der papst und der schultheiss, die für despotie, monarchie, theokratie und republik stehen. so kann man das vorrevolutionäre staatsverständnis einführen, – alles noch ohne demokratie, denn die schweiz war nicht von anbeginn eine demokratie, sie wurde das, im wesentlichen aber erst seit dem 19. jahrhundert. alle ansätze davor, die germanische versammlung der freien bauern, die landsgemeinden, die volksanfragen usw. sind keine volksrechte, eher mitspracherechte, die von den herrschaften ganz gut gelenkt werden konnte (können).

2. station: rathaus

am 5. märz 1798 besetzen die französischen truppen die stadt, und insbesondere das rathaus. der freiheitsbaum wird als zeichen der neuen herrschaft gehisst, und es kommt zu den bekannten plünderungen, abtransporten der bären und des bernischen staatsschatzes. das alles hat dem andenken an die revolutionären franzosen geschadet, aber dennoch mindestens so viel an innovativem institutionellen denken in gang gebracht wie die reformation. die schweiz im revolutionären modernisierungsschock wird hier das thema sein. demokratische bewegungen brauchen auch eine sozio-ökonomische und eine sozio-kulturelle basis. immerhin, aus unserer sicht bemerkenswert: für den aufbau des staates setzt man erstmals demoskopische mittel ein. umfragen in den gemeinden sind im jungen staatswesen beliebt, gefördert von minister stapfer!

3. station nydegg

die helvetische republik will nicht tritt fassen, und als die französischen truppen die schweiz verlassen, kommt es zum aufstand der konservativen bevölkerungsteile. der stecklikrieg, so genannt, weil man 1802 einfachst ausgerüstet auf die fremd gebliebene herrschaft losging, fand auch im bern stadt. hier stürmte man das rathaus der franzosen in der nidegg. immerhin, war das erfolgreich, napoleon musste handeln. eine kleines schild erinnert an den sieg der bauern über die stellvertreter des franzosenkaisers in spe.

4. station: münster

mit der mediationsverfassung wollte napoléon nur eine kleine restauration zulassen, um das gleichgewicht zwischen modernen und konservativen kräften wieder herzustellen. die schweiz hatte jetzt kein direktorium mehr, dafür mit einem freiburger aristokraten einen landammann (könig?) mit einer eigenen kanzlei (der heutigen bundeskanzlei). die kleine restauration wurde aber, je nach kanton zur grossen. nur in den neuen kantonen (ag, tg, sg, ti, vd) hatte sich der gleichheitsgedanke wirklich festgesetzt, einmal zwischen den gliedstaaten, sodann zwischen den bevölkerungsteilen. in den anderen kehrten die alten oligarchien miest zurück, besonders in bern, wo man den toten, letzten schultheiss, niklaus von steiger, pompös im münster beisetzte (an der stelle, wo früher adrian von bubenberg lag). 1815 wurde daraus auch gleich das programm der grossen restauration: der wieder kongress garantierte zwar erstmals die bestehenden grenzen, stellte aber die alten verhältnisse wieder her. nur an der gleichberechtigung der 19 kantone rüttelte er nicht mehr. die berner werden zu vordenkern der restauration. ludwig von haller, der konservative staatstheoretiker geht nach paris (wird katholisch) und schreibt das grundlagenwerk der konservativen staatstheorie von damals.

5. station: erlacherhof

das revolutionäre jahre 1830 zeigte sich auch in der schweiz. alles begann in lugano, mit der grossen liberalen revolution des tessins, dann paris, bürgerliche juli-revolution, mit ausstrahlungen nach belgien, polen, der schweiz und italien. zeigen müsste man das ja auf dem land, den der funke sprang nicht in der wieder privilegierten stadt bern über, sondern ausserhalb, in den benachteiligten kleinstädten, die jetzt das landvolk gegen die alte herrschaft sammelten. der kanton bern entsteht auf liberaler grundlage, stadt und kanton werden definitiv getrennt, und zur sicherung der herrschaft auf dem land gründet man überall gemeinden. derweil sich die reaktionären gegner der erneuerungsbewegung in der stadt sammeln und im erlacherhof verschanzen. erfolglos wie man weiss. heute ist das haus fest in linker hand!

6. station: zimmermania

die liberalen können den schwung in den sie ausgelöst haben, in den 40jahren nicht halten, und die volksbewegeung findet neuen ausdruck. den anfang macht die klosterschliessung im aargau, die zu protesten auf der tagsatzung führt. diese handelt einen kompromiss aus, der die freischarenzüge gegen luzern auslöst: weg mit den jesuiten ist die losung. als dies nicht geschieht, bricht die genuin schweizerische, radikale revolution in genf aus, und der funke springt jetzt über, auf die waadt und auf bern: die professoren snell, besonders ludwig in bern, haben radikale bewegungen gefördert, die den gedanken der demokratisierung weiter treiben: die macht geht vom volk aus (und kehrt zu ihr zurück ist ihr grundgedanke, und sie verlangen jetzt volksrechte. geschrieben wird die radikale berner verfassung im zimmermania, – mindestens den gerüchten nach. die wirkungen sind durchschlagen: bern bekommt 1846 eine radikale verfassung, die tagsatz beschliesst die auflösung des konservativen sonderbundes und die ausweisung der jesuiten. es ist bürgerkrieg (nach dem zürichkrieg im 15., den konfessionskriegen im 16. bis 18. jahrhundert der dritte typus interner kriege).

7. station: äusserer stand

die siegerkoalition aus dem sonderbundskrieg begründet den freisinnigen bundesstaat von 1848. bern wird, eher etwas überraschend, hauptstadt, äxgüsi: bundesstadt. zürich wird im neuen parlament ausgetrickst, und verweigert deshalb den titel der bundeshauptstadt. in bern ist man jedoch nur beschränkt gerüstet: es fehlt an einem richtigen parlamentsgebäude, und so tagt das erste parlament im äusseren stand. die schweizerische eidgenossenschaft ist jetzt eine repräsentative demokratie, hat einen national- und einen ständerat, und einen bundesrat als landesregierung. doch alles wirkt etwas komisch: die kantone sind jaloux, wegen dem kompetenzverlust, der droht. konservative kreise wettern gegen das parlament, dass nur eine ordentliche session pro jahr bekommt. doch auch das ist zuviel, zu teuer, weil das reden der volks- und standesvertreter sitzungsgelder verschlingt … diese genre des politischen diskurses in der schweiz ist bis heute geblieben!

8. station: bundesratshaus

ein neues, repräsentatives gebäude muss her: das bundesratshaus, heute bundeshaus west genannt (und in renovation begriffen! wie der bundesrat auch!!). für bern bedeutet das zunächst kosten: die reiche, konservative burgergemeinde trennt sich flugs von der mausearmen einwohnergemeinde, und diese muss als erstes steuern erheben, um das bundesratshaus zu bauen. natürlich nur provisorische, die aber bis heute geblieben sind. der bau, der so entsteht, ist ganz stattlich, im florentinischen stil gebaut, ganz im zeichen der (alten) republiken. im jungen bundesstaat installieren sich die verschiedenen flügel der freisinnigen grossfamilie: liberale, kapitalistische förderalisten und staatsfreisinnig. normalerweise sind sie sich nicht ein (gilt ja bis heute weitgehend), sodass ihre vorherrschaft nicht eindeutig ausfällt. die konservativen bekommen chancen, wenn sie mit minderheiten der freisinnigen oder mit sprachminderheiten koalieren, am erfolgreichsten in ihrer opposition gegen die nationaluniversität. gegen die drohen sie, einen breite unterschriftensammlung in der bevölkerung zu lancieren, eine art referendum durchzuführen.

9. station: christoffelturm

man sieht ihn nicht mehr, den christoffelturm, denn er wurde abgerissen. um den geht es aber. die überreste sind in der bahnhofunterführung zu besichtigen. seine bewegte geschichte ist hier zusammengefasst. mit gefällt am besten, dass er bei den protestanten goliath darstellt, und vor ihm der davidsbrunnen stand. das kleine ausserwählte volk von (alten, protestantisch-orthodoxen) republikanern, von angesicht zu angesicht mit den katholischen mächten rundherum. das ganze muss jetzt weg: im einer denkwürdige gemeindeversammlung, die archaische form der direkten demokratie, die jetzt auch in der stadt (einwohnergemeinde) galt, hat das im zeichen des fortschritts beschlossen, denn man wollte den (alten) bahnhof bauen, und brauchte platz. ob es mit rechten dingen zu und her gegangen ist, weiss man bis heute nicht, 4 stimmen sollen den ausschlag gegeben haben. oder auch uneinheitliche interessen der burger. oder auch das unvermögen der versammlungsdemokratie in städten!

10. station: käfigturm

überall spricht man jetzt von demokratiereform: in zürich entzündet sie sich am system escher, das elitär wirkt und die demokratische bewegung auslöst. im bund braucht man ein instrument, das flexible verfassungsreformen zulässt, und versucht sich in der totalrevision der bundesverfassung. diese scheitert im ersten anlauf gelingt aber im zweiten 1874: die schweiz ist jetzt eine direkte demokratie, denn man hat das (fakutltative) gesetzesreferendum eingeführt. parzialrevisionen sind jetzt auch möglich. der demokratische gedanke setzt sich sogar im konservativen bern durch. 1888 bekommt bern eine neue stadtverfassung: stadtpräsident, heisst er jetzt, der chef des gemeinderates. und er bekommt eine teilprofessionelle regierung beigestellt. und die gemeindeversammlung wird zweigeteilt: in ein stadtparlament und in volksrechte. man ist jetzt selber im ehemals konservativen bern eine demokratie, – eine abstimmungsdemokratie würde man heute genauer gefasst sagen. doch für das alles braucht es parteien, die in der schweiz kinder der volksrechte sind: die einigermass geschickt agierenden freisinnigen sind jetzt führend in der stadt, aber sie sind nicht allein, denn es gibt jetzt auch sozialdemokraten, und die verstehen nachwie vor etwas anderes unter direkter demokratie: krawalle gegen die bürgerliche herrschaft, die mit ausländischen bauarbeitern die löhne drücken finden vor dem käfigturm statt, und melden die ankunft der (national) gesinnten linken. diese betreibt unvermindert doppelspiel, um dem proporzwahlrecht zum durchbruch zu verhelfen: volksinitiativen einerseits, landesstreik anderseits. das wirkt. wenn auch erst 1918.

11. station: schanzenpost

das system der ausgebauten direkten demokratie in bund, kantonen und gemeinden einerseits, der parlamentarischen demokratie anderseits muss noch ins gleichgewicht gebracht werden. darüber streiten die politologen bis heute. solche, wie andreas gross, behaupten, es beides gehe problemlos nebeneinander, andere,wie ich, sind der meinung, dass sie nur in einem speziellen verhältnis zueinander funktionieren. die mässigung der vorherrschenden polarisierung angesichts des doppelcharakters des damaligen politischen systems beginnt 1936: die sp streicht die diktatur des proletariats aus dem programm, wird gemässigter. die gewerkschaften kooperieren mit den arbeitgebern, das friedensabkommen in der metallindustrie entsteht. doch es ist nicht innere einsicht, sondern die äussere bedrohung, die zusammenführt. daraus entsteht die konkordanz. die ist jedoch, anders, als man vielerorts behauptet, nicht durch dadurch begründet, sondern tief verankert in den erfahrungen der schweiz, bevor sie demokratie wurde: innere polarisierungen (regionen, konfessionen, sparachen, ideologien) haben sie gelernt, pragamtisch zu sein, um sich behaupten zu können. und darauf baut die zauberformel auf; 1959-2003 bestimmt sie die zusammensetzung des bundesrates: alle wichtigen kräfte sind jetzt in der landesregierung integriert, will heissen: sollen zusammenarbeiten. wo die zauberformel geboren wurde? in der schanzenpost, wo der konservative und der sozialdemokratische generalsekretär noch eigenhändig ihr postfach leerten, und sich heimlich trafen, um sich gegen die freisinnige vorherrschaft zu verschwören. erfolgreich. mindestens bis 2003.

12. station: die neue respektlosigkeit

ja, das dutzend könnte man dann auf dem bahnhofplatz vervollständigen. siehe meinen beitrag vom freitag, über die grünen, seit wenigen tagen die stärkste partei(engruppe) in der bundesstadt, denkbare anwärter auf einen sitz in der landesregierung (hanspeter uster?), und respektlose streithähne und -hennen in bern. hoffentlich bessern sie sich, wäre eher ein unwürdiger abschluss meines spaziergangs durch bern und die demokratiegeschicht. mal sehen, wie ich das integrieren kann/muss.

soviel in der eile, entstanden als reverenz an das gedenkblatt für die neuen bundesverfassung von 1874, mit der die direkte demokratie den durchbruch in der schweiz schaffte, und die alte republik (berns) in eine neuen übergeführt wurde. datiert vom 19. april, also von letzter woche (aber von 1874). chapeau, wenn auch etwas verspätet, aber oben gut begründet.

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