mit dem chefanalytiker unterwegs

klar, der spannendste abstimmungssonntag war der 21. mai 2006 nicht. der neue bildungsartikel in der bundesverfassung wurde angenommen, – mit einem 86 prozentigen ja-anteil und der zustimmung durch alle kantone. mangelnde spannung heisst nicht, dass an diesem tag politisch nichts geschah, wie der studiowanderer zu berichten weiss. der chefanalytiker der srg erzählt dem studiowanderer exklusiv, was ihm den tag hindurch durch den kopf ging.

Vorspiel: lohnt sich die abstimmungssendung überhaupt?

die erwartungshaltung war von beginn weg eindeutig. „nicht wirklich“, antwortete ulrich schlüer, einer der drei nationalräte, der gegen das bildungsrahmengesetz gestimmt hatte, als ihn der studiowanderer fragte, ob er heute siegen würde. denn auch er wusste es: alle regierungsparteien befürworteten die vorlage. selbst die kantonalen erziehungsdirektoren hatten, mit einer ausnahme, dem artikel ihren staatsmännischen segen gegeben. und schliesslich schlossen sich auch die meisten medien dem allgemeinen meinungstenor an. eine breite bevölkerungsdiskussion gab es nicht.

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foto: studiowanderer (anclickbar)

den chefanalytiker hätte es gefuchst, wäre der abstimmungssonntag ausgefallen. Seit dem 6. dezember 1992 ist er lückenlos im tv-studio gewesen. Immer, wenn es eidgenössische abstimmungen gab. insgesamt rund 50 mal. selbst als er eines unfalls wegens im rollstuhl war, kam es ins studio, und analysierte wie die schweiz sich für den kauf von amerikanischen fa-18 kampfjets entschieden. angefangen hat alles mit dem ewr. der chefanalytiker dazu: “ich war der erste, der es wusste, dass es nein war, aber der letzte, der es merkte.” Das ist wohl typisch: seine meinung ist nicht gefragt, sondern seine analyse. und das weiss er. gefragt sind fakten, wer wie warum stimmte.


foto: sf drs (anclickbar)

doch das allein ist es nicht, was ihn treibt: vor 15 jahren war das abstimmungsresultat jeweils erst am abend bekannt. Es wurde von der bundeskanzlei verkündet und stand oft unvermittelt in der landschaft: vox populi – vox die, sagten selbst die politologen in den 60er Jahren und scheuten sich, den volkswillen zu interpretieren. als kleiner, politisch interessierter junge hat sich der chefanalytiker häufig allein gefühlt. warum?, fragt er sich, etwa als man die demokratisierung des nationalstrassenbaus ablehnte. mit welchen folgen?, wollte er wissen, als man die mitbestimmung in den betrieben ablehnte damals wurde ihm klar: man muss mehr wissen, was geschieht, wenn sich 1,2 oder 3 millionen menschen politisch äussern.

angesichts der erdrückenden ja-bank hätte sf drs fast keine abstimmungssendung gemacht. doch dann entschied man sich des service public wegens zur tat. zu recht: das fernsehpublikum ist träge, will immer den gleichen ablauf. und so machte es an diesem tag sinn zu senden, wenn auch experimentieren: die nachrichten und analysen kamen diesmal nicht zur gewohnten zeit aus dem abstimmungs-, sondern im neuen nachrichtenstudio.

Hauptspiel 1: die knochenarbeit der analyse

die beschränkte spannung am frühen sonntag nachmittag erlaubte es dem studiowanderer, sich auch ein wenig umzusehen. viele lange gänge, ist das kennzeichen des studios leutschenbach. Die generelle angst im haus lautet: „… und esch niemeh umecho!“. Wenn man hereinkommt, muss man kundtun, zu wem man will. so ist man wenigstens registriert, und kann per telefonnummer der sf mitarbeitenden jederzeit aufgesucht werden. Besser wäre es heute allerdings, die handynummer zu verlangen. So würde man auch allfällige verschollene wieder finden!
der studiowanderer hasst übrigens die batches. Hatte mal einen und vergessen abzugeben, irgendwo in den vielen gängen liegen gelassen und nie mehr aufgefunden. Hatte eine lange, bürokratische auseinandersetzung nachgezogen …


foto: studiowanderer (anclickbar)

untergebracht ist das hochrechnungsteam, bestehend aus lukas golder, stephan tschöpe und luca bösch (bild) diesmal im sitzungszimmer der chefredaktion. wenn man reinkommt, hat man trotz aller aufhellung im haus den eindruck, im führungsbunker zu sein. UHHH, ueli haldimanns head quarter, sagen die leute: überall beton, keine fenster, nur kunstlicht! Wahrscheinlich auch hermetisch abgeriegelt, um selbst im notfall geschützt zu sein. Zum arbeiten ist es übrigens ganz angenehm: schön ruhig und kein passantenverkehr!

es wird konzentriert gearbeitet. weil alles schneller klar ist, will man sofort alles haben will: das hochgerechnete ergebnis der abstimmung, die voraussichtliche stimmbeteiligung, die vergleiche mit anderen volksentscheidungen, die analyse des abstimmungskampfes, etc etc. dafür wirkt ein ganzes team im hintergrund des chefanalytikers: sammlung der gemeindeergebnisse via telefon, faxe und web. auswertung dieser nach einem vorgegebenen schema, das extrapolationen erlaubt, die zu annahmen führen, wie die kantone stimmen und wie die schweiz. So weiss man es, bevor man es weiss: auf 1 prozent genau ist das extrapolierte ergebnis im schnitt.


foto: studiowanderer (anclickbar)

doch das ist nicht alles, was an diesem Nachmittag errechnet wird: datenbanken auf internet und des hochrechnungsteams erlauben es, die ergebnisse zu vergleichen: was war je die höchste zustimmung?, was die tiefste beteiligung?, will die tagesschau ohne vorankündigung wissen. man positioniert auch abstimmungen, das heisst, sie werden mit anderen in verbindung gebracht: Analyse der räumlichen konfliktmuster, nennt man das. so erkennt man rasch, in welchem masse ein vorlage als links/rechts-polarisierung erfasst wurde, zwischen den modernen und der traditionellen schweiz teilt, oder präferenzen zum ausdruck bringt, die für eine materialistische resp. postmaterialistische schweiz stehen. Es werden auch bezirks- und gemeindeanalysen gemacht, um parteihochburgen zu untersuchen, wahrscheinliche verteilungen der zustimmungen in den parteilagern zu errechnet und für die kommentierung des abstimmungsergebnisses zu verwendet.


foto: studiowanderer (anclickbar)

Aus dem traum des jungen in den späten 70er jahren ist in den 90er jahren ein politikwissenschaftliches geschäft geworden. der politisch interessierte wird zum schrittweise zum chefanalytiker. ihm passt das ganz gut. politisch im eigentlichen sinne ist er nämlich nicht, politisch interessiert aber weiterhin.

Hauptspiel 2: die analyse vom präsentationstisch aus

nach erledigter basisarbeit verlässt der chefanalytiker sein team. er eilt vorbei an einer fotoserie der wichtigsten köpfe bei sf vorbei ins neue tagesschau-studio. diese wirkt ein wenig wie eine ahnengallerie der lebenden tv-stars. „ja, der ist besonders sympathisch“, denkt er sich, „und die ist ganz speziell“, geht ihm durch den kopf. vom neuen tagesschaustudio ist er beeindruckt. das licht kanalisiert die aufmerksamkeit, – fast schon wie in einer kirche. klar ist, wo jesus gekreuzigt wurde, wo maria und joseph das geboren kind hüten, und wo die apostel das neue verkünden. eine mischung aus krippe und abendmal, wenn man den raum und den tisch miteinander in beziehung bringt.


foto: studiowanderer (anclickbar)

doch der präsentationstisch ist bei genauem hinsehen ein bumerang. und heute ist er speziell besetzt. nicht katja s., und nicht heinrich m., dafür urs l. der die abstimmungssendung moderiert, und catherine m., welche die nachrichten verliest. dazwischen, im winkel des bumerangs, claude l. der die abstimmungsanalysen vornimmt. und er handelt ganz danach: was die leute in die urne geworfen haben, wird ihnen jetzt zurückgegeben.


foto: studiowanderer (anclickbar)

von modernisierungskonsens spricht der chefanalytiker. konfliktlinien hat er, trotz aufwendiger suche, heute nicht gefunden. doch die vorlage ist eine modernisierung der schweiz. die polarisierte aber nicht. selbst in appenzell-innerrhoden, wo carlo schmid, das konservative urgestein der cvp, dagegen war, und im wallis, wo oscar freysinger, der walliser gymnasiallehrer mit beschränktem dichtertalent, für das nein warb, ist man mehrheitlich dafür. also haben auch die föderalisten ja gesagt. nicht mehr das kantönligeist-schulsystem ist gefragt, sondern die leistungsschule schweiz ist gefragt.


foto: studiowanderer (anclickbar)

dann gibt’s noch ein interview des chefanalytikers fürs radio, – heute in schneidekabinen der tv-crews untergebracht. wäre es 20 grad kälter, würde man sich in einem iglu fühlen, das mit modernster technik den anschluss an die welt aufrechterhält. doch wo ist der journalist? „michael, michael“, wo bist du? Kurze aufregung, denn bald ist sendung, und der techniker und der reporter sind weg. sind sie, draussen auf dem grossen leutschenbach-gletscher, in eine spalte gestürzt? – gott sei dank nein, sie kommen gerade noch rechtzeitig. So kommt die analyse auch übers radioiglu in ganz grönland an. der präsident des nein-komitees, bruno nüsperli, wird sich übrigens daüber beschweren. sie sei nicht ausgewogen gewesen. Man habe die ja-tendenz in der berichterstattung klar gemerkt, und auch die freude über das ergebnis sei in den kommentaren zum ausdruck gekommen. da kann der studiowanderer nur noch sagen: die tendenz an diesem sonntag war klar, und auch die erleichterung dürfte bei 8,6 von 10 stimmenden spürbar gewesen sein!

Nachspiel: innensicht der parteipräsidenten, aussensicht der bundestagsabgeordneten

zum schluss geht es doch noch ins abstimmungsstudio. die elefantenrunde der parteipräsidenten bedarf eines round-tables, wie sich der moderator urs leuthard ausdrückt. und dafür reicht der abendmahl-tisch im anderen studio nicht aus. da braucht es schon das gewohnte halbrund.


foto: studiowanderer (anclickbar)

wie gewohnt werden sie in stellung gehen: primo, ueli maurer, der lob für sein interview im tagesanzeiger zur vorschau auf die kommenden parlamentswahlen bekommt, das aber, weil es aus unerwartetem mund kommt, nicht annehmen kann; secundo, hans-jürg fehr, der schaffhauser, der historiker, der intellektuelle, der die heutige sozialdemokratie ruhig und besonnen vertritt; terzio, bruno frick, heute als ersatz für doris leuthard, in aufgeräumter laune und fast schon wie der neue parteipräsident der cvp. ja, und dann, noch fulvio pelli, auch schon mal selbstsicherer, vielleicht auch arroganter gewesen. heute grüsst er jeden im studio, dem er begnet, freundlich, fast so wie wenn er auf der suche nach neuen wählenden wäre! Weiter so!

wenn am abstimmungssonntag die politiker kommen, hat der chefanalytiker seine sonntagsarbeit normalerweise getan. auch heute überlässt er den höhepunkt zum binnendiskurs den parteichefs. doch nicht um nach hause zu gehen. ihn interessiert an diesem tag noch die aussensicht auf das geschehene. er geht noch rasch an die veranstaltung von iri, dem institut für initiative & referendum der universität marburg, denn dieses betreut eine delegation des deutschen bundestages, der zu studienzwecken in zürich weilt.


foto: hotel alexander, thalwil (anclickbar)

dort wir der chefanalytiker auch auf roger de weck treffen. Wie er ein freiburger, doch aus der aristokratie. dem chefanalytiker seine familie ist das einfacher: zuerst staatsangestellte, dann industrieangestellte. doch die beiden so unterschiedlichen freiburger referenten verstehen sich heute bestens. roger de weck spricht von der politischen kultur der deutschen und der schweizer: die deutschen lebten von gegensätzen in der öffentlichkeit, seien aber, davon abgeschirmt, durchaus bereit, kompromisse zu finden. Die schweizer wiederum würden über dem tisch stets die gemeinsamkeit betonen, während unter dem tisch mächtig in alle richtungen gezerrt werde. Zu den gemeinsamkeiten, welche die schweiz zusammen hält, zählt er die geschichte, den reichtum, den integrationswillen der daraus entsteht, und die direkte demokratie. die konservativen im publikum staunen ob dem patriotischen eifer, denn der abkömmlings einer aristokratenfamilie an den tag legt.

eine gewisse skepsis ist bei den gästen spürbar, wenn sie volksabstimmungen hören. im innern läutet es alarm: weimar! Nach aussen zweifeln sie an der legitimität von volksabstimmung mit geringer beteiligung. Doch die jüngeren abgeordneten, linker und grüner, wissen um die die partizipationsdefizite des deutschen parteienstaates, und bewundern die themenoffenheit der schweizer debatte.

der chefanalytiker spannt den bogen zum scheinbar bedeutungslosen abstimmungstag. deutliches ja zur zentralisierung des bildungswesens und modernisierungskonsens in sachen bildungsraum schweiz, sind seine stichworte. und er verweist auf die einigkeit der parteien, die fehlende polarisierung in der bildungspolitik. wenn es um fragen der europäischen integration geht, ist das ganz anders. dann herrscht aufruhr, dann regieren die emotionen, und die beteiligung ist hoch. heute war sie tief, der sockel konstant teilnehmender bürgerInnen entschied heute. dennoch ist das keine krise der direkten demokratie. diese wird im grund von allen akzeptiert. Sie ist die schweizer erfindung. der demokratieimport à la francaise 1798 funktionierte nicht. es brauchte die liberale bewegung, um die verschlossene schweiz zu öffnen, die radikale bewegung, um die herrschaft zu brechen, und die demokratische bewegung, um direkte demokratie auch mit werten zu füllen. In der schweiz ist das seit den 1870er jahren weitgehend unbestritten. Zur gleichen zeit sei deutschland eine verspätete nation geworden. Die schweiz hätte das nie richtig interessiert. Im vielvölkerstaat schweiz kommt der nationebegriff nicht gut an, wie in germanien. Doch habe man seit 1874 die kantonskompetenzen schrittweise zentralisiert. Zuerst bei militär, heute im bildungswesen. Insofern ist er sogar ein wenig historisch, der 21. mai 2006.


foto: studiowanderer (anclickbar)

die deutschen gäste danken den referenten mit einem diplom von des künstlers stüttgen, – dem grossen fan der direkten demokratie in deutschland. der chefanalytiker gibt den dank gleich weiter: bei der einführung der volksrechte in den kantonen seien die unzufriedenen bauern die soziologische basis der direkten demokratie gewesen. das unzufriedene bürgertum sei dann zum politischen vollstrecker geworden. Angeleitet wurde es jedoch durch einen unzufriedenen deutschen. ludwig snell, den die reaktion aus deutschland ausgewiesen habe, und den die revolutionäre in der schweiz als flüchtling aufgenommen haben. Deshalb habe die schweiz heute über die zentralisierung des bildungswesens abgestimmt. hat der deutsche bundestag gleiches schon gemacht?

man sieht es: aus dem traum des jungen politinteressierten in den 70er jahren ist in den 90er jahren ein politikwissenschaftliches geschäft geworden. dieser schritt ist abgeschlossen, doch kündigt sich schon der nächste an. aus dem schweizerischen anlass “volksasbtimmungen” soll ein europäischer werden. der chefanalytiker ist mit der direkten demokratie unterwegs. und wir mit dem chefanalytiker unterwegs.

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