wenn der rhein erzählt – und burgund hinhört

brilliant, wie er formuliert.
frappant, wie er alle lügen straft.
eklatant, wie wenig er bei uns gelesen wird.

das alles trifft auf lucien febvre zu, den französischen historiker, der von 1878 bis 1956 lebte und professor am collège de france war. gemeinsam mit marc bloch gründete er 1929 die heute berühmte historische zeitschrift “annales”, mit der die herausgeber zuerst die französische geschichtsschreibung, dann aber auch das historiogrphie weltweit revolutionierten. mit den annales haben die zahllosen autoren, die darin publizierten, die geschichte zur „histoire totale“ gemacht. dabei war febvre vor allem für die neuere geschichte zuständig.


portrait des historikers lucien febvre, 1878-1956 (foto: schweden-wanderer)

doch lucien febvre hat sich nicht einfach an die vom deutschen christian keller (cellarius) propagierte einteilung in alte, mittalterliche und neue geschichte gehalten. er hat auch skizzen gemacht, wie die historie totale diesen dreiklang neu eintönen muss. dabei verlangte er viel: er schrieb ein buch zu „Das Gewissen der Historiker“ und eines zu „Der neugierige Blick“. und beides ist programm, das er in seiner bemerkenswerte „Geschichte des Rheins“ ausführte: der fliesst nicht erst seit der reformation von luther und co.; er wurde nicht erst ein bedeutsamer strom, als karl der grosse die länder links und rechts von ihm beherrschte, und er trennt menschen nicht erst, seit caesar romanen und germanen schied. der rhein verlangt geradezu die totale: ueber die zeit, über den raum, und über die kulturen hinweg!

das beispiel der annales schule

lucien febvre hat das buch 1931 geschrieben. zunächst war es eine auftragsarbeit für eine bank. dann wurde es zum exemplarischen text der annales-schule, und heute ist es, auch ins deutsche übersetzt, als buch greifbar. wer sich für synthesen interessiert, kommt hier voll auf die rechnung. geboten wird zivilisationsgeschichte. geklärt wird das verhalten der kirche, der klöster, der städte, der herrscher, der nationen. geschrieben wird über das leben in einer zeitspanne von mehr als 2000 jahren. in diesem buch wird gezeigt, wir der rhein eine strasse ist, eine natürliche grenze, die mal rassen schied, auf deren basis die romania und die barbaria entstanden. doch dann kamen fermente, die im wahrsten sinn des wortes die gegensätze überbrückten: die kirche, die städte und die fürsten, die nach macht streben, – und es kamen die nationalstaaten, die die alte natürliche und kulturellen grenzen wieder auferstehen liessen.


foto: schweden-wanderer (anclickbar)

dem buch gerecht zu werden, ist gar nicht so einfach! denn sein thema entzieht sich allen gängigen gliederungen. es fliesst geradezu. so wie nur die ufer den strom begrenzen, begrenzen zwei buchdeckel den inhalt. so, wie der rhein immer wieder neuen raum erobert, erobert sich das buch immer neuen themen. zwar hat es eine feste form, und doch ist der inhalt immer wieder neu.

lucien febvre nannte das buch eine skizze: eine kurzform der geschichte. weil sie komprimiert werden musste, schrieb er demonstrativ keine zusammenfassung. alles, was das steht, ist nötig, um die geschichte eines naturphänomens, eines gesellschaftsfaktors und vieler menschenleben zu erzählen. erzählen ist dabei das richtig wort: all jene, die glauben, erzählte geschiche komme in der histoire totale nicht mehr vor, straft er lügen. seine rheingeschichte ist in recherche und bericht über kultur, wirtschaft, gesellschaft, politik zugleich, die durchwegs brilliant erzählt wird. man staunt, dass dieses buch nicht bekannter geworden ist, nicht mehr gelesen wird von chur bis utrecht.

die kostprobe der erzählkraft

ein kostprobe kann ich mir nicht verkneifen. eine wunderbare erzählung will ich hier wiedergeben, nicht zuletzt, weil die begebenheit bis nach bern ausstrahlte, um 1470 zum zweikampf zwischen adrian von bubenberg und niklaus von diesbach, zwischen dem burgunder- und der franzosenpartei führte. es ist ein portrait von philipp dem guten, der selbst in berns gerechtigkeitsgasse defilierte. doch es ist keine lokalgeschichte, denn bern liegt nur am zubringer des rheins und febvre schreibt totale geschichte. so ist es ein wurf zur geschichte des rheinlandes im späten mittelalter, eine sequenz der europäischen geschichte, die einschneidend so vieles andeutet, ohne es einlösen zu können. man ist am ende des 100jährigen krieges, der wie kein anderer die energien zwischen dem französischen und englischen königshaus band. als er endlich vorbei war, schuf man neue konzepte für europa. kreativ war das haus valois, das das herzogtum burgund beherrschte und von hier aus ausdehnte. schon kündete das alte mittelreich aus fränkischer zeit seine rückkehr an, und schon stellte man sich die frage, wer der neue kaiser sein sollte. der arme habsburger in wien, der hinterlistige könig in paris, oder die herzöge aus dijon? um seine antwort zu entwickeln, nimmt lucien febvre das gemälde „die anbetung der heiligen drei könige“ aus der bayrischen staatsgemäldegalerie hervor, das von rogier van der weyden, dem burgundischen hofkünstler, gemalt worden ist. und dann erzählt er in einem fluss …


bilderläuterung als erzählkunst, eine kostprobe des könnens von lucien febvre am beispiel der anbetung der heiligen drei könige, dem gemäldtevon rogier van der weyden für philipp den guten, herzog von burgund (foto: schweden-wanderer, anclickbar)

ueber herzog philipp den guten und das rheinland (S. 136-139)

„Am Ende des 15.Jahrhunderts hatte ein ironisches Schicksal ein letztes Mal den rheinischen Ländern den trüben Spiegel einer fernen Vergangenheit vorgehalten – und ihnen ein Angebot zugeflüstert. Mit der Stimme mächtiger und reicher Fürsten – nämlich der jüngeren Valois-Linie:; Philipp der Kühne, Johann ohne Furcht, Philipp der Selbstsichere und Karl der Kämpferische, die sich von ihren älteren Vettern, den Königen von Frankreich, so arg unterschieden -, vor allem aber mit der Stimm des „guten Herzogs“ Phillip hatte das Schicksal den politisch uneinigen, aber eine grundlegende kulturelle Einheit verspürenden Stadtbürgern einen ruhmreichen Namen zugeflüstert – den einzigen, unter dem die verschiedensten Länder am Rhein jemals zusammengeschlossen waren: Und es wiederholte ihn: Lotharingen.

Zu dieser Zeit schien die Nachfolge der Habsburger, die seit Albert II. an der Spitze des Reiches standen, offen. Dem steinreichen Herzog von Burgund gehörte das blühende Flandern; er besass die kostbarsten Gewänder und Geschmeide, und er verstand es am besten, sich eindrucksvoll in Szene zu setzen: darüber hinaus besass er eine kräftige Armee. Der träge und genussreiche Friedrich III., der beim Morgengrauen verschämt aus den Städten floh, die ihn empfangen hatten, weil er seine Schulden nicht bezahlen konnte, hatte dem nicht entgegenzusetzen. Seine einzige Macht lag in Oesterreich, sein Hauptquartier war Innsbruck, und seine Alpenroute ging über den Brenner. In den Augen der rheinischen Bürger, die von den Handelsbewegungen zwischen Lombardei und Nordsee lebten und sich ganz selbstverständlich am Septimer, am Gotthard und auch am Sankt-Bernhard orientierten, sprach dies alles gegen ihn.

Der Herzog von Burgund hatte alles, um zu gefallen. Und er gefiel auch allen. Den Rittern, die wehmütig ihren Niedergang kommen sahen, bot er berühmte Turniere, triumphale Waffengänge und altmodische Formeln, also ein etwas abgenutztes, völlig künstliches Ideal, das sich jedoch wie selbstverständlich im ritterlichen Gründer des Ordens vom Goldenen Vlies verkörperte. Für die zugleichmystischen und realistischen Stadtbürger spielten drei Dinge eine Rolle: Zunächst einmal die devote Religiosität des Burgunders, seine Fastenzeiten, seine Almosengaben, sein leidenschaftlicher Marienkult. Dann seine Vorliebe für derbe Ausdrücke, für die erzählten und erlebten Cent nouvelles nouvelles. Und zu einer Zeit, da die Menschen vom Ueberfluss träumten und alle ihre Phantasien auf den verführerischen Orient gerichtet waren, da sie den reichen Marco Polo zu den Wundern Asiens begleiteten oder mit Gadifer de la Salles und Jean de Bethencourt zu den Kanarischen Inseln segelten, zu einer Zeit, da Pilger vor der Alterwand von Gent ein Lamm verehrten, das mitten in einem realen oder imaginäre Wald voller wunderschöner Palmen, Zypressen und Pinien stand (so dass man unwillkürlich an einen Märchenwald dachte, „wie in Indien“, in dem merkwürdige Tiere lebten, während der grosse Herzog Philipp mit seinen Anhängern den „Fasanen-Eid“, das Kreuzzugsgelübde gegen die Türken, ablegte); in dieser Situation griff der Burgunder nun den Gedanken des Kreuzzuges wieder auf und schickte Hugo de Lannoy und Bertrandon de las Broquière aus, um ihn vorzubereiten. Dadurch erboberte er sich das übermütige Brügge und die Herzen aller Ritter, die von wilden Jagden träumten, ebenso wie die aller Bürger auf der Suche nach hohen Gewinnen.

Wer nie die Macht der Gewohnheit und die Festigkeit der Bindungen bedachte, die sich im Alltag zwischen den Menschen herausbilden, konnte nun am Rhein für einen Augenblick seiner Phantasie freien Lauf lassen und glauben, dass in Kürze am Bergfried die Stunde des Burgunder fröhlich schlagen würde.

Als er dann erschien, als er 1454 in Begleitung seiner Gesandten die Verbannten in die Städte zurückführte, Konflikte beilegte und schlichtete, begann ein Triumphzug durch Deutschland. Kein Stadtbürger, der jetzt nicht in seiner eigenen Sprache wiederholte, was auch die Schaulustigen von Paris murmelten, wenn sie diesen schönen Reiter an der Spitze eines goldenen Zuges sahen: „Das ist mal ein menschlicher Fürst! Er sei gesegnet, und alle, die ihn lieben ebenso! Was ist dagegen unser König, was für ein armer Mensch, der sich nur mit einem grauen Rock kleidet und nichts so sehr hasst wie die Freude!“

Erinnern wir uns hier an die Anbettung der Heiligen drei Könige, die Rogier van der Weyden für Sankt Kolumba zu Köln malte. Der alte krieende König, der auf diesem Bild ehrerbietig die Füsse des Christuskindes küsst, ist nämlich kein anderer als Philipp der Gute. Und der junge starke König in seinem weiten Mantel, der sich hinter ihm verbeugt und wunderbares Geschmeide in beiden Händen hält, ist sein Sohn Karl der Käümpferische (le Bataillard), den wir den Kühnen (le Téméraire) nennen. Märchenhafte Könige also, die an die Ufer des Rheins, in die grosse Handelsstadt kommen, um ihre Schätze darzubringen. Berühmte Könige, die das alte Wort der Karolinger wieder aussprechen, das den Rheinländern so lange am Herzen lag: Lotharingen.

Als nun Philipp der Gute von Friedrich III. ein Königreich dieses Namens forderte, hatte er nicht die Absicht, mit dem Schwert einen bunten Flickenteppich zu schneidern, also die am ganzen Rhein verteilten Herrschaften unter ein burgundisches Joch zu zwingen. Das war eher eine moralische als eine territoriale Frage. Da der Burgunder, wie Chastellain sagte, „zwar kein König war, aber den Mut eines Kaisers hatte“, wünschte er sich einen Titel, der ihn sowohl aus der Lehnsabhängigkeit von Frankreich befreite, als auch seinen Vorstellungen von Rittertum und Kreuzzug entsprach. Es ging im nicht nur um eine Krone; als man nämlich die Möglichkeit eines Königreichs Brabant erwähnte, lehnte er hochmütig ab. Er wollte einen Titel von historischem Gewicht, einen Titel, der eine Hegemonie legitimierte und auch dem Kaiser gegenüber etwas darstellte – eben darum ging es dem Burgunder. Seine Herrschaft sollte vor allem eine moralische und mythische Dimension haben. Ihre Grenzen mochten verschwommen bleiben, und ihre Anwendung sollte leicht fallen. So würden auch die Rheinländer eher zu gewinnen sein. Obwohl der Herzog sie von zwei Seiten her, von Norden (den Niederlanden) und von Süden (dem Oberelsass), unter Druck setzte, bedeutete sein Lotharingen für sie nicht bloss eine stärkere rechtliche und politische Bindung, sondern in erster Linie eine Ausstrahlung einer gemeinsamen Kultur:; französisch genug, um reich und geachtet zu sein; aber auch rheinisch genug, damit die Menschen am Rhein ihre uralten Lebensweisen und Gefühlswelten darin wieder erkannten.
Dieser Traum währte nur kurz …“

ganz schön dramatisch, wenn lucien febvre den rhein zu sprechen bringt, wenn er die geschichte des burgunders erzählt, der grossartig lotharingen wieder auf erstehen lassen wollte und dessen sohn ebenso unglaublich daran scheiterte …
stadtwanderer

schweden-wanderer

Lucien Febvre: Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Studer, Campus Verlage, Frankfurt/New York 1995

herodot – vater der geschichtsschreibung

geschichte soll lehren, meinte der grieche herodot, und verfasste vor fast 2500 jahren erstmals nicht nur ein epos oder eine chronik, sondern ein philosophisch inspiriertes geschichtswerk. der weit gereiste historiker, geograph und völkerkundler in einem beeindruckt bis heute, selbst wenn seit den römern bis heute vielfältige kritik an seinen historien aufgekommen ist. eine erste kleine auseinandersetzung mit der prioniertat der gelebten geschichtserzählung, – aus den ferien des stadtwanderers, – folge 1!

gelebte geschichte, egal ob erzählt oder geschrieben

als ich geschichte studierte, kam er nicht vor. die geschichte der geschichte begann mit dem historismus, der deutschen form der geschichtsphilosophie. dieser entstand anfangs des 19. jahrhunderts als abgrenzung zum wirken napoléons. für die historiker des historismus sind die staaten und männer die treibenden kräfte in der geschichte. diese ist denn auch in hohem masse politische geschichte. anders als in frankreich und england hat sich die geschichte in deutschland lang nicht mit der sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichte befasst, die ich im verlauf des studium doch noch kennen lernte.

seit wann man geschichte hat, erzählt und schreibt, interessierte mich ebenfalls gegen ende des studiums, und so begann meine beschäftigung mit der theorie der geschichte. ich wählte das sogar als prüfungsfach bei walther hofer. auch er war ganz dem historismus verpflichtet, wenn auch in modernisierter form. und mit ihm konnte man so herrlich streiten, und in dieser dialektik wurden einem these und antithese bewusst, egal wer sie vertrat. Damals war meine ablehnung des historismus klar, und das führte mich in anlehnung wie in den späten 70er üblich von der historischen sozialwissenschaft zur soziologie und schliesslich auch zur politikwissenschaft und meinungsforschung.

das interesse an diesen fragen ist bis heute wach geblieben. und dabei gegnete ich ihm doch noch: herodotus, dem vater der gelebten, erzählten und geschriebenen geschichte, der von 484 bis 425 vor unserer zeitlebte, und der mit seine historien eine neue gattung in der griechischen literatur begründete. Wohl ist er nicht der begründer der geschichtswissenschaft, aber er ist der begnadete erfinder des weltlichen geschichtsverständnisses.

leben, werk und würdigung von herodot

schon herodots leben war für seine zeit spektakulär: er wurde in halikarnassos in kleinasien (heute bodrum in der türkei) geboren. schon als junger mann unternahm er viele und lange reisen nach persien, aegypten, babylonien und ans schwarze meer. dort lernte er die vorderorientalische welt kennen, die ihren höhepunkt schon hinter sich hatte. mit dem ganzen erfahrungsschatz, den er so gesammelt hatte, schloss er sich einer gruppe von stadtgründern an, welche das süditalienische thurioi entstehen liessen. um 450 verliess er seine gründungsgemeinschaft, um als gelehrter nach athen zu gehen, wo er mit den grossen seiner zeit, sophokles und perikles, in kontakt trat. hier – oder in thurioi – ist er auch gestorben.

seine lebenserfahrungen fasste herodot zunächst in kleinere, in sich zusammenhängende geschichten, später logoi genannt. diese trug er als erstes in der öffentlichkeit vor, sprach auf athens plätzen so, dass er interessierte zuhörer fand. seine anhänger waren ihm wichtig, und ihre reaktionen auch, denn sie lehrten ihn, den geschichten eine form zu geben, die lebendig und fest zugleich war. so entstand ein geschichtswerk aus der praxis, als sammlung von eigenen ansichten und traditionen, mit denen herodot gross geworden war. bis heute ist sein 9bändiges lebenswerk im buchhandel und (teilweise) auf internet gefragt.

cicero, der grosse rhetoriker, der führende politische gegenspieler von caesar und der glücklose verteidiger der römischen republik, lobte herodot als „vater der geschichtsschreibung“, tadelte ihn aber auch als „erzähler zahlloser märchen“. diese ambivalenz in der würdigung des weltreisenden, des stadtgründers und des gelehrten herodots ist bis heute geblieben. niemand kommt an ihm vorbei, wenn man die geschichte der geschichte ausrollt, doch alle rümpfen ein wenig die nase.

der philosophierende tausendsassa

warum das? herodot war zunächst ein tausendsassa, ein pionier in vielen gebieten. er befasste sich mit politischen fragen, verglich verfassungen und gab ratschläge, was gut und schlecht ist. er verstand sich auch als geograph, der vorgab, wie die welt und ihre karte auszusehen haben. und er war ein völkerkundler, der seine, aber auch fremde kulturen durch eigene anschauungen kannte. das alles machte er mit verve, was in seinem erzählerischen talent bis heute zum ausdruck kommt.


karte: die welt als insel, gezeichnet nach den vorschlägen herodot, im 5. jahrhundert vor unserer zeit. die konturen und proportionen rund um das östliche mittelmeer und das schwarze meer, die herodot von seinen reise her kannte, stimmen auffällig gut. wo der augenschein jedoch fehlte, stimmen auch die angenommenen verhältnisse sichtbar schlecht.

sodann verfasste herodot seine geschichte nicht als epos und wirken der götter oder als chronologie und gedächtnis der herrschenden. nein! erstmals verband mit herodot ein historiker seinen bericht mit einem philosophischen thema. Denn es ging ihm um die frage, wie es kommen konnte, dass persien, dass über dem alten vorderorientalischen gleichgewicht der mächte in aegypten, babylonien, medien und lydien zu einer imperialen grossmacht aufgestiegen war, in der schlacht von marathon gegen den stadtstaat athen verlor.


karte: verlauf des persischen krieges in griechenland, der mit dem überraschenden sieg athens endete, und der herodot zum verfassen seiner historien veranlasste. der marathonlauf erinnert bis heute an den sieg der athener 490 vor unserer zeit in der schlacht von salamis

philosophie war damals in hohem masse morallehre. und genau darum ging es herodot. dem bedenkenlosen handeln stellte er das bewusstsein für das eigene tun gegenüber. das war (und ist) nicht selbstverständlich, sondern der anfang aller selbstreflexion. seine lehre war eine art corporate governance, denn sie beinhaltete vorschriften über verantwortung, aber auch über leistung, erfolg und schuld. und: seine morallehre war eine grosse warnung vor hochmut. der gescheiterte aufstieg der perser stand für ihn sinnbildlich dafür; während athen noch rein war. doch es musste gewarnt werden, gleiches wie in den zerfallenden reichen des orients zu begehen.

herodot aus sicht des stadtwanderers


heute ist man vorsichtiger mit aussagen, wie sie herodot machte. man treibt wissenschaft; dafür kann man auf den schultern anderer stehen, die vor einem ihre lebensweisheit in den grossen diskurs um sinn und wahrheit eingebracht haben. man muss auf all dies vorher erbrachten leistungen referieren, und man kennt auch alle enttäuschungen, welche die wissenschaft ausgelöst haben.

ob die geschichte uns etwas lehrt, wird heute überwiegend bezweifelt. den moralisten und optimisten stehen skeptiker und pessimisten gegenüber. da passt herodot nicht mehr so richtig hinein.

und dennoch ist herodot, der nie geschichte studiert hat, der geschichtsschreibung wie kein anderer begründet hat. Seine kritierInnen hat er allesamt überlebt, weil er geschichte gelebt hat. Weil er sie selber verkörpert hat. Weil es sie vortragen konnte. und weil er ihr eine literarische form gegeben hat. das ist mehr, als viele gescheite chronisten heute können, oder theoretiker je zu denken wagen.

vielleicht ist das auch das unergründliche geheimnis der geschichte, die sich allen versuchen zum trotz immer wieder gegen die verwissenschaftlichung gesperrt hat. mich jedenfalls hat das schon im studium überzeugt, bei meinen damaligen lehrern walther hofer und erich gruner genauso wie bei meinen späteren vorbildern unter den schweizer historikern, walter burkhardt und jean-rudolph von salis. ohne es damals schon zu wissen: sie alle war für, während oder nach meinem studium herodots schüler, die auf mich wirkten.

für herodot waren seine historien erkundungen. er war reisender. er war wanderer. stadtwanderer. er besuchte führungen, und verwickelte seine mitmenschen in klärende gespräche. damit hat er wie kein anderer die klassisch-griechische geschichtschreibung begründet. durch ihn hat die geschichtsschreibung eine bis heute nachwirkende form erhalten. doch er überzeugte schon zu seiner zeit. er hat die alten kräfte der geschichte, die götter und die helden der vergangenheit und der gegenwart, nicht geleugnet. er hat ihre kunde jedoch mit den eigenen anschauungen verbunden, die er mündlich und schriftlich weiter gegeben hat. seine bleibende leistung ist, pionierhaft die reichhaltigkeit der kulturellen erklärungen, die seine zeit anbot, persönlich gesammelt und für die nachwelt festgehalten zu haben.


grafik: vorstellung der entwicklung der menschheit, wie sie im 20. jahrhundert karl jaspers als philosoph des westlichen und technischen zeitalters entwickelt worden ist, und zahlreiche weltgeschichtliche betrachtungen heute noch prägt.

gelebt hat herodot in einer zeit, die karl jaspers als einschnitt in der menschheitsgeschichte interpretiert hat: der achsenzeit: die alten hochkulturen, die aus den ersten zivilisationen hervorgegangen waren, hatten, wie in aegypten, ihren höhepunkt erreicht. der hellenismus griechenland war die kulturell aufstrebende kraft. mit ihm entwickelte sich gerade im 5. jahrhundert die dialektik von orient und occident, deren synthese europäische imperien entstehen liess, während ihre aufsplitterung religiöse welten begründete. Das kulturelle erwachen in der achsenzeit, das kunst, religion und philosophie veränderte, weckte herodots neugier, die ihn zu seinen geschichten antrieb, ohne zu ahnen, was aus der welt und seinen historien werden würde.

selbst einstein und der stadtwanderer zähl(t)en herodots werk zu ihrer bevorzugten lektüre. ueber sein (und ihr) grosses thema, dem krieg und dem frieden, hielt herodot für seine leser in zwei sätzen, die prägnanter nicht sein können, fest:

im frieden begraben söhne ihre väter. im krieg väter ihre söhne.

stadtwanderer

Literatur
Herodot: Historien. Ditzingen 2002