im bild sein

nun tagt er wieder, der deutsche historikertag. eine respektable versammlung ist es, die sich in konstanz gelehrt unterhält: „GeschichtsBilder“ sind das thema. man vollzieht damit, quasi offiziell, nach, was der stadtwanderer schon lange weiss und vormacht: geschichte in bildern zu erzählen, die zu orten passen, ist seit cicero eine wichtige technik der individuellen und kollektiven memorierung, die mir besonders am herzen liegt.

geschichtsbilder als wissenschaftliche mode

diese woche scheint sich am bodensee eine kleine revolution abzuspielen. ausgerechnet die deutschen historiker, die quellenfixierten textliebhaber, geben vor, das bild als historische informanten zu entdecken. da kann der stadtwanderer nur milde lächeln, denn es sind nicht mehr als wissenschaftliche moden, die so aufkommen und gehen.


melusine mit drei ihrer zehn söhne, die alle ein gut sichtbares merkmal haben

doch ich will nicht lästern! denn das thema des historikertages ist ernst genug. es hat nicht ohne grund die ganzen sozial- und humanwissenschaften erfasst: am anfang stand die „emotionale intelligenz“; es folgten werke zum emotionalen handeln, und heute ist man beim grossen thema „bild und emotionale kommunikation“ angelangt. dahinter verbirgt sich ein system: menschen behalten gelesenes nur schlecht, erzähltes schon besser und gesehenes ganz gut, weiss ich aus erfahrung. didaktisch ist das bild ein gefeierter meister, denn visualität schlägt literalität immer.

dem vorteil des bildes kann man aber auch misstrauisch gegenüber stehen: hirnforscher fragen heute, wie wir funktionieren, genetiker geben wir, es entschlüsseln zu können, und philosophen stellen die kantianische frage nach dem freien willen des menschen, seiner voraussetzungen und seiner barrieren neu. „sind wir alle visuell manipuliert?“, könnte man das mit einer bangen frage zusammenfassen!

sicher nicht manipuliert sind die historikerInnen in deutschland. der auftritt zum historikertag auf dem web enttäuscht jedenfalls, denn das angebot ist eher traditionell: professorale sessions, mit discussion papers, die nur darauf warten, gelehrt gelobt zu werden. das bild als quelle gibt es schon, selbst bildinterpretationen werden zugelassen, wo texte fehlen, und geschichtsverständnisse als geschichtsbilder werden angeboten. wirklich revolutionäre durchbrüche habe ich aber bis jetzt kaum ausmachen können, und so wird es wohl eher einen üblichen text- als bildband zur tagung geben.

die melusine des berner schultheissen thüring von ringoltingen

das muss ich einen gegenpunkt setzen, denn historiker müssten eigentlich wissen, dass historische bücher vor dem buchdruck eher betextete bildbände, den bebilderte textbände waren. und bern war in dieser entwicklung im 15. jahrhundert europäisch gleich mehrfach führend.

den startpunkt setzte könig sigismund, als er 1414 auf dem weg zum konzil in konstanz in bern weilte, das steinerne rathaus einweihte und bern zum königlichen stand erhob. jetzt wurde man sich seiner bedeutung bewusst, und man begann gerade in bern bücher herzustellen. conrad justinger, der erste staatlich besoldete schreiber der stadt bern, erhielt den auftrag, eine stadtgeschichte zu verfassen. erschienen ist sie aber erst im 18. jahrhundert, denn bücher hielt man damals für verführerisch. doch die obrigkeit liess sich gerne verführen: sie beauftrage auch geschichtsbewusste berner wie tschachtlan und schilling, fortsetzungen von justinger zu verfassen: eindrückliche geschichtsbilder sind damals entstanden, die heute noch sehenswert sind und einen spätmittelalterlich geprägten eindruck der eher frivolen welt vom leben mit der pest zeigen.


reymond beobachtet verbotenerweise seine gemahlin beim baden und entdeckt, dass sie eine fee ist

da kann ich natürlich thüring von ringoltinges “melusine” nicht auslassen, denn der gesellschaftsroman mit geschichten aus dem ritterleben war lange eines der beliebtesten bücher in bern. der epische angelegte roman, der als volksbuch erschien, erzählt die geschichte der schönen fee, die in menschengestalt den heruntergekommenen kleinadeligen reymond heiratet, ihrer lebtag aber ein fabelwesen bleibt: in der gesellschaft ist sie eine gute christin, eine gute grau und eine gute mutter: 10 Söhne gebiert sie ihrem mann. obwohl alle einen makel haben, gedeihen sie prächtig, und der aufstieg der familie ist sicher. um zu zeigen, dass man nicht irgendjemand ist, nennt man sich fortan de lusignan.

doch war die heirat zwischen reymond und melusine an eine bedingung geknüpft: an samstagen ist die frau für den mann tabu. er darf sie nicht sehen, und er darf ihr auch nicht nachspionieren. natürlich hält er sich nicht daran, und bohrt ein loch in die türe der badestube. da entdeckt er erst, dass seine gemahlin keine frau, sondern eine fee ist. originalton aus dem 15. jahrhundert:

„raymond gesach durch das loch hinin und sach das sin wip und gemachel in einem bade nacked sass. Und sie was vom nabel uf ein uss der acht schöne wiplich bilde, von liebe und angesichte unsaglich schön. Aber vom nabel hin der under teil was ein grosser fyentlicher wurms von blauer lasur mit wisser farb und runden silberin tropfen gesprengt …“

melusine bemerkt die untat ihres gatten und fährt mit einem schrei aus dem fenster der badstube. sie verflucht den unhold reymond, sodass erst die fürbitte eines gemeinsamen sohnes beim papst in rom die familie von der schande wieder erlöst.

eigentlich stammt melusine aus dem französischen ritterroman des späten 14. jahrhunderts. von da kam der stoff nach bern, wo er von thüring von ringoltingen, einem berner junker, der bis zum hiesigen schultheissen aufstieg, aufgenommen wurde. 1415, in der zeit der neuen bücherkunst geboren, verfasst er eine deutsche übersetzung, die 1456 als gesellschaftsporträt der damals bekannten welt erscheint.

berner beiträge zum weltbild des spätmittelalters

das original von ringoltingens ist leider ganz verschwunden, doch es gibt 10 abschriften und 30 drucke, die sich auf ihn beziehen. denn was von ringoltingen der deutschen nachwelt hinterliess, faszinierte die aristokratie weit über den rhein hinaus bis tief ins 19.jahrhundert hinein. und selbst heute scheint melusine in verwandelter formn nichts von ihrer faszination eingebüsst zu haben, bleibt sie doch als meerjungfrau in film und fotografie, aus geheimnisvolle dame der guten gesellschaft in literatur und malerei eine beliebtes thema.


melusine fliegt ihren mann verfluchend davon

nun ist dieser tage in wiesbaden einer der ältesten drucke neu heraus gekommen. andré schnyder, ein germanist, der selber zwischen bern und lausanne und zwischen französisch und deutsch pendelt, hat die ausgabe editiert. bezogen hat er sich auf eine version des baslers bernhard richel, die 1473/4 erschienen war. und sie zeigt, wie damals schon gesellschaftsromane, familienhistorien und sittengeschichten aufgemacht waren: 67 bilder erschliessen den verschachtelten text im nu, denn sie verbanden, wie damals üblich, text, bild und buch in einem stück.

ich bin kein psychologe, weshalb ich auf eine tiefenanalysen der psyche in der gesellschaft des 15.Jahrhunderts verzichte. ich kann deshalb auch keinen originellen beitrag zur grossen debatte leisten, ob wir durch bilder inspiriert oder verführt werden. ich bin aber historisch inspirierter berner stadtwanderer, der sehr gerne in den alten, wertvollen bücher vor dem eigentlichen buchdruck schmöckert, und diese verführung auch liebend gerne bloggend weiter reicht.

bern bietet gerade hierzu reichhaltiges anschauungsmaterial. geschichtsbilder finden sich gerade in dieser zeit zuhauf, denn das wort, das die bücher der reformation und der wissenschaft lange bestimmte, hatte im katholizismus und im gesellschaftsleben von damals noch keine dominante stellung. immer wieder findet es das bild als spiegel des textes.

das sollte man eigentlich auch in konstanz wissen, denn hier wehrte sich die katholisch-lebensfrohe gesellschaft auf dem konzil noch ein letztes mal gegenüber ihren unerbitterlichen kritiker gegenüber. wer 2006 von einer wissenschaftlichen wende, einem paradigmatischen wechsel und gar von einer wissenschaftlichen revolution spricht, sollte nicht vergessen:

im bild darüber, was geschieht, war man schon lange, bevor es geschriebene bücher gab.

stadtwanderer

quelle:
thüring von ringoltingen: melusine (1456), hgg. von andré schnyder, in verbindung mit ursula rautenberg, 2 bd., wiesbaden 2006