karl der fiktive

teil 1 der serie: das fröhlich erfundene mittelalter

“bitte nicht!”, donnern die ausgebildeten mediävisten zurück, wenn man nur schon den namen “heribert illig” in den mund nimmt. “das ist doch unwissenschaftlich und längst wiederlegt”, tönt es dann von hoher warte. doch illig lässt mit seiner these zum erfundenen frühmittelalter seit jahren nicht locker, und rüttelt immer mehr am politkulturellen fundament der europäischen geschichte: in seinen bestsellern auf dem buchmarkt befördert er karl den grossen, den frankenkaiser aus dem jahre 800, schlicht zu karl dem fiktiven.


karl der grosse, charles le chauve oder einfach karolingischer reiter: darüber streiten die mediävisten angesichts dieser statue im louvre: frei erfundene geschichte donnert ihnen heribert illig entgegen

die provokation an die adresse der mediävistInnen

streicht man, wie illig es vorschlägt, die jahre 614 bis 911 aus der europäischen chronolgie, weil sie nachträglich erfunden und eingeführt worden seien, entfernt man nicht weniger als den aufstieg und den fall der karolinger aus der noch jungen kontinentalgeschichte. das alleine ist schon eine kampfansage!

die machtergreifung der hausmeier im merowingischen königreichreich hätte demnach gar nie stattgefunden; weiteres wäre die auseinandersetzung zwsichen christen und mohamedanern, die in der schlacht von poitiers gipfelte, frei erfunden; der frankenkönig pippin wäre, wenn man den besagten zeitraum annuliert, gar nicht vom papst als nachfolger könig davids gesalbt worden; für das sakrale königtum eine blamage. und last but not least: karl der grosse, der das untergegangenen weströmische reich hat auferstehen lassen, wäre ganz einfach eine fälschung!

abtreten müssten auch karls kontrahenten, herzog tassilio III, der baier, stammeskönig widukind, der sachse, und auch kalif harun al-raschid würde definitiv ins märchenreich von “tausend und einer nacht” verschifft. damit nicht genug: alle ganz alten dynastien der europäischen adelhäuser wären demnach mehr oder minder getürkt; 25 kaiser, vor allen in byzanz, müssten entsorgt werden, und 50 päpste weniger hätte die römische kirche bis heute.


vor der korrektur des erfundenen mittelalters: gewohnter, aber falscher überblick über die nachrömische europäische geschichte

die provokation an die europäische union

das ist nicht nur für eingefleischte mediävisten und die spezialisten der frühen neuzeit starker tobak. was heribert illig vorträgt ist auch politisch brisant! denn mit karl dem grossen würde der viel zitierte “vater europas” verschwinden. das fundament jener geschichte würde bröseln, die von der europäischen union gerne verwendet wird: die herleitung europäischer gemeinsamkeiten und nationaler sonderungen, die legitimierung staatlicher ordnung über der gesellschaftlichen gliederungen, und die verpflichtende überlieferung resp. christlicher sittlichkeit würden in frage gestellt. so sieht es jedenfalls die überwiegende zahl der feuilletonistInnen.

den minderheitlich kritikern von karl mag das alles recht sein, denn es entfällt so auch die fürchterliche geschichte der brutalen schwertmission, mit massenmorden, verwüstungen und deportationen als schaurige vorbilder für spätere zeiten. illig schliesst sich dem im letzten satz seines buches voll an: “Wir können heute erstmals die Einigung eines Gebietes versuchen, das bislang immer heterogen gewesen ist, und wir sollten dazu auch Mittel einsetzen, die humanem Geist entsprechen.”


nach der korrektur des erfundenen mittelalters: ungewohnter, aber richtiger überblick über die nachrömische europäische geschichte

die herausforderung für die burgunder-fans in der schweiz

selbst wenn die auswirkungen auf des stadtwanderers verehrte burgunder geringer sind, füge ich bei: es gibt sie, und sie sind nicht einfach sinnlos!

die burgundia von könig gundobad aus der späten völkerwanderungszeit wäre gar nie im fränkischen reich untergegangen, um nach dessen untergang auf wundersame art und weise wieder aufzuerstehen. vielmehr wäre die ostgermanische, romanisierte herrschaft im rhonetal frühzeitig mit dem kloster von st. maurice christianisiert worden und direkt in die königsherrschaft der rudolfiner gemündet. normalerweise schiebt man auch hier gut 300 jahre ein, über die man aber kaum etwas weiss. streicht sie, muss man mit illig raten! die drei rudolfe und der eine conrad aus dem 10. jahrhundert wären also viel näher an der eigentlichen völkerwanderungszeit gewesen, die sarazennen würden sich als berberische händler entpuppen, und die madyaren, die das burgunderreich verunsicherten, kämen hunnischen reitern gleich aus dem 5. jahrhundert gleich.

bleiben würde aber die geografische und ethnische nähe von burgunder- und langobardenreich, und adelheid, die burgundische prinzessin und lombardische königin, wäre neu der beleg einer frühen und starken verbindungen beider völker, die mit ihrer heirat mit könig otto von sachen und franken das römische reich ohne fränkisch-karolinigisches zwischenspiel eingeleitet hätte. rhonetal, ligurische küste und po-ebene waren, würden, wie seit den zeiten caesars eine weitgehende einheit bilden.

auch wenn sich illig dazu nicht direkt äussert: das gebiet der schweiz wäre seiner auffassung nach nie fränkisch gewesen. die karolingerherrschaft über zürich, müstair und st. maurice wäre erfunden. aus alemannen und rätiern zu römerzeiten wären mehr oder weniger direkt die kernvölker von schwaben entstanden, die sich parallel zu astrasien und sachsen formiert hätten und dann im neuen römischen reiche aufgegangen wären.

die ganzen legenden über karl den grossen schliesslich, der auf dem zürcher münster abgebildet ist, weil er ich mehrfach in zürich aufgehalten habe, können mit illig definitiv ins reich der erfindungen verschoben werden. wenn er nur karl der fiktive ist, muss man auch nicht klären, ob er je in zürich war, oder ob das doch nur sein enkel karl der dicke war! fiktiv wären nämlich beide …


karl der grosse am züricher grossmünster: bitte abmontieren, denn er ist nicht mehr als karl der fiktive!, sagt buchautor illig

vorläufige bilanz zu illigs these


ganz schön spannend! aber auch ganz schön gewagt, der gedankengang von heribert illig. der wahrheitsbeweis muss erst noch erbracht werden!

audiatur et altera pars, höre auch die andere seite, bleibt ein gut begründeter grundsatz bei der prüfung von kontroversen standpunkten. und genau das erzähle ich im dritten teil meiner kleinen serie über das fröhlich erfundene mittelalter.

stadtwanderer