das beginnt ja schlecht

ausgerechnet: eine neue hauptstadt sucht die schweiz, wo sie doch gar keine hat! sogar abstimmen kann man drüber, wo doch die wahlen im herbst nur dem parlament, nicht der regierung und schon gar nicht ihrem (geografischen) standort gelten! pleiten, pech und pannnen für die werbewirtschaft, sag ich da, was ich dieser tage in bern zu sehen bekomme …


fast als suchten wir einen neuen superstar: die apg sucht zur deckung ihres januar-loches mit unterstützung der medienwissenschaft eine “neue hauptstadt der schweiz”

gespannt, was nach ein paar tagen der abwesenheit in bern alles neu ist

ich war ein paar tage nicht in der stadt. habe ausgespannt. umso gespannter war ich danach zu sehen, was sich verändert hat. und da sprang mir natürlich eine plakatkampagne sofort ins auge: “die schweiz wählt eine neue hauptstadt!”, steht da auf schweizer rot im untergrund in grossen ebenso schweizerisch weissen lettern zu lesen. zur auswahl vorgeschlagen sind basel (neu), zürich (neu), genf (neu) und bern (neu)!

hää? – bern (neu)?

bern ist gar nicht neu, sondern soll durch die aktion nur provoziert werden, hör ich. und ich sehe, dass der bär durch das baasle tiibli, den züri loi oder den genfer adler abgelöst werden soll! eingeladen werden wir zur entscheidungsschlacht mit sms-spiessen von der werbewirtschaft.

findige scherschöre haben das im nu entdeckt: hinter der aktion steht die forschungsabteilung der allgemeinen plakatgesellschaft (apg). und hinter der apg steht eine forscherin der uni zürich, die plakatwerbewirkung messen will. als aktionsforschung als absatzförderung denkt man sich da! und fragt sich weiter, ob sich öppen christian kauter, berner, weiland fpd-politiker und heutiger apg-geschäftsführer dafür rächen will, dass er seine politischen ambitionen auf das berner stadtpräsidium beerdigen musste?


vorschlag 1: unser sog. weltoffenes dreiländereck basel soll neue hauptstadt der schweiz werden (foto: stadtwanderer, anclickbar)

die sog. hauptstadtfrage in der schweizer geschichte

die scheinbar cleveren kommunikatoren hätten sich aber besser informieren sollen. denn der begriff der “hauptstaat” gibt es im bundesstaat der schweizerischen eidgenossenschaft seit 1848 gar nicht!

ausgerechnet die zürcher pfiffigen werber scheinen vergessen zu haben, dass ihre vorfahren 1848 die leute in exemplarischer weise bern als hauptstadt der schweiz zu verhindern suchten. und ausgerechnet die gekonnte zürcher kommunikationswissenschafterin weiss nicht, was peter stadler, geschichtsprofessor an der gleichen uni, schon vor jahren gut greifbar dokumentiert hat: die leidige leidige hauptstadtfrage in der schweizerischen eidgenossenschaft.

als man sich nämlich 1848 daran machte, die hauptstadtfrage des jungen bundesstaates festzulegen, brachen die alten rivalität zwischen den kantonen auf. einverstanden war man allseits, das überholte rotationsprinzip mit einem wechselnden vorort aufzugeben. doch keine der bestehenden kantonshauptstädte mochte man es gönnen, nun auch hauptstadt des bundesstaates zu werden. diskussionshalber erwogen wurde sogar “nirgendwo” als neue stadt zu gründen und zur ersten stadt der schweiz zu küren!

in der echten abstimmung, die 1848 in der bundesversammlung stattfand, standen noch drei kantonshauptstädte zur auswahl: bern, luzern und zürich. alles glaubte, dass zürich obsiegen würde, und so machte man sich schon daran, am bürkliplatz orte auszukundschaften, die sitz der landesregierung werden sollten.

doch man wurde eines besseren belehrt: zürich viel schon in der ersten abstimmung durch! alle argumente zur wirtschaftsmetropole mit ausgebauter infrastruktur und zugang zum eisenbahnnetz halfen nichts. zu gross war die rivalität, die schliesslich auch in der ostschweiz gegenüber der zürcher vorherrschaft ausbrach und der kandidatur zürich den rest gab. schliesslich vereinigte man gerade noch 35 stimmen im national- und 13 im ständerat auf sich. die innerschweizer wiederum setzten auf luzern, mobilisierten aber nur 6 resp. 3 stimmen. der verkehrsknotenpunkt zählte nichts, angesichts des starken einwands, man habe keine echte zustimmung zur neuen bundesverfassung im kanton hingekriegt und nun könne man den vorort des alten sonderbundes nicht zur hauptstadt werden.

obsiegt hat in der abstimmung von 1848 bern mit 58 stimmen im nationalrat und 21 im ständerat. ausschlaggebend waren die liberale mehrheit im kanton, die brückenfunktion des standes zur romandie und die logistischen vorteile, die bern bot: die neuen bundesbehörden sollten gratis tagungs- und arbeitsorte zur verfügung gestellt erhalten! so mobilisierte bern die stimmen der romandie, aber auch der ostschweiz und die eigenen, was ausreichte.

doch der coup hatte folgen: bern wurde nun nicht zur hauptstadt erhoben, sondern nur zur bundesstaat. zürichs stadtpräsident jonas furrer wurde dafür erster bundespräsident, und die stadt sollte auch die eidgenössische hochschule, die heute eth erhalten. luzern versprach man andere bundesanstalten als trostpflaster zu erhalten.


vorschlag 2: unser sog. uno-zentrum genf soll neue hauptstadt der schweiz werden (foto: stadtwanderer, anclickbar)

von heimlichen hauptstädten

vor allem in zürich blieb es danach jedoch sehr beliebt, das thema “hauptstadt” mit einem seitenzwinkern abzutun: wer auch immer sitz der neuen bundesbehörden sei, zürich bleibe aufgrund seiner stärke die heimliche hauptstadt der schweiz!

das haben die promotoren der fingierten entscheidung von heute wohl ganz vergessen. denn sie rufen heute dazu auf, nicht parlamentarier zu mobilisieren, sondern das eigene handy zu zücken und per sms der schweiz eine neue hauptstadt zu verpassen! man kann sogar, fast ein wenig bei bei der glückskette, instant nachschlagen, wer grad führt.


vorschlag 3: zürich, unsere sog. wirtschaftsmetropole zürich soll neue hauptstadt der schweiz werden (foto: stadtwanderer: anclickbar)

berns stadtmarketing wäre gefordert

doch spass bei seite: denn in einem punkt trifft die aktion einen klammheimlichen politkulturellen wandel: 1848 schrieb man in die bundesverfassung, dass der standort der bundesbehörden vom der bundesversammlung bestimmt werde. das war auch 1874 so, als man die verfassung total revidierte. die heute geltende bundesverfassung von 1999 regelt indessen die bundesstadtfrage gar nicht mehr. festgelegt ist nur noch der amtssitz von bundesrat und bundeskanzlei. und dass das parlament wieder zum nomadisierenden versammlungsort werden kann, hat die entwicklung seit 1992 gezeigt, gastierten doch national- und ständerat seit der ewr-abstimmung mit ihren tiefen gräben zwischen den landesteilen als versöhnungsaktion reihum in genève, lugano und flims. und selbst die bundesverwaltung ist in jüngster zeit dezentralisiert, das heisst teilweise von bern ausgelagert worden.

eigentlich wäre das stadtmarketing der stadt bern bis aufs letzte zu wiedersetzen, wollte sie die schleichende abwertung der bundesstadt verhindern!

fehlt jetzt nur noch, dass man die dezentralisierten politischen institutionen ganz aushebelt, genf zur internationalen standort des uno-mitglieds schweiz kürt, zürich zur globalen wirtschaftsmetropole stilisiert oder basel zum universitären dreiländereck macht, und das alles noch zur hauptstadt der schweiz erhebt. es hat schlecht begonnen, unser wahljahr 2007!

stadtwanderer

ps:
zur munter sprudelnden debatte über die plakatserie auf in meinem foto-album siehe mein spezialset “sog. wahljahr” samt allen kommentaren

ps2:
nun ist der spuk vorbei! auf der homepage des gags kann man die auflösung des rätsels nachschlagen. da wird auch auf die websites verwiesen, die höflich berichterstattet haben; den stadtwanderer muss man da lange suchen.
nun, die vorläufig umfassendste auswertung der aktion findet sich unter persoenlich.com